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Blutige Wadeln für die Madonna

Die "Vattienti" im kalabresischen Bergdorf Nocera Terinese
Von Monika Stuhl

Nocera Terinese ist ein kleines verlassenes Dorf in den Bergen Kalabriens. Um dorthin zu gelangen, fährt man eine kurvenreiche Straße hoch, die von jahrhundertalten gewundenen Olivenbäumen gesäumt ist. Normalerweise sind hier nur wenige Autos unterwegs, denn die meisten Bewohner des Dorfes sind entweder in die mit Neubauten übersäte Ebene gezogen oder nach Norditalien oder ins Ausland emigriert. Doch an jedem Karsamstag schwillt der Ort an, die Polizisten stellen Fahrverbotsschilder auf, und eine lange Schlange bei der Dorfeinfahrt geparkter Autos verweist auf einen ungewöhnlichen Zustrom.

Tack tack: Blut und Wein

Noch ist es früh, die kühle Morgenluft streicht durch die stillen, ordentlich gefegten Gassen. Vor einem schmiedeeisernen Kreuz steht eine Schale mit dem traditionellen "grano", im Dunkeln gekeimter Weizen, der nun kräftig gelb leuchtet und mit roten Bändern geschmückt ist. Daneben breitet sich langsam eine Pfütze frischen Bluts aus. Da bemerkt man auf einmal kreisrunde rote Flecken auf den weißgekalkten Hausmauern. Und dann ist das Klatschen von nackten Füßen auf Asphalt zu hören.

Ein Mann kommt gelaufen, barfuß, ganz in Schwarz gekleidet, er trägt eine kurze Hose, so dass seine Beine nackt sind. Auf dem Kopf aber trägt er ein schwarzes Tuch und einen grünen Kranz. Er hält die Hände überkreuzt, als trüge er Fesseln. Hinter ihm läuft ein Junge, auch er nackt, bis auf ein rotes Tuch, das um seine Hüften gewunden ist. Er trägt eine Krone aus grünen Blättern auf dem Kopf, auf seiner weißen Kinderbrust prangen zwei rote Flecken, gleich denen auf der Hauswand. Er hält eine Schnur in der Hand, deren anderes Ende um den Bauch des Mannes gewickelt ist. So mit ihm verbunden, eilt er mit kleinen Schritten daher, in der anderen Hand trägt er ein großes, mit rotem und weißem Stoff bezogenes Kreuz.

Den beiden Läufern hinterher hastet ein Mann mit einem weißen Plastikkanister, in dem eine dunkle Flüssigkeit gluckert. Er ist zivil gekleidet und hat Schuhe an, dennoch muss er sich anstrengen, mit den beiden mitzuhalten. Jetzt kommt ein Fotograf, in der Hand einen Apparat, ein zweiter baumelt ihm um den Hals. Der Schwarzgekleidete bremst vor dem Kreuz. In jeder Hand hält er eine Scheibe aus Kork. Eine davon streckt er dem Kanisterträger hin, der die Flüssigkeit - Wein, wie man riechen kann - darüber gießt. Er schlägt die Scheibe rasch auf die Rückseite seiner bereits geröteten und wunden Oberschenkel und Waden. Tack tack tack tack. Oben, unten, oben, unten. Kurze präzise Schläge. Schnell wechselt er das Gerät: in einem neuen, schnelleren Rhythmus schlägt er mit der zweiten Scheibe gegen die Beine, dabei schaut er sich selbst über die Schulter: Blutstropfen quellen in regelmäßigem Muster hervor. Die Scheibe ist mit Glassplittern gespickt. Sein Atem geht rasch, aber seine Haltung ist kontrolliert. Mit der glatten Scheibe wischt er sich das Blut weg, der Helfer schüttet wieder Wein über die Scheibe und auch über die blutenden Beine. Der rotgeschürzte Junge hat der Tätigkeit zugesehen, sich freundlicherweise so positioniert, dass der Fotograf ungehindert seiner Arbeit nachgehen kann.

Schon läuft das Grüppchen weiter. Die paar Zuschauer, die sich inzwischen eingefunden haben, wirken nicht sehr verwirrt. Schließlich sind sie ja hier, um die "Vattienti" zu sehen: die, die sich schlagen, wie man den Dialektausdruck übersetzen könnte, der vom italienischen Wort "battere", schlagen, stammt.

Dann beginnt die Prozession. Die Blasmusikkapelle spielt Trauermärsche, der Pfarrer ist unrasiert, wie es bei Todesfällen hier üblich ist, die insgesamt 26 in weiße Tücher gehüllten Männer, von denen abwechselnd acht eine schwere

Holzstatue tragen, schauen ernst drein. Jetzt ist die Prozession vor einem Haus zum Stehen gekommen, die Statue, Maria mit dem toten Jesus im Schoß darstellend, auf einem als Altar gedeckten Tisch abgestellt worden. Dort verweilt sie einige Minuten zur Segnung der Gastgeber, während den Trägern ein Glas Wein, hausgemachte Wurst und Brot zur Stärkung gereicht wird.

Da kommt ein "Vattente" gelaufen, die Menschenmenge um die Statue teilt sich, er wirft sich auf die Knie, bekreuzigt sich und schlägt sich auf Waden und Oberschenkel. Er hat der Madonna gegenüber ein Gelübde abgelegt. "Man sagt: Wenn das eintrifft, was ich mir innigst wünsche, dann schlage ich mich. Einmal, ein paar Jahre lang oder für immer", erklärt der für einen Süditaliener erstaunlich blonde Ex-"Vattente" Roberto. Ein "Vattente" konnte um Genesung eines kranken Familienmitglieds bitten, um die Lösung eines Problems in Liebesdingen, um eine berufliche Verbesserung - was auch immer sein Wunsch gewesen sein mag, es bleibt ein Geheimnis, das die Madonna für sich behält.

Heidnischen Ursprungs

Wer für einen "Vattente" noch zu jung ist, kann als "Ecce Homo" am Fest teilnehmen. So nennt die Bevölkerung den diese begleitenden Jungen. Der Name bezieht sich auf die Stelle im Johannes-Evangelium, in der beschrieben wird, dass Pontius Pilatus den in purpurnes Tuch gehüllten Jesus mit einem Dornenkranz auf dem Kopf geißeln lässt. Mit den Worten "Ecce Homo" ("Seht, da ist der Mensch") liefert er ihn der Kreuzigung aus. Dieser biblische Bezug ist aber das einzig Religiöse an diesem sonderbaren Brauch. Er entstammt heidnischer Tradition, selbst Anthropologen können seinen Ursprung nicht genau bestimmen.

Immer wenn ein "Vattente" die Prozession stört, ist der Pfarrer gerade in ein Gespräch vertieft und tut so, als würde er den sich schlagenden Mann weder hören noch sehen. Auf Fotos aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts sieht man Männer mit verhülltem Gesicht. In den 50er Jahren ging die Kirche in ihrem Versuch, den Ritus zu stoppen, so weit, die "Vattienti" prophylaktisch einsperren zu lassen. Angeblich bluteten die Männer damals sogar im Gefängnis von allein, ohne Hilfsmittel. Daraufhin lief einige Jahre zu Ostern in Nocera alles wieder seinen gewohnten Lauf, bis in den 70er Jahren ein Bündnis aus Politik und Kirche es fast geschafft hätte, durch Überzeugungsarbeit den als barbarisch angesehenen Brauch zum Verschwinden zu bringen. Doch dann waren es ausgerechnet die Emigranten von Nocera, die ihn wiederbelebten. Zu Ostern kehrten sie in ihren Heimatort zurück, liefen schweigend, den Weg der Prozession nachvollziehend, die Gässchen auf und

ab, regten mit der glatten Korkscheibe, der "Rose", die Blutzirkulation an und brachten mit der zweiten Scheibe, der "Distel", in der 13 Glassplitter stecken, das

Blut zum Fließen. Dadurch festigten sie ihre Position innerhalb der Dorfgemeinschaft, und die jungen, im Dorf verbliebenen Männer folgten ihrem Beispiel. In den letzten Jahren sind am Karsamstag wieder um die 80 "Vattienti" unterwegs.

Eine alte Frau hat sich ihren traditionellen langen Rock angezogen und eine rote Schürze darüber

gebunden. Sie hat Wein aus einem Fass in eine Coca-Cola-Flasche

gefüllt und gießt ihn nun stolz

über die blutenden Beine eines "Vattente", der sich vor ihrem Haus geschlagen hat. Der Wein verhindert, dass das Blut stockt und verkrustet.

Wer einen "Vattente" in der Familie hat, kann ihn bitten, sich vor seinem Haus zu schlagen und sein blutiges Zeichen zu hinterlassen, um "diesem Haus und seinen Bewohnern Wohlergehen zu wünschen", wie Roberto erklärt. "Vattente" zu sein ist ein Privileg, das sich jeder Mann aus Nocera gestatten darf, ohne jemanden um Erlaubnis bitten zu müssen.

Blutflecken bringen Glück

Die meisten "Vattienti" beginnen ihren etwa eine Stunde dauernden Lauf vor der Hauptkirche, und auf dem abschüssigen Kirchplatz läuft das Blut schon bis vor die Bar, in der die zahlreichen Touristen ungerührt ihre Cornetti essen. Ein junger Mann allerdings sitzt bleich an das Kriegerdenkmal gelehnt. Der scharfe Geruch des Weins übertüncht den Geruch des Blutes, die Hunde liegen faul in der Frühlingssonne.

Aus dem kühlen Morgen ist ein heißer Mittag geworden und die Madonna, umringt von mittlerweile durch den anstrengenden Aufstieg etwas aufgelösten und fröhlich plaudernden Gläubigen, macht ihren letzten Halt bei der Ruine des Klosters über dem Dorf. Hier erreicht die Performance der "Vattienti" ihren Höhepunkt. Die Korkscheiben klatschen auf die Oberschenkel, die Fotoapparate klicken, einige Objektive sind mit Blut bespritzt. Aber das Blut ist zu etwas Abstraktem geworden, niemand denkt an Ansteckungsgefahr, allfälliger Ekel wird schnell überwunden oder gar nicht. Schmerz habe er gar keinen gespürt, erinnert sich Roberto. Er sei entsetzt gewesen, als er später auf dem Video sah, wie heftig er sich geschlagen habe.

Die Madonna tritt ihren Heimweg an, einige Zuschauer verschwinden in den Häusern, aus denen der Geruch des Festtagsessens dringt. Ein paar "Vattienti" mit Gefolge sind immer noch in gemäßigtem Tempo unterwegs. Auch sie werden bald an ihren Ausgangspunkt zurückkehren, die schwarzen Kleider ablegen, die Beine mit Rosmarinabsud waschen und wieder unauffällig werden. Am Nachmittag werden die Frauen das Blut von der Straße waschen; die glückbringenden roten Flecken auf den Hauswänden aber verbleichen erst im Lauf des Jahres. Und am nächsten Karsamstag werden die "Vattienti" aus Nocera wieder bereit sein.

Freitag, 18. April 2003

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