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"Mesdames et Monsieurs, bitte lächeln!"

Rund 70.000 kranke Pilger kommen jährlich nach Lourdes -Ein Lokalaugenschein
Von Willy Puchner

Regen schlägt an die Fenster. Das Bild, das von draußen hereindringt. verschwimmt. An der Wand hängt eine große Fotografie von Bernadette Soubirous, daneben thront die Unbefleckte Empfängnis. Es ist elf Uhr vormittags.

Auf den langen Tischen des Speisesaales stehen kleine Schilder: Dublin, Nantes, Italia, Holland, Diabetes. Eine schwarzgekleidete Frau humpelt zu ihrem Platz, in der Hand hält sie eine rote Rose. Kranke in Rollstühlen werden hereingeschoben, freiwillige Helfer und Schwestern rücken die Sessel zurecht. "Lasset uns beten", dröhnt es durch ein Megaphon. Ein Vorbeter beginnt, die Wallfahrer antworten in ihrer Sprache. "... Du herzlichste Mutter Gottes, Maria voll der Gnade, erbarme Dich unser."

Soeur Marie-Joseph, die Leiterin der Krankenhäuser "Notre-Dame" und "St. Bernadette", winkt uns zu. Wir gehen einen breiten Gang entlang, es riecht nach Desinfektionsmitteln, Kuchen und Urin. An den Wänden lehnen zusammengeklappte Rollstühle. Krankenhausbetten, Wäschekörbe und große Kannen für heiße Getränke stehen bereit. "Jeder kann sich entsprechend seiner Gewohnheit bedienen", erklärt uns Schwester Marie-Joseph, "die Iren trinken Tee, die Holländer Kaffee".

Eine Tür führt in den vorderen Trakt des Gebäudes. An einem Lesetisch sitzen drei geistliche Schwestern, weiter hinten im Zimmer ein Priester und eine schwarzgekleidete Nonne. Wir sind vor dem Büro der Oberin angekommen.

Rund 70.000 kranke Wallfahrer kommen jährlich nach Lourdes, für durchschnittlich vier Tage. Getrennt von den Angehörigen und den begleitenden großen Pilgergruppen, finden sie Betreuung und Verpflegung in den dafür eingerichteten Krankenhäusern. "Notre-Dame" des Bernadette-Ordens der "Soeurs des Nevers" ist eines der drei Spitäler, die von einem geistlichen Orden geführt werden. Ein Tag kostet hier 14 Euro. Für die Armen bezahlen lokale Wallfahrtsorganisationen oder die Hospitalité de Notre-Dame de Lourdes.

"Wer zum ersten Mal zu uns kommt, hat große Hoffnung auf Heilung", sagt die Oberin und blickt zum Fenster hinaus, "und doch kommen viele immer wieder, denn aus der Gemeinschaft schöpfen sie Kraft und Mut. Inmitten der vielen Kranken und noch Kränkeren entsteht eine andere Sicht auf die eigene Krankheit".

Soeur Marie-Joseph begleitet uns vor das Spital. Noch immer regnet es leicht. Aus einem Autobus werden Pilger in die Empfangshalle getragen, die Müdigkeit der langen Reise zeigt sich in ihren Gesichtern. "Bei der Ankunft wirken sie fast alle nervös und ängstlich, spätestens bei der Abfahrt sind sie aber zuversichtlich und ruhig."

Das Spital "Notre-Dame" liegt eingezäunt in der Anlage des "Heiligen Bezirkes". Von hier aus werden die Kranken zu den Messen, zur Grotte, zu den Bädern und schließlich zur Krankenprozession geführt. Ihre Tage sind bis zum Rand ausgefüllt. Nur wenn der allabendliche Lichterzug auf dem großen Platz des Heiligen Bezirkes seine Linien zieht, liegen sie schon in ihren Betten, während Zehntausende Menschen mit Zehntausenden Kerzen dem Allerheiligsten folgen. Ein Lichtermeer breitet sich dann aus, die Gesänge der Pilger steigen zum Himmel.

Aber noch ist Mittagszeit. Weit aufragend über dem nun fast menschenleeren Platz erhebt sich die Basilika der Unbefleckten Empfängnis. Der Chorraum wurde genau über der Stelle erbaut, wo die "Mutter Gottes" erschienen sein soll. "Sag den Priestern, dass man in einer Prozession hierher kommen und eine Kapelle erbauen soll", hatte sie am 2. März 1858 der 14-jährigen Bernadette Soubirous aufgetragen. 130 Jahre später scheint diese Weisung übererfüllt: die Basilika ist weder eine Kapelle noch die einzige Kirche geblieben.

Im Laufe der vielen Jahre entstanden zahlreiche Gebetsstätten im Heiligen Bezirk: die Krypta, eine Beichtkapelle, die Unterirdische Basilika Pius X., "Le Refuge", die Rosenkranz-Basilika mit ihren fünfzehn Seitenkapellen und "Sankt Josef". Schließlich wurde vor wenigen Jahren auf der "Grottenwiese" die "neue Kirche" mit 5.000 Plätzen errichtet. "Der Bau ist vollendet, aber noch nicht bezahlt", informiert ein Handzettel die Pilger. "Alle Spenden, auch die kleinsten, werden mit Dank angenommen."

Die Wallfahrer geben aber nicht nur für die "neue Kirche", sie lassen Messen lesen, kaufen Bücher und Broschüren, verbrennen Kerzen in den verschiedensten Größen und werfen Münzen in den Opferstock.

Am anderen Ende des Platzes blickt eine überlebensgroße Statue der "Gekrönten Madonna" auf die Basilika. Sie ist eingezäunt durch ein Gitter, an dem viele Sträuße stecken; mit Blumen verspricht man der Jungfrau nach Lourdes zurückzukehren. Vor der "Gekrönten Madonna" posiert eine Pilgergruppe aus Straßburg. Die Inszenierung ist immer die gleiche, ob für eine große oder kleine Gruppe: vorne die Krankenbahren, dann die Rollstühle; die erste Reihe sitzt, die zweite steht am Boden, die dritte auf der Bank. Alles starrt ins Bild hinein, das sich verkehrt auf der Mattscheibe einer Holzkamera widerspiegelt. Der Fotograf hebt die Hand. "Attention! Mesdames et Monsieurs. Ich zähle bis drei. Eins, zwei, drei! Bitte lächeln."

Lourdes ist zur bleibenden Erinnerung geworden. Der Platz ist links und rechts von großen Bäumen gesäumt, dahinter liegen die maulwurfgrauen Pavillons des Heiligen Bezirkes: Das "Medizinische Büro" erweckt Hoffnung mit einer ständigen Ausstellung von Krankenberichten und Fotografien der "als wunderbar anerkannten Lourdes-Heilungen". Die Liste der vom medizinischen Standpunkt aus unheilbaren Erkrankungen reicht von Erblindung, Lähmung, Tuberkulose bis zu Krebs und Multipler Sklerose. Auch die Geschichte der Wienerin Edeltraud Fulda wird dokumentiert: Geplagt von "andauerndem Erbrechen, hochgradiger Schwäche, Durchfall, Blutarmut", allen Symptomen der Addi-son'schen Krankheit, kam sie 1950 nach Lourdes. Zwei Tage nach dem Bad in der Grotte war sie "völlig gesund und ohne Krankheitssymptome". 1955 wurde ihre anhaltende Heilung unter dem Vorsitz von Kardinal Innitzer zum Wunder erklärt.

Das Büro für die "Pilger für einen Tag" hält ein unentgeltliches rosarotes Informationsblatt bereit. "Über das Wichtigste in Lourdes", klärt uns Barbara auf, eine Theologiestudentin aus Graz, die für drei Wochen hier arbeitet. "Das Allerwichtigste ist der Heilige Bezirk, ein Ort des Gebetes, der Stille und Besinnung. Das sollten auch die Touristen anerkennen."

Dann empfiehlt sie uns die 15-minütige Ton-Dia-Schau: Langsam verdunkelt sich der Raum. Zwischen Bergen und dem Fluss Gave mit der Felsgrotte Masabielle erscheint der Wallfahrtsort im 19. Jahrhundert. Gemalte und fotografierte Landschaften der Umgebung von Lourdes erinnern an Bernadette, die "erste fotografierte Heilige". Ihr Geburtsort, die Mühle Boly, ist zu sehen, das Taufbecken, das ehemalige Gefängnis Cachot, in dem die Familie Soubirous lebte, der Schafstall im vier Kilometer entfernten Barträs, wo die 14-jährige Bernadette kurz vor ihren Erscheinungen als Schäferin gearbeitet hatte.

Das Leben der 1933 Heiliggesprochenen wird geschildert und gehuldigt, ihre Duldung und Askese gerät zum Lobgesang auf Armut und Gehorsam. "Das Schwache in der Welt, das, was nichts hat, hat Gott erwählt!" Bernadette, das an Tuberkulose erkrankte Mädchen, zog sich bald nach den Erscheinungen und trotz des Aufsehens um ihre Person in das Kloster Nevers zurück. Journalisten von damals versprachen ihr ein Vermögen, wenn sie nach Paris kommen würde, aber Bernadette sagte: "Ich bleibe lieber arm." Die Worte Christi werden zur Botschaft von Lourdes: "Selig sind die Armen!", und Bernadette schreibt dazu in ihren Aufzeichnungen: "sie sind die Freunde Gottes". Bis zu ihrem Tod im Alter von 34 Jahren erleidet sie qualvolle Schmerzen durch ihre Krankheit, aber "trotzdem war sie glücklich", verkünden die Lautsprecher.

Wir sind hungrig geworden. Barbara wünscht uns noch einen schönen Aufenthalt und gesegnete Mahlzeit. Die Tagesmenüs in den Restaurants sind preiswert, kommen doch die meisten der jährlich sechs Millionen Besucher aus ärmeren Verhältnissen.

"Wir sind das erste Mal hier", sagt ein alter Herr, der mit seiner Frau an unserem Tisch Platz genommen hat, "die Reise ist ein Weihnachtsgeschenk unserer Kinder." Sie erzählen von ihrem kleinen Dorf in der Nähe von München, dem Bauernhof, den nun der Sohn übernommen hat, und dem alten Pfarrer, dann von den Prozessionen und ihren Verwandten. Und von den Andenken, die sie ihnen mitbringen werden. Madonnen und Kanister aus Plastik, alle vollgefüllt mit Lourdeswasser, einen Rosenkranz für den Pfarrer, ein Medaillon für die Nachbarin, Kerzen für die verstorbenen Eltern und Pfefferminzbonbons für die Kinder.

Der Handel mit dem Glauben blüht. Eine junge Verkäuferin in einem der 450 Andenkenläden, Nicolet, die wir am Vortag im Restaurant kennen lernten, erzählt uns vom Geschäft mit der Jungfrau Maria und der Heiligen Bernadette. Sie weiß, was sie von ihren Kunden erwarten kann: "Holzschnitte oder Elfenbeinmadonnen locken nur die reicheren Besucher; was glitzert und leuchtet, wird gerne in den Süden mitgenommen. Wichtig ist die Mutter Gottes, die muss überall zu sehen sein: auf den Aschenbechern, Flaschenöffnern, Schlüsselanhängern, auf Feuerzeugen und Weihwasserkesseln."

Am Aussehen erkennt Nicolet die durchströmenden Nationen: "Italienische Frauen gehen mit farbig verzierten Sandalen. Die Österreicherinnen haben einen Haarknödel hinten am Kopf, gekleidet sind sie meist dunkelgrün oder dunkelrot - und an irgendeiner Stelle sind sie mit einem Blümchen geschmückt. Die Engländer und Iren tragen Brillen und rauchen auf der Straße. Die Deutschen sind hell gekleidet und tragen oft beige Schuhe, die Holländer und Belgier hingegen graue oder zartblaue, außerdem haben sie immer einen Regenmantel bei sich."

Zwei Frauen kommen ins Restaurant. Bekleidet sind sie mit einem dunklen Mantel und schwarzen Schuhen, eine von ihnen trägt eine Brille. Nirgends ein Blümchen, auch kein Haarknödel. Wir lachen uns an: ihre Nationalität scheint offenkundig. "That's very typical", hätte Nicolet gesagt. Doch die Frauen sind Deutsche. Sie nehmen am Nebentisch Platz und schreiben viele bunte Ansichtskarten nach Hause: Bernadette inmitten von Schafen, kniend, betend. Die Unbefleckte Empfängnis auf dem dunklen Blau des Himmels, umrahmt von strahlenden Wolken. Im Lichterglanz erscheint sie mit hellen Haaren, Glorienschein und weißem Kleid.

Es ist Zeit zu gehen. Noch immer ist der Himmel grau verhangen. Die Masse ist wieder in Bewegung geraten, mit Schirmen oder in Regenmänteln steuern sie auf ein bestimmtes Ziel zu: die Krankenprozession. Also vorbei an den Andenkenläden, vorbei an den Pavillons "Pax Christi", "Legio Mariae", dem Pavillon der "Berufung", zurück in den Heiligen Bezirk. Durch die Straßen werden nun Karawanen von Rollstühlen geführt, für die ein eigener Weg markiert ist. Aus verschiedenen Richtungen strömen Menschen zur Grotte. Frühe Teilnehmer der Krankenprozession, die letzten Badenden, die von den "Heiligen Waschungen" kommen. Jeden Tag werden hier Hunderte Menschen in vierzehn Steinwannen untergetaucht. "Das eigentliche Wunder von Lourdes ist", hatte uns Nicolet erklärt, "dass so wenige in den Bädern krank bzw. noch kränker werden. Das Wasser in den Piscines wird nur zweimal in 24 Stunden gewechselt".

Ab halb fünf versammeln sich Tausende zur Krankenprozession. Der Prozession voran schreiten die hohen Geistlichen, unter dem Baldachin tragen sie das Allerheiligste, dahinter folgen die Fahnen- und Kreuzträger und Pilger mit hochgehaltenen Schildern, die Ordensschwestern, die vielen Kranken. "Herr, wenn Du willst, kannst Du mich heilen. Herr, sprich nur ein Wort, und ich werde gesund." Es wird gebetet, gesungen, um Hilfe gefleht. "Maria, wir sind krank, bitte für uns, Maria zeige Dich als unsere Mutter."

Die Bilder dieser Andacht verlassen uns viele Tage nicht: Eine Mutter hält den Kopf ihres mongoloiden Kindes; das aschfahle, tränennasse Gesicht eines jungen Mannes; und in den Augen der Kranken spiegelt sich jener in Lourdes vielzitierte Satz, den die Erscheinung Bernadette verkündet hatte: "Ich verspreche Dir nicht, Dich in dieser Welt glücklich zu machen, aber in jener anderen!"

Nach der Krankenprozession füllen sich wieder die Speisesäle der Spitäler und Restaurants. Alles wartet auf den Abend, auf die Lichterprozession. Der Umsatz der Andenkenhändler erreicht nun seinen Höhepunkt. Unmengen von Kerzen werden gekauft. Als würden Millionen Glühwürmchen langsam über den dunklen Asphalt fliegen, bewegt sich die Masse wieder in den Heiligen Bezirk, zuerst schweigend, dann betend und singend: "Halleluja! Halleluja!"

Das Foto aus dem Jahr 1987 entstammt der Sammlung an Privatfotos des Autors.

Freitag, 06. Juni 2003

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