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Eine besondere Art zu gehen

Prozessionen, Wallfahrten und der Habitus der Langsamkeit
Von Adolf Holl

Im erzbischöflichen Priesterseminar in der Wiener Boltzmanngasse, wo ich ums Jahr 1950 herum Alumne war, ist mir eine Menge an theoretischem Wissen eingebläut worden. Zum Beispiel, dass es die Heilige Dreifaltigkeit gibt. Oder dass Gott Mensch geworden ist. Daneben aber stand noch ganz anderes am Unterrichtsprogramm: Mein Körper lernte Langsamkeit, eine spezielle Art zu gehen, eine spezielle Art, die Arme zu heben.

Heute ist das Priesterseminar Boltzmanngasse geschlossen. Kardinal Schönborn hat es kürzlich aufgelassen, zugesperrt, sicherlich nicht leichten Herzens. Es blieb ihm keine Wahl. In dem riesigen Haus haben zuletzt nur noch sieben Seminaristen gewohnt. Wir dagegen sind damals volle 90 gewesen, kein Häufchen, sondern ein Haufen. Wenn 50, 60 oder gar alle 90 jungen Kleriker, noch dazu alle einheitlich im schwarzen Talar, von der Boltzmanngasse die Währinger Straße abwärts Richtung Stephanskirche zum Pontifikalamt wanderten, waren sie automatisch ein Blickfang. Sie konnten unmöglich übersehen werden.

In der Sakristei der Stephanskirche angekommen, fanden wir uns sogleich als Teilnehmer an einem präzise eingespielten, sich allmählich entwickelnden Zeremoniell. Wir haben uns sorgfaltig das weiße Hemd übergezogen. Auch der Herr Kardinal - das war zu jenen Tagen der schon recht alte Theodor Innitzer - hat sich angezogen. Genauer gesagt, er ist angekleidet worden, schön langsam, Stück um Stück mit allem, was halt zu einem feierlichen Pontifikalamt gehört. Zuletzt hat er die Mitra aufgesetzt bekommen. Nicht irgendeine Mitra natürlich. An hohen Festtagen musste eine besonders schöne her, besetzt mit Edelsteinen und gut 200 oder 300 Jahre alt. Sie stammte aus der Barockzeit. Adelige Fräulein oder Klosterschwestern hatten sie in wunderschönen Farben gestickt, genau passend zum jeweiligen Messgewand. Dazu kam der Stecken, Pardon: der Bischofsstab.

Voran die Kreuzträger . . .

Diese Vorbereitungen dauerten, wie schon angedeutet, ziemlich lange. Endlich ging es los. Der Zeremoniär hat zum x-ten Mal auf die Uhr geschaut und "procedamus" gesagt, was sich mit "jetzt gemma" übersetzen lässt. Der Zug formierte sich. Voran der Kreuzträger, dann die kleinen Ministranten in ihren roten Kitteln, dann die größeren Ministranten, dann die niederen Kleriker (das waren wir), dann die Domherren im Schmuck ihrer violetten Schultercapes. Den Schlusspunkt, den Höhepunkt bildete selbstverständlich der Kardinal-Erzbischof. Und so zogen wir bedächtigen Schrittes in den Dom ein. Dort waren die Leute bereits aufgestanden. Die Orgel brauste, während der Kardinal Kreuze in die Luft zeichnete und den Segen spendete. Dabei sanken die Gläubigen in die Knie, die jungen Männer, die Greise, die Frauen.

Solche Prozessionen, ich muss es gestehen, wirken immer noch in meine Träume hinein, obwohl sie inzwischen ein halbes Jahrhundert zurückliegen. Nicht jede Nacht, doch ab und zu soll ich an einer Pontifikalamt-Prozession teilnehmen und komme fatalerweise zu spät - offenbar will mich mein Unterbewusstsein daran erinnern, dass irgendwas nicht ganz stimmt in meinem Verhältnis zur katholischen Obrigkeit. Zum Glück erweisen sich die Kollegen als durchaus nett. Hol dir einen Talar, sagen sie, kannst schon mitgehen, gehörst ja zu uns.

Wie gesagt, mein Körper hat Langsamkeit gelernt. Diese besondere Art des Gehens wird einzig und allein in der Kirche gepflegt. Politische Demonstrationen, mögen sie noch so gemütlich verlaufen, sind etwas gänzlich anderes. Selbst der Einzug der Sportler ins Olympiastadion reicht nicht im Entferntesten an die Subtilität einer Prozession heran, an deren langsamen Aufbau von den Kindern über die Jugendlichen bis zu den Würdenträgern. Unter keinen Umständen darf Nervosität verbreitet werden. Elias Canetti, der Autor des grandiosen Buches "Masse und Macht", hat genau erkannt, wie gefährlich es sein kann, die Masse zu irritieren, zu reizen. Militante Aufmärsche, ausschwärmende Polizisten, ungeordnete Menschenzusammenrottungen erzeugen heftige Gefühle - man denke an den Schrei "Heil Hitler!" aus tausenden Kehlen, an das Trommeln der SA-Stiefel auf dem Asphalt. Prozessionen dagegen beruhigen, erziehen zur Friedfertigkeit.

Als Priester hat man nervöse Bewegungen jeglicher Art strikt zu vermeiden. Bei der Zelebration der Messe ist Gemessenheit angesagt. Wenn der Priester die Hände hebt, muss er es gemessen tun; wenn er den Kopf neigt, muss er ihn sehr langsam neigen; wenn er niederkniet, muss er langsam niederknien und langsam wieder aufstehen. Das habe ich bis heute in meinem Blutkreislauf. Manchmal schaue ich mir den ganz normalen Straßenverkehr an und habe den Eindruck, eine Massenflucht zu erleben. Wovor flüchten denn alle diese Menschen in ihren Autos, frage ich mich. Sind ihnen mächtige Feinde auf den Fersen?

Vermutlich werde ich mich bis an mein Lebensende an die intensiven Glücksgefühle jener Jahre erinnern, in denen ich das Priesteramt ausgeübt und an wichtigen Feiertagen das Hochamt zelebriert habe. Sie sind mit all dem, was mir heute zu erleben vergönnt ist, nicht vergleichbar. Zu Weihnachten und Ostern war die Kirche gerammelt voll. Der Kirchenchor stimmte ein feierliches Lied an. Dem Priester, also mir, oblag es, ein paar Weihrauchkörner auf die Holzkohle im Weihrauchfässchen zu streuen, worauf es zu dampfen begann. Die Kette musste ich in die linke Hand nehmen, das Fässchen selbst in die rechte Hand und im sanften Takt hin und her schwingen. So bin ich anschließend den Altar entlanggegangen - nicht herum, denn der Altar ist damals nicht frei gestanden - und habe darum gebetet, der Weihrauch möge zu Gott emporsteigen und von oben als Gnade zu uns zurückkehren. Überdies war da eine schöne lateinische Psalmstelle, die da lautete: "Ich werde deinen Altar umschreiten . . ."

Inzwischen ist es tatsächlich möglich geworden, den Altar zu umschreiten, da er frei steht. Aber wie soll man ihn umschreiten? Links herum? Rechts herum? Das ist eine delikate Frage. Gegen den Uhrzeigersinn, dies habe ich irgendwann und irgendwo gelernt, ist die Todesrichtung, mit dem Uhrzeigersinn daher die Lebensrichtung. Verbürgen allerdings möchte ich mich nicht dafür. Ich habe auch schon das Gegenteil gehört. Die Sachen, über die ich hier rede, widersetzen sich unserem präzisen Wissen. Sie kommen, wie mehrfach erwähnt, aus uralten Zeiten, in denen es keine Schrift gab. Ihre Logik lässt sich schwer bis gar nicht ergründen. Niemand weiß, warum wir gewisse Bräuche pflegen, etwa zu Allerseelen am Grab ein Licht anzünden, vor Götterbildern niederknien. Nicht einmal das Gebot der kirchendienstlichen Langsamkeit kann adäquat interpretiert werden. Klar ist lediglich, dass es im schroffsten Gegensatz zur gesamten modernen Zivilisation steht, die nie Zeit hat, stets auf die Uhr schaut, immer hastet.

Die Langsamkeit in meinem Blutkreislauf ist, wie könnte es anders sein, das Resultat langer Übung. Ohne ausgiebige Gewöhnung geht das nicht. Sowas eignet man sich nicht in einem der heute üblichen Schnupperseminare an, in einem zweitägigen Kurs zum Thema Zen-Buddhismus, Yoga oder meinetwegen Meditation. Dazu braucht man Jahre. Immerhin, die Sache klappt. Man denke nur an die Bauernbuben im Mittelalter, die von ihren Eltern ins Kloster gegeben wurden, damit daheim ein hungriger Mund weniger ist. Das waren gewiss grobe Gesellen. Doch auch sie lernten nach und nach, sich gerade zu halten, sich im Habit zurechtzufinden, die Hände ständig unter dem Mönchsgewand zu verstecken und vor allem ordentlich zu gehen. Ein Mönch läuft nicht. Falls er läuft, verstößt er gegen seine Rolle. Denn im Habitus der Langsamkeit äußert sich das Göttliche. Eilige Götter sind weitgehend unbekannt. Es ist ja kein Zufall, dass der christliche Gottvater vorzugsweise auf seinem himmlischen Thron abgebildet wird. Er fuchtelt nicht herum, springt nicht auf; schneidet keine Grimassen. Er waltet. Auch der Sohn ihm zur Seite verkörpert das Prinzip unerschütterlicher Ruhe. Nicht einmal die Taube über den beiden flattert aufgeregt in der Luft. Sie verharrt schwebend.

Gewiss, während seines Erdendaseins dürfte Jesus von Nazareth recht nervös gewesen sein. Die Evangelien berichten, dass er "alsbald", "sofort" "demnächst" aktiv geworden ist. Aber der irdische Christus hat es eben wirklich eilig gehabt. Bekanntlich ist ihm extrem wenig Zeit zur Verfügung gestanden. Wie lang könnte sein entscheidendes Wirken gedauert haben? Vielleicht ein halbes Jahr, vielleicht ein Jahr, kaum mehr. Schon war es aus. Für die Priesterdienstlichkeit konnte er kein Vorbild liefern, wollte vermutlich auch keines liefern. Dass er den Tempel nicht gerade liebte, ist ohnehin zur Genüge bekannt.

Immerhin hat Jesus als frommer Jude die Wallfahrt nach Jerusalem gemacht, und damit bin ich abermals bei sehr alten Bewegungsabläufen, denn Wallfahrer und Wallfahrerinnen gehen eben nicht spazieren, wenn sie sich nach Mekka oder Benares begeben, oder nach Mariazell bei uns in Österreich. Sie suchen einen Ort, an dem der Himmel die Erde berührt, und ihr Körper, ihr gesamter Körper spielt dabei mit.

Das Wallfahren ist vorchristlichen Ursprungs. Natürlich will ich damit nicht sagen, dass es Mariazell schon 500 Jahre vor Christi Geburt gegeben hat. Faktum jedoch ist, dass die meisten Wallfahrtsorte mit einer vom Himmel gefallenen Statue begonnen haben. Diese Vorstellung war bereits im alten Griechenland verbreitet, auch im Nahen Osten lang vor unserer Zeitrechnung. Der Inhalt der Legende ist nahezu immer der gleiche: Ein Hirte schläft zur Mittagsstunde unter einem Dornbusch oder einem Baum. Beim Aufwachen hebt er seine Augen und bemerkt droben im Geäst ein hölzernes Bild, das vorher nicht da war. Es mag sich um die Diana, die Isis, die Demeter, die Kybele oder die Jungfrau Maria handeln, um irgendeine Magna Mater halt, irgendeine große Mutter, eine Groß-Mutter aus den letzten 5.000 Jahren Mittelmeerkultur. Verwundert holt der Hirt das Bild herunter und trägt es zum Priester. Am Ende wird daraus ein riesiges Heiligtum, errichtet an der Fundstelle.

Wallfahren bedeutet somit, dass man zu einem wundertätigen Bildnis geht, das ja lebt, das Gnade spendet. Es handelt sich, wie erwähnt, um keine Erfindung des Christentums, das alles ist viel älter. Beispielsweise habe ich gelesen, dass der griechische Heilkunde-Gott Asklepios gleich an 500 Wallfahrtsorten rund ums Mittelmeer verehrt wurde. Anders gesagt: Der Asklepios hat 500 Heiligtümer besessen, also eine rasante Karriere gemacht. Vermutlich war er ursprünglich ein guter Arzt und wurde später vergottet, vergöttlicht. Die Leute dürften in erster Linie aus praktischen Erwägungen zu ihm gepilgert sein. Es ging ihnen wohl nicht um den Sinn des Lebens, eher wollten sie ihren Kropf oder ihren eitrigen Blinddarm loswerden.

Füße statt Flugzeuge

Ähnlicher Popularität wie Asklepios erfreute sich auch Diana von Ephesos, die große Diana mit ihren 100 Brüsten oder 100 abgeschnittenen Stierhoden, wie es manchmal hieß. Sie genoss eine geradezu unglaubliche Verehrung, sogar eine dreifache. Im Lauf der Zeit nämlich spaltete sich ihre Persönlichkeit in drei unterschiedliche Schicksalsgöttinnen. Erstens in die junge Frau, die Kore, das Kornmädchen. Zweitens in die reife Frau, die Mutter. Drittens schließlich in die alte Frau, die Matrone, die ihr Gesicht unter einem Schleier verbarg, wie das die muslimischen Frauen noch heute tun.

Gemeinsam ist den Wallfahrern aller Nationen und aller Religionen die Notwendigkeit des Gehens. Zunächst muss man ja hinkommen, wo man hin will, sei es nach Santiago de Compostela in Spanien, nach Jerusalem in Israel, nach Borobudur auf Java. Zugegeben, heute entschärft sich das Problem. Es ist nicht verboten, einen Flieger zu nehmen. Doch in früheren Zeiten, als weder Flugzeuge noch Eisenbahnen existierten, blieben zur Fortbewegung nur die eigenen Füße. Es gab denn auch spezielle Pilgerstraßen, tausende Kilometer lang, die über hohe Pässe führten, durch Wälder und endlose Flusstäler an Seen vorbei. Oft war der Wallfahrer ein, zwei Jahre unterwegs. Wenn er Glück hatte, erwischte er einmal am Tag einen Ochsenkarren, der ihn ein paar Kilometer mitnahm. Ansonsten hieß es gehen, gehen, gehen bis zum Umfallen, gedanklich stets ausgerichtet auf das Ziel, das inbrünstig vor dem inneren Auge stand.

Jeder Mensch kann gehen. Dennoch kann sich kaum jemand einigermaßen treffend in eine mittelalterliche Wallfahrt hineindenken. Vielleicht kann ein sehr guter Schriftsteller beschreiben, was Wallfahrer damals durchmachten, wie die Füße schmerzten, wie die Müdigkeit in alle Glieder stieg, wie sich der Körper nach Ruhe und einem Schluck Wasser sehnte. Aber wer solches nie erlebt hat, wer nie eine anstrengende Wallfahrt gemacht hat, kann unmöglich mitreden. Er versteht einfach nichts davon.

Nebenstehender Text ist ein Auszug aus dem neuen Buch von Adolf Holl, "Weihrauch und Schwefel" (Bibliothek der Unruhe und des Bewahrens, Band 4, Verlag Styria, 2003, 102 Seiten), in dem der ehemalige Kaplan und nunmehrige Schriftsteller persönliche Erfahrungen religiösen Erlebens bilanziert. Er stellt dabei sinnliche Eindrücke, vom spezifischen Geruch in Gotteshäusern über Orgel- und Kirchenklänge bis zum Vergleich von Heiligenscheinen auf Bildnissen, in den Mittelpunkt der Betrachtungen.

Kürzlich wurde Adolf Holl mit dem Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet.

Freitag, 06. Juni 2003

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