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Einübungen in den Weltverlust

Askese und Warenkultur sind nicht unbedingt Gegensätze
Von Gabriele Sorgo

Die Westeuropäer leben in einer so genannten säkularisierten Gesellschaft. Die Belange des Todes und des ewigen Lebens werden von religiösen oder medizinischen Experten behandelt. "Religion", "Gesundheit", "Soziales" "Wirtschaft" stellen ausdifferenzierte Teilbereiche eines Gesellschaftssystems dar, das sein Hauptaugenmerk mittlerweile auf "Information" legt. Diese Teilbereiche mit Detailkompetenz sollen über Information wieder "vernetzt" werden, um rational zusammenarbeiten zu können. Die fortschreitende Ausdifferenzierung in Teilsysteme führt jedoch zu einem emotionalen Defizit: Wenn die gemeinsamen Rituale im Alltag und in der Lebensführung zusehends abhanden kämen, wie sollte die Gemeinschaft sich dann noch herstellen, wie über sich sprechen, auf welche Themen sich festlegen?

Noch ist es aber nicht so weit. Kommt doch bislang selbst die digitale Vernetzung, die oft als eine Ebene des "reinen Geistes" gepriesen wird, nicht ohne Hardware aus. Sie ist nach wie vor von menschlicher Arbeit und Zusammenarbeit und daher von Koordination, von informeller Kommunikation, von Sympathie oder kulturellen Vorlieben abhängig. Noch prägt zum Beispiel das christliche Erbe die zeitliche Strukturierung des Alltags in Westeuropa. Um- und Neustrukturierungen der Zeit erfolgen dagegen nach rein rechnerischen, ökonomischen Richtlinien. Wenn Religion Privatsache wird, dann auch die Sonn- und Feiertage. Damit ändern sich aber großräumig kollektive Zeitgestaltungsmuster und müssen durch mühsame individuelle Zeitkoordination ersetzt werden. Ebenso koordinieren Institutionen wie Staat, Rechtsprechung, Wirtschaft usw. ihre Symbole und Rituale immer weniger, sie grenzen sich voneinander ab. Dies ist ein logischer Vorgang, der sich aus der gesteigerten Komplexität ihrer Strukturen ergibt. Diese Institutionen erscheinen daher den Einzelnen oft schon als Black Boxes, denen sie aus Gewohnheit oder aufgrund von Gefühlen vertrauen, aber nicht, weil sie wissen, wie sie funktionieren.

Mit der Ausdifferenzierung dieser Teilsysteme aus einem durch Ritual- und Symbolsprache gefestigten übergeordneten Zusammenhang befinden sich die "alten" Institutionen jedoch auf irrationalerem Boden als vorher. Aus der Wahlfreiheit der Individuen ergibt sich die Notwendigkeit, dass die unterschiedlichen Institutionen um ihre Mitglieder werben (anstatt sich auf eine von "Gott" legitimierte, althergebrachte Autorität zu berufen) und sie von sich überzeugen müssen. Dabei "interpenetrieren" sich ihre zum Teil konkurrierenden Logiken und dringen in die so genannte Privatsphäre vor. Einerseits wird das Private dadurch rationalisiert, weil nach logischen Kriterien verschiedenen Institutionen zugeteilt. Andererseits beeinflussen auch die Individuen die Institutionen, unter denen sie zwar wählen, auf die sie jedoch nicht verzichten können. Dieser Einfluss besteht darin, dass die relative Wahlfreiheit einzelner in Summe sowohl auf staatliche als auch auf religiöse und marktwirtschaftlich organisierte Institutionen Druck ausüben und sie dadurch zu einer Performance zwingen kann, die ihrer bisherigen inneren Logik widerspricht. Staat und Kirche müssen zum Beispiel marktwirtschaftlicher und medienwirksamer werden, profitorientierte Unternehmen müssen eine soziale Ader zeigen oder sich mit sakralen Scripts legitimieren.

Privates und Politisches, Intimes und Institutionelles haben sich seit jeher im Individuum überschnitten. Da mit der Entmachtung der Kirchen nunmehr in Westeuropa die Legitimität der bestehenden Teilbereiche des Gesellschaftssystems sich gegenüber einem Horizont möglicher anderer Teilbereiche relativiert, wird die prekäre Lage dieses Individuums umso offensichtlicher. Wie der Märtyrer in der Arena soll es sich ohne Rückgriff auf transzendente Autoritäten dadurch definieren, dass es sein "Fleisch" (seine Lebenszeit und sein Triebpotential) den Institutionen zum Fraß vorwirft. Die das Individuum konstituierende Handlung gleicht einem Opfer. Wahlfreiheit steht dabei, wie schon bei den christlichen Märtyrern, an erster Stelle. Aber dieses abendländische Individuum betreibt gemäßigte Askese, es gibt sich nur teilweise, nur langsam und auch nur zeitlich befristet bestimmten Logiken, bestimmten Lebensstilen und bestimmten Institutionen hin. Wie für den frühchristlichen Asketen dauert dieser "Lauf" in der Arena zeit seines Lebens. Es gibt keine Pause im Existenzkampf. "Wenn der Rennläufer elfmal die Rennbahn durchmisst, aber den letzten Umlauf unterlässt, ist alles verloren; . . ." predigte Johannes Chrysostomos.

Alle Kreativität, die das christlich-abendländische Individuum im Vollzug seines Lebens entwickeln kann, bleibt an die Wettkampfbedingungen seiner existenziellen Arena gebunden.

Die Rationalität der Zwecke

Obwohl Zweckrationalität vorgeblich unseren äußerst komplexen und hochtechnisierten Alltag beherrscht, gibt es in der Praxis doch nur wenig Möglichkeiten für den Einzelnen, sein Leben tatsächlich nach eigenen rationalen Gesichtspunkten zu organisieren. Die Zweckrationalität dient sich selbst oder einem diffusen Gemeinwohl, aber nicht in erster Linie den Individuen, die sich ihr fügen müssen. Freie Entscheidungen werden nur noch in den Nischen des Privaten, des noch nicht Geouteten getroffen. Gerade dort aber wird am seltensten nach rationalen Gesichtspunkten entschieden. Irrationalität ist das letzte Atout des konsumierenden Individuums. Die Rationalität hat ohnehin von außen Zugriff, insofern wir unserer verinstitutionalisierten Umwelt nicht entkommen. Das reicht von der Tyrannei der Uhr über die Verkehrsregeln und die Schulpflicht bis zur Tatsache, dass verschiedene Institutionen sowohl den Selbstmord als auch die Verweigerung zu essen verhindern dürfen.

Die notwendigen rationalen Entscheidungen sind so zwingend, dass wir sie gar nicht mehr selber treffen, sie sind strukturell unumgänglich. Es steht nicht wirklich zur Debatte, ob man bei Rot die viel befahrene Straße überquert. Über die reale Verfassung des Daseins ist, außer über ein paar "systemische Varianten von Kaufentscheidungen", längst entschieden, schreibt Günter Dux. Aus dieser Perspektive scheint es, dass das christliche Erbe mit dem großen, alles umfassenden Heilsplan sich verbraucht hat. Diese strukturell bedingte Askese ist kein Lebensstil mehr, für den man sich entscheiden könnte, sie ist ein unhinterfragbarer Habitus, der sich durch die komplexen Ansprüche der modernen Lebenswelt von selbst herstellt. Sowohl sich in bestimmte Institutionen einzugliedern als auch sich ihres Zugriffs zugunsten ihrer Konkurrenten zu erwehren bedeutet, Entscheidungen treffen und immer wieder Verzicht leisten zu müssen. Erst durch diese ausschließenden Entscheidungen, durch Abgrenzungen und Differenzierungen zeichnet sich Individualität auf dem Feld der Bewährung zwischen Privatem und Institutionellem, zwischen impulsivem und rationalem Vorgehen ab.

Dieser Widerspruch zwischen dem eigenen Wollen und der vorgefundenen Realität ist es, den die Kirche im Verlauf ihrer ersten vier Jahrhunderte rituell begehbar machte: Sie nannte dieses vom Leid geprägte Lebensritual des Individuums imitatio Christi. Die Utopie der Aufhebung dieser schmerzlichen Widersprüchlichkeit in einem erhofften Jenseits gab den christlichen Individuen Anlass zu opfern, um sich als solche zu konstituieren. Unter den ökonomischen Veränderungen der Neuzeit blieb vom spirituellen Jenseits nur ein weltlicher Rest allgemein verbindlich. Dies ist nun ein Jenseits, das sich kurz- oder mittelfristig in der Welt erreichen lässt. Angestrebt wird es in Erlebnissen, Gefühlen, Kicks, kleinen Höhepunkten, wo das Individuum nach kleineren Anstrengungen (meistens einer Geldleistung) aus sich heraus zu "kippen" droht, wo es mit der Hingabe an "größere Ereignisse" liebäugeln kann, ohne jedoch seine Distanz zur Welt ernsthaft in Gefahr zu bringen.

Die von der christlichen Askese gepflegte Distanz zwischen der Natur in Körper und Umwelt und der ihr einwohnenden Geistseele ermöglichte die Heranbildung eines männlich konnotierten Subjekts mit zunehmender Handlungskompetenz. "Weltbeherrschung" und Naturbewältigung resultieren aus dieser Fähigkeit zur Distanzierung, die jedoch speziell in der abendländisch betriebenen Form subjektiv zu einem Weltverlust, zur Weltfremdheit führte. Außerdem ist unsere Lebenswelt mittlerweile von der Notwendigkeit der Anpassung an die technischen Produktionsmittel weit mehr geprägt als der Anpassung an natürliche Gegebenheiten.

Technik setzt wie Askese im Widerspruch von Körper und Geist, von realen Gegebenheiten und den sie überschreitenden Zielsetzungen an und entspringt einer kriegerischen Beziehung zur äußeren Natur und ihren Instanzen im Individuum. Sie ist für das schlichte Überleben und Fortkommen der Menschen auf diesem Planeten notwendig. Die Technik als Mittel zur Überschreitung der dem Menschen von der Natur gesetzten Grenzen stellt wie die Askese einen Vermittlungsversuch zwischen Diesseits und Jenseits dar. Religiöse Askesetechniken sollen zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten vermitteln, damit zählen sie wie Rausch oder Ekstase zu Bewältigungsversuchen des Unbewältigbaren: Das Andere, Tod, Gewalt, Ewigkeit und Jenseits sollen kontaktiert und womöglich mittels Austausch an die menschliche Gemeinschaft angebunden werden.

Die Welt als entseeltes Objekt

Dieses alte Bild von einer Welt als Ganzes, als Doppelwelt der Konkretheit und Abstraktheit, wie sie sich im Menschen überlagert, existiert in den westlichen säkularen Industrienationen nicht mehr. Vor allem im westeuropäischen Verständnis ist die Welt ein entseeltes Objekt, auf das wir mittels der vom Geist entwickelten Techniken einwirken. Die "Natur" in Umwelt und Körper, gegen deren unberechenbare Macht die Menschen antraten, unterliegt somit bereits einer zweifachen Verdrängung, weil der Kampf gegen sie als solcher "vergessen" scheint. "Natur" wird wieder geschützt und gefördert, weil sie in der hochtechnisierten modernen Lebenswelt als Feind erster Instanz nicht mehr direkt erkennbar ist. Die Feindschaft wird eher auf die Technik als zwischengelagerte zweite Instanz projiziert.

Die moderne Konsumgesellschaft hält sich für hedonistisch, weil sie den Körper als Lustquelle befürwortet. Diese Freizügigkeit hat sie jedoch erst entwickelt, nachdem er als fleischliches Konstrukt definiert und damit vollends zum Objekt des rationalen Geistes geworden war. Der Einbruch des Irrationalen droht von dieser Seite nicht mehr, schließlich suchen wir heute bei einer Krankheit das Krankenhaus auf und nicht mehr die Kirche. Die christlichen Asketen fürchteten noch die Macht des Fleisches, den Geist zu beeinträchtigen und außer Kraft zu setzen. Essen und Sexualität stellten die Hauptsorgen der christlichen Tugendlehre dar, weil sie Kommunikation und Zusammengehörigkeitsgefühl auf körperlicher Basis ermöglichten, dabei aber eine durch sinnliche Leidenschaften stets bedrohte Gemeinschaft von nur geringer organisatorischer Komplexität erzeugten. Diesen auf körperlichem Austausch beruhenden Gemeinschaften waren natürliche Grenzen gesetzt, und sie begrenzten ihrerseits die Bildung größerer abstrakterer Gemeinschaften. Durch die Heranbildung des christlichen, nach einem transzendenten Sinn ausgerichteten Individuums, das die eigenen natürlichen und sozialen Körpergrenzen und -öffnungen beherrscht, wurden komplexere Herrschaftsformen ermöglicht.

Die Kirchenväter betrieben eine Allegorisierung des Körpers und seiner Funktionen, um seine Fähigkeiten zu einer vielseitigen sozialen Verknüpfung der abstrakten Ordnung nutzbar zu machen. Seine Symbolwirkung als komplexe und dennoch geordnete Einheit diente bis ins 20. Jahrhundert jeglichen Gemeinschaftsbildungen als Stütze des Zusammenhalts. Ausdrücke des Essens und der Sexualität durften als Metaphern für spirituelle Beziehungen und Vermehrungen herhalten, während die konkret körperlichen Vorgänge mit Einschränkung oder gar mit Verbot belegt wurden.

Frauenkörper galten als "geöffneter", das weibliche Geschlechtsleben als verborgener und unkontrollierbarer als das männliche. Wie der menschliche Körper an sich, so dienten auch Frauen einerseits als Metaphern für spirituelle Hingabe und Fruchtbarkeit, andererseits aber als seelenlose Objekte. Frauen konnten in der christlich-abendländischen Tradition keine Individuen sein, es sei denn über den Umweg der Vermännlichung.

Die Weihe zum wettkampffähigen Individuum war Männern vorbehalten. Dass dieses Individuum unter den gegenwärtigen Anforderungen der Flexibilität bei Arbeit und Konsum gänzlich ohne Heldentum zersplittert, führt dazu, dass die Schicksale von Männern und Frauen beginnen sich ähnlicher zu werden.

Seine gemeinschaftserhaltende Symbolkraft hat der Körper heute verloren. Der Sozialkörper ist formlos und obszön geworden. Essen und Sexualität erscheinen nur mehr nach wissenschaftlichen Disziplinen begreifbar und zugänglich, die vom ganzen, abgeschlossenen Körper abstrahieren. Informationen aus der Chemie, der Physik und der Biologie bestimmen unser Körperbild und leiten unsere Verhaltensweisen. Nicht Moral, sondern Ästhetik, Wissenschaft und Zweckrationalität sorgen für "richtiges" Verhalten. Daher braucht sich das Subjekt nicht mehr einschränken zu wollen, um "rein" zu bleiben. "Reinheit" ist im Package inbegriffen. Die vorgeschaltete Wissensdisziplin, zumeist institutionell verfestigt, schützt automatisch vor Verunreinigung. Allerdings stellen diese Raster der Disziplinen, die in die intimste Innerlichkeit vordringen, die Einheit und die Grenzen der Individuen ebenso in Frage wie einst die Lüste.

Auszug aus einem umfangreichen Text, der unter dem Titel "Von der christlichen Askese zur Warenkultur" Erscheinungsformen der Askese von der Antike bis heute nachzeichnet. Erschienen ist der Text in dem Band: Gabriele Sorgo (Hg.): "Askese und Konsum", Turia & Kant, Wien 2001, der den verschiedenen Zusammenhängen von Konsum und Konsumverzicht nachgeht. Mit Beiträgen, u. a. von Adolf Holl, Mario Erdheim, Martina Kaller-Dietrich, Thomas Macho.

Freitag, 17. Mai 2002

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