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Ekstase, Entrückung, Erinnerung

Der Religionswissenschaftler Adolf Holl über die Zukunft des Glaubens
Von Helga Häupl-Seitz

Wiener Zeitung: Viele Menschen leben heute ohne eingetragenes Glaubensbekenntnis. Trotzdem hat sich der Atheismus nicht durchgesetzt. Warum nicht, glauben Sie?

Adolf Holl: Also, da möchte ich zunächst einmal daran erinnern, dass der Begriff "Atheismus" tief im 19. Jahrhundert verankert ist und dem Lebensgefühl gegenwärtiger Gesellschaften in den wohlhabenden Ländern wie etwa Europa oder den USA nicht mehr entspricht. Das waren andere Zeiten, andere politische Kämpfe, andere politische Auseinandersetzungen. Zur Erinnerung: Um etwa 1920 gab es in Österreich noch mindestens eine Million eingetragene Mitglieder des Freidenkerbundes. Das war die Zeit eines in diesem Fall sozialdemokratisch geführten Kampfes gegen die katholische Kirche. Dazu hat gehört, dass man aus der Kirche austritt, sich beim Begräbnis verbrennen lässt und ein Freidenker ist. Also mit den Begriffen Atheismus und Freidenkertum stecken wir allenfalls in den zwanziger Jahren, vielleicht sogar noch ein bisserl im Nationalsozialismus, in der sogenannten Gottgläubigkeit, aber in der heutigen Spaßgesellschaft, der Gesellschaft der virtuellen Möglichkeiten, im Internet, spielt das keine Rolle mehr.

W. Z.: Aber der Anteil der eingetragenen Konfessionellen wird immer geringer . . .

Holl: Derzeit halten wir in Wien bei 51 Prozent Katholikenanteil. Das heißt, dass innerhalb von 30 Jahren der Anteil um 30 Prozent heruntergegangen ist, und zwar unabhängig davon, welcher Bischof gerade im Amt war, und unabhängig davon, ob es eine Wirtschaftskrise gegeben hat oder nicht. Es ist ein langfristiger Trend, der sich nach meinem Dafürhalten noch fortsetzen wird. Es gibt auch längerfristige Prognosen für Österreich, denen zufolge der Katholikenanteil in diesem Lande, das immer als mehrheitlich katholisch gegolten hat, nicht nur unter die 50-Prozent-Marke, sondern sogar unter die 40-Prozent-Marke, wenn nicht sogar noch tiefer sinken wird. Atheisten sind diese amtlich konfessionslosen Leute kaum, nach den Untersuchungen, die es gibt.

W. Z.: Was sind sie dann?

Holl: Die Frage ist eigentlich nur zu beantworten, wenn wir uns ein Schlagwort zu eigen machen, das sich auch in der Fachwissenschaft eingebürgert hat: den Begriff der Erlebnisgesellschaft. Sie wird getragen von Menschen zwischen 20 und 50 Jahren, man kann noch spekulieren: mit einem AHS-Abschluss, einem abgeschlossenem oder nicht abgeschlossenem Universitätsstudium; beruflich so etwa in der Wirtschaft oder in der Bank angesiedelt. Die Frauen können auch zu Hause bleiben, die Kinder aufziehen und nur nebenbei arbeiten . . . Ganz vage gesagt, würde ich unter dieser Zielgruppe zwei Drittel Frauen vermuten; ich würde die politischen Präferenzen eher in der grünen Option ansiedeln; es gibt natürlich auch genügend Wechselwähler, die aber eher vorsichtig eingestellt sind in Bezug auf Globalisierung und den Turbokapitalismus. Das ist ungefähr das Milieu. Das gibt es natürlich nicht nur in Wien, sondern überall in Österreich, ja in Europa. Hier wird man Aufgeschlossenheit finden gegenüber Angeboten, die mit den Großkirchen konkurrieren. Und diese Angebote sind nun allerdings sehr bunt und sehr fluktuierend, was heißt: Wir haben hier keine lebenslangen Anhänglichkeiten, geschweige denn Zugehörigkeiten mit Mitgliedsbeiträgen und festen Verhaltensmustern, sondern wir haben eine Mentalität, die sich ihre Interessen der Orientierung in einer unübersichtlichen Realität selber sucht. Ich will bewusst den Begriff Religion vermeiden. Das Wort Religion ist für mich eine behördliche Kategorie aus der Zeit Josephs des Zweiten, in der staatlich anerkannte Religionsgemeinschaften festgelegt wurden. Also sage ich lieber, dass sie ihre Orientierungsinteressen in einer unübersichtlichen Wirklichkeit anderswo suchen.

W. Z.: Und wo?

Holl: Da gibt es zunächst einmal das Schlagwort Esoterik. Das ist natürlich ein dummes Etikett, denn in Wirklichkeit handelt es sich hier um ein privilegiertes Wissen, das man nur in jahrelangem Umgang mit einem Meister oder Meisterin erwerben kann und das den Außenstehenden verborgen bleibt. Aber Sie brauchen nur in eine Buchhandlung gehen. Jedermann kann es sich verschaffen - obwohl es streng genommen nicht esoterisch ist, was man sich nach Belieben anliest. Aber es ist alternativ codiert zu den herkömmlichen Kathechismen und den christlichen Glaubensbekenntnissen. Es ist ein bisserl geheimnisvoll und vergangenheitsorientiert wie Mondkalender und Baumhoroskope; kann ein bisserl exotisch an indische oder ägyptische Sachen erinnern; kurz und gut, ein reicher Schatz von Orientierungsmöglichkeiten, die aber keineswegs als gewissermaßen prinzipielle und beständige Orientierung akzeptiert werden, sondern je nach Gusto wechseln. Es ist heute nicht mehr so, dass jemand entweder praktizierend römisch katholisch ist oder esoterisch interessiert. Sie können zu einer katholischen Tagung eingeladen werden und dort in der Kapelle sitzend auf zenbuddhistische Art und Weise meditieren und keiner findet etwas dabei.

Dazu kommt, dass diese neuen Orientierungen auch neue Verbindungen eingehen, die mit der herkömmlichen Religion überhaupt nichts gemein haben: Dazu zählen z. B. dietätische Orientierungen, wie beispielsweise bei den Vegetariern; und alternativmedizinische Orientierungen. Das geht Hand in Hand mit Fragen des Lebensstils und dazu gehört auch die machtvolle psychotherapeutische und erfahrungstherapeutische Szene; es gibt nachgewiesenermaßen Hunderte von Psychoangeboten, die vorzugsweise dann benutzt werden, wenn man z. B. depressiv ist, sich in einer aktuellen Ehe- oder Liebeskrise befindet; die aber auch aus reiner Neugierde konsumiert werden. Heutzutage besteht kaum mehr eine klare Grenze zwischen der traditionellen, wohl beschriebenen Psychotherapie nach Freud, Jung oder Adler und einer quasi "schamanischen Initiation". Da gibt es mittlerweile viele, die fahren 14 Tage Trekking nach Nepal, um dort etwas zu spüren; danach urlauben sie im Kloster und lassen sich anschließend während einer japanischen Massage in einem bekannten Wellness-Hotel spezielle Steine auf den Bauch legen.

Das ist die ganze Bandbreite: von den Naschkatzen, die sich aus Neugierde oder weil sie meinen, eine innere Leere zu verspüren, mal alles anschauen, bis zu den wirklich bedrängten Seelen, die sich in einer akuten Lebenskrise befinden. Sie picken sich punktuell von allem das heraus, was sie zu benötigen meinen. Sich in diesem Milieu umzuschauen, ist für einen Sektenreferenten oder einen Religionssoziologen wie mich verwirrend, weil die alten Religionszugehörigkeiten nicht mehr greifen.

W. Z.: Wie ist das mit der Zugehörigkeit zu Sekten oder hierzulande exotischen Religionen? Nimmt die Mitgliederzahl in Europa zu?

Holl: Ein entschiedenes Wahlverhalten - also, dass ich aus einer amtlichen Kirche austrete und in eine sogenannte Sekte übertrete - halte ich für extrem minderheitlich, wenn nicht sogar für vernachlässigbar. Ich rede nicht über Lateinamerika, Afrika etc., sondern über Europa, und noch enger gefasst unsere Europäische Union. In diesem Feld sehe ich einen signifikanten Wechsel von Kirchen- zur Sektenzugehörigkeit nicht.

Die wirklich starken Tendenzen sind sehr einfach zu beschreiben: Vor allem das Verschwinden der bäuerlichen Lebensformen seit dem Jahre 1945 - damals gab es 30 Prozent Bauern, heute gibt es höchstens 5 Prozent, darunter auch noch die Nebenerwerbsbauern, die diese Tätigkeit am Wochenende machen. Das ist ein ganz starker Faktor, denn auf dem flachen oder auch gebirgigen Lande war die Kirche im Dorf. Da hat der Pfarrer gesagt, wen man wählen muss, und da hat der Pfarrer mit dem Finger auf die Frau mit dem unehelichen Kind gezeigt, etc. Es war eine Überwachung; aber vor allem eine Festigkeit in Bezug auf ethische Präferenzen. Es war aber auch eine grausame Welt. Darüber haben wir ja auch Literatur: Gernot Wolfgruber, Franz Innerhofer. Es war eine karge Welt, eine Welt der Entbehrung, der Strenge und der Langeweile.

W. Z.: Aber ist nicht gerade diese Festigkeit auf ethischen Präferenzen verlorengegangen?

Holl: In den Feuilletons geistert immer der Begriff vom "Werteverlust", ich glaube an keinen Werteverlust. Unser Wertesystem, also was gut und was falsch ist, wie es geht und was nicht geht, funktioniert ja nach wie vor klaglos; es ist nur das weggefallen, was in einer vorwiegend ländlich bestimmten Gesellschaft immerhin während der letzten 5.000 Jahre passiert ist. Das ist weg.

Und der zweite starke, unumkehrbare Vorgang ist die Emanzipation der Frauen. Es ist ein absolutes Novum in der gesamten Menschheitsgeschichte, dass sich die Frauen von ihrem herkömmlichen Rollenverhalten verabschiedet haben. Ich sage das einmal als Beobachter auf der Aussichtswarte, da fallen einem Dinge auf, die man vielleicht nicht so deutlich sieht, wenn man sich in der Menge befindet. Ich nehme mir meinen Feldstecher und schaue mir dieses Gewusel an, und siehe da, da sieht man starke, langfristige und unumkehrbare Tendenzen. Und da hat die katholische Kirche überhaupt nichts zu plaudern. Was immer sie machen mag, sie kann es nur falsch machen.

W. Z.: Können Religion, Glaube, bzw. das religiöse Gefühl durch tiefgreifende Mythen ersetzt werden?

Holl: Wenn wir der Frage nachgehen, ob eine irreligiöse Gesellschaft überhaupt denkbar ist, dann braucht es zunächst richtige Begriffe. Der Religionsbegriff ist ein Obrigkeitsbegriff, der aus der Zeit vom Ende des Dreißigjährigen Krieges stammt. Seit 1648 taucht dieses Wort in einem Dokument auf, nämlich in dem des Westfälischen Friedens, heute noch nachlesbar in den Preußischen Staatsarchiven Friedrich des Zweiten. Damals wurde von "Religionsparteyen" gesprochen. Da hat man sich ausgekannt: Das waren die Lutheraner, die Calvinisten, die Katholischen und vielleicht noch ein paar mehr oder weniger geduldete Muslime und Juden.

Seitdem haben wir diesen merkwürdigen Religionsbegriff, mit dem ich mir als Wissenschafter sehr schwer tue, weil es Dutzende, wenn nicht Hunderte von lebenden und toten Sprachen gibt, in dem es überhaupt keinen entsprechenden Begriff für Religion gibt. Man kann z. B. in Ägypten sagen: "Priesterdienstlichkeit", aber nicht "Religion".

Wenn man also fragt, ob Religion ein Merkmal für menschliches Verhalten ist, ist das die falsche Frage. Fragen kann man allerdings, ob beispielsweise eine allgemein menschliche Begabung zu einem Bewusstseinszustand besteht, der weder Traum- noch Wachzustand ist. Wir bewegen uns hier in diesem reichen Feld von Tagträumen, Trancen, etc. Da könnte man sagen, dass es wenige, sehr wenige Gesellschaften gibt, in denen es keine Pflege, sagen wir einmal, der Entrückungskultur gegeben hat. Oder aber: Kann eine Gesellschaft ohne Orientierung an maßgeblichen Erinnerungen aus einer sozusagen zeitlosen Vergangenheit auskommen?

Da sind wir jetzt bei dem wieder sehr unbestimmten Begriff Mythos - jenen Stories, in denen die Codes für das Verhalten götterweltlich in das Weltgebäude hereinstrahlen, um es poetisch zu formulieren.

Ich will gar nicht so sehr die Zeit bemühen, denn schauen Sie nach Serbien, da gibt es den Tag der Erinnerung an die Niederlage der Türken, das ist für die Serben nach wie vor wichtig, egal, ob sie in die Kirche gehen oder nicht. Es gibt in jedem Land in Europa wie auch bei uns spezifische Tage der Erinnerungen. Solche gibt es auch sehr deutlich in der jüdischen Kultur: "Warum ist diese Nacht nicht wie alle anderen Nächte? Da hat der Herr mit mächtigem Arme uns herausgeführt aus der Knechtschaft".

Die Frage ist: Kann eine Gesellschaft überleben, ohne eine gewisse Ekstasekompetenz und kann eine Gesellschaft überleben ohne eine gewisse klar definierte, allgemein akzeptierte Erinnerungskompetenz? Darauf sage ich: Nein. Aber wir finden in beiden Fällen solche Zugriffe durchaus in der Gegenwartsgesellschaft, nur sind sie nicht so codiert, wie wir das gewöhnt sind.

W. Z.: Wie wird diese Entwicklung weitergehen? Wird sie in ganz Europa stärker werden?

Holl: Wenn ich um Zukunftsperspektiven gefragt werde, muss ich schon sagen, wir befinden uns in Europa selbstverständlich und seit Jahren im Belagerungszustand.

Wir haben in unserem Gespräch über Religionen auf den Hunger vergessen, auf den knurrenden Magen und Krankheiten wie Aids. Während wir uns sorgen, ob wir in die Kirche gehen oder lieber Buddhisten werden sollen, ist die Welt voll von knurrenden Mägen, von Kranken, Sterbenden und Bedrückten. Am 11. September haben wir das nachdrücklich zu spüren bekommen. Natürlich werden wir weiterhin unsere luxuriösen Bedürfnisinteressen pflegen, so gut es geht, aber es wird immer schwieriger werden, denn es wird an der Tür gehämmert. Und die Leute, die an die Tür hämmern, stammen aus Zusammenhängen, die vormodern sind.

Es sind Menschen, die Mentalitäten und Religionen verkörpern, die noch nicht durch das Säurebad der Aufklärung gegangen sind. Niemals wurden bis jetzt z. B. im Islam, egal, ob moderat oder fanatisch, wie in der katholischen Kirche die Grundlagen und verehrten Heiligtümer rein wissenschaftlich erforscht; es gibt auch keine vergleichbare Korankritik - ähnlich unserer Bibelkritik.

In Afrika wiederum gibt es nach wie vor einen großen Geisterglauben. Sozusagen jeden zweiten Tag entsteht dort eine neue Kirche, eine kleine, christliche, aber sehr charismatische, in der die Befreiung von Besessenheiten an der Tagesordnung steht. In Lateinamerika gibt es einen gewaltigen Spiritismus. Das heißt, dort wo der Magen leer ist, blüht das, was wir Religion nennen.

Freitag, 17. Mai 2002

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