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"With God On Our Side"

Warum Religion in den USA eine derart wichtige Rolle spielt
Von Reinhard Heinisch

Religion is at the heart of the American experience: So zumindest versuchten laut einer kürzlich veröffentlichten Meinungsumfrage 57% der amerikanischen Wähler das wesentliche Element des Amerikanerseins zu bestimmen. Etwa 49% glaubten auch, dass der Mensch in einem Schöpfungsakt innerhalb der letzten 10.000 Jahre entstanden sei, und in vielen Schulbezirken im Süden und Mittleren Westen der USA steht die Schöpfungslehre ebenso auf dem Programm im Biologieunterricht wie die Evolutionstheorie. Während über zwei Drittel der Bevölkerung regelmäßig die Kirche besuchen, bezeichnen sich nur 6% als Atheisten. Vergleichende Studien zeigen, dass der iranische Gottesstaat und die führende westliche Supermacht zu den beiden religiösesten Nationen der Welt gehören.

Europäer, deren Amerikabild zumeist von eigenen Sehnsüchten bestimmt wird (große Freiheit, endlose Weite, Modernität, Wolkenkratzerurbanität usw.), sind immer wieder verblüfft, wenn sie mit der Religiosität des Durchschnittsamerikaners konfrontiert werden. Zumeist wird dies als die oberflächliche Frömmigkeit einer scheinbar vom Materialimus besessenen Bevölkerung interpretiert, die unreflektiert einem kindlichen Glauben vom großen Happy End im Jenseits nachläuft. Andere Beobachter verweisen auf die Scheinmoral und Selbstgerechtigkeit der amerikanischen Gesellschaft ebenso wie auf die wunderbare Verquickung von Kommerz, Kitsch und Religion, die bei den diversen Televangelists (TV-Predigern) geradezu ins Groteske übersteigert wird.

Brücke zur alten Welt

Übersehen wird bei einer solchen oberflächlichen Betrachtung die historische Rolle der Religion als wichtiger Integrationsmechanismus einer Einwanderernation. Religion bildete eine vertraute Brücke zur alten Welt und machte den Anpassungschock an die neue Heimat erträglich. Die Kirchen waren nicht nur religiöse, sondern auch sprachliche und kulturelle Gemeinschaften, in deren Schoß man aufwuchs, wo man zumeist seinen Ehepartner kennenlernte und zu denen man ein Leben lang gehörte. Daraus erklären sich die zahlreichen Kirchen gleichen Bekenntnisses, auf die man oft in unmittelbarer Nachbarschaft voneinander stößt. Da treffen sich beispielsweise die amerikanischen Katholiken polnischer Abstammung zum "Bingospiel" im Gemeindezentrum von St. Kasimir, die Slowaken rufen zum Kinderbaseball auf dem Sportplatz von St. Stevens auf, während sich die Iren zu einem Musikabend in St. Patrick einfinden. Ein paar Häuserblöcke weiter erblüht protestantische Vielfalt: Methodisten, Presbyterianer, Anglikaner, Lutheraner, Calvinisten, Unitarianer, Baptisten und Mennoniten, die sich alle wiederum in die verschiedensten Untergruppen teilen oder gar autonome Basisgemeinden bilden. Christlich-Orthodoxe verschiedener Schattierungen, Quäker und Adventisten runden allein das christliche Spektrum anerkannter Kirchen ab, von den unzähligen Sekten und nicht-christlichen Religionen einmal abgesehen.

Religion hängt in den USA auch eng mit der Mobilität der Menschen zusammen. Der Durchschnittsamerikaner zieht alle 7 Jahre um und nur etwa 15% verlassen nie die Gegend, in der sie geboren wurden. Um der vollkommenen Entwurzelung zu entgehen und um am neuen Wohnort jeweils soziale Kontake knüpfen zu können, schließt man sich einer religiösen Gemeinschaft an und sucht sich entsprechend seine neue Kirche aus. Man hört sich die verschiedenen Pfarrer an, trifft sich mit Gemeindemitgliedern und klärt dabei auch ab, inwieweit seine eigenen weltanschaulichen Vorstellungen mit jenen der betreffenden Gemeinde übereinstimmen. Immerhin verbringen zwei von drei Amerikanern einen beträchtlichen Teil ihrer Freizeit in kirchlichen Organisationen, nicht nur im Bilbelkreis, sondern bei sozialen Diensten, beim Kindernachmittag oder dem Sonntags-Picknick. In einer Gesellschaft, wo Zeit Mangelware ist und sich Menschen kaum in öffentlichen Räumen aufhalten, ist man meist mit sich allein, im Auto oder im eigenen Haus. In dieser Situation bieten die Kirchengemeinschaften einen gesellschaftlich akzeptierten Rahmen, in dem man seine Mitmenschen kennenlernen kann, ohne sich gleich der Anbiederung verdächtig zu machen.

Mobilität und Religion ergänzen sich auch noch in einer anderen Hinsicht. In einer derart mobilen Gesellschaft mit so wenigen gesetzlichen Schranken und sozialen Normen droht ständig die Zügellosigkeit und der Missbrauch der Freiheit. Auf Grund der fehlenden Mobilität sind Europäer, ohne sich dessen bewusst zu werden, ein Leben lang in ein sozialisierendes Netzwerk von Normen und Regeln eingespannt, die auch ohne den Sanktionsdruck der Religion zwischenmenschliches Verhalten effizient regulieren. In den Vereinigten Staaten sind religiöse Moralverstellungen und die öffentliche Betonung religiöser Wertvorstellungen daher eine Art Ersatzmechanismus für die typischen Regelungssysteme weniger mobiler Gesellschaften.

In der Neuen Welt verblüfft besonders die Vielfalt der Religionen und die Toleranz zwischen den Konfessionen. In diesem religiösen Pluralismus liegt vielleicht die Zugkraft der Religion und ein entscheidender Unterschied zu Europa. Die USA hatten nie eine Staatskirche - und Religion ist daher als solche nicht politisch vorbelastet. Im Gegenteil, die Trennung von Kirche und Staat ist ein wesentlicher Verfassungsgrundsatz. Selbst in den noch so bigotten Schulbezirken gelten öffentliche Gebete in der Schule oder gar ein Kreuz im Gerichtsaal oder Klassenzimmer als schweres Vergehen. Sogar eine harmlose Weihnachtskrippe vor einem öffentlichen Gebäude kann in den Staaten zum großen Politikum werden. Sicherheitshalber begegnet man zur Weihnachtszeit denjenigen, die nicht gerade zum eigenen Freundes- oder Familienkreis gehören, auch mit einem unverdächtigen "happy holidays," und nicht mit "merry christmas". Denn jemanden einer falschen Religion zuzuordnen gilt als grober Fauxpas und als eine Art Verletzung der Persönlichkeitssphäre.

In einem Land, wo politische Ideologien abseits des Liberalismus und Kapitalismus stets einen schweren Stand hatten und wo die Sicherheit des europäischen Wohlfahrtsstaates fehlt, hatte die Religion als Bestandteil der eigenen Lebensphilosophie kaum eine ernstzunehmende Konkurrenz. Daher wird auch gerne und oft gebetet, beim gemeinsamen Abendessen mit Familie oder Kollegen ebenso wie allein für sich in der Mittagspause.

Abgesehen von der persönlichen Komponete der Religion und ihrer sozialisierenden Rolle in der amerikanischen Gesellschaft darf natürlich auch nicht ihre historisch-politische Funktion übersehen werden.

Immerhin waren es puritanische Auswanderer, die in der Neuen Welt ganz bewusst ein Gegenmodell zur "moralischen Verkommenheit" und "Tyrannei" des alten Kontinents schaffen wollten. Der amerikanische Urmythos vergleicht die leidvolle Geschichte der Immigration mit dem Exodus der Israeliten, die dem ägyptischen Joch enflohen und ins gelobte Land aufbrachen. Demnach war der nordamerikanische Kontinent von Gott den Tüchtigen quasi zur späteren Besitznahme vorbestimmt. Gründervater Thomas Jefferson bezeichnete dies als "manifest destiny" und schickte die Abenteurer Lewis und Clark aus, den Rest des Kontinents zu erkunden und für die Besitznahme vorzubereiten. Schließlich gab man sich nicht mehr allein damit zufrieden, als Vorbild für andere dazustehen, sondern ging mit missionarischem Eifer daran, die Welt von den Segnungen des eigenen Systems zu überzeugen. Der Missionsgedanke und der mit religiösem Gedankengut überfrachtete Begriff vom Kampf zwischen Gut und Böse sind latente Bestandteile außenpolitischen Handelns. Vom ersten großen internationalen Konflikt, dem Spanisch-Amerikanischen Krieg, in den man sich mit Präsident McKinleys Schlachtruf "let's make the world save for democracy" stürzte, bis hin zu Außenministerin Madleine Albrights ständiger Betonung der Rolle der USA als "indispensable nation" (unentbehrliche Macht) zieht sich ein religiöses Leitmotiv, nach welchem die Vereinigten Staaten eine auserwählte und einzigartige Nation sind, für die die üblichen Spielregeln und Kriterien einfach nicht gelten. Die engen Beziehungen zu Israel erklären sich übrigens auch aus den ähnlichen historischen Erfahrungen und den daraus resultierenden Parallelen des Exodus, der Landnahme und des einzigartigen eigenen Charakters.

Der Konflikt mit Hitler-Deutschland und später der Kalte Krieg mit dem ideologischen Antipoden, der atheistischen Sowjetunion, verstärkten nur noch die Verbindung von Religion, Politik und Kapitalismus. Um sich vom Erzfeind eindeutig zu unterscheiden, musste die eigene Identität noch stärker als früher mit moralischer Überlegenheit, basierend auf christlichen Werten, abgesichert werden. Nur wer Gott auf seiner Seite weiß ("With God On Our Side"), kann dem "evil empire" trotzen.

In keinem anderen Land ergänzen sich Religion und Wirtschaftssystem so kongenial. Dem protestantischen Denken entsprechend war der persönliche Wohlstand stets ein Ausdruck von Gottes Gewogenheit dem Einzelnen gegenüber. Wer reich war, schuftete offenbar von früh bis spät und hatte daher weder Zeit noch Gelegenheit, auf unmoralische Gedanken zu kommen. Wer soff, spielte und Unzucht trieb, konnte es nicht weit bringen. Dem Umkehrschluss folgend: Wer es zu nichts brachte, der war eben höchstwahrscheinlich unmoralisch.

Das Streben nach Reichtum war somit Ausdruck von höchster Moral und gleichzeitig auch förderlich für die Steigerung des Bruttosozialproduktes.

Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, warum es für Politiker in den USA unerlässlich ist, sich mit dem Mantel der Religion zu schmücken. In diesem Präsidentenwahlkampf allerdings spielte Gottgefälligkeit eine noch nie dagewesene Rolle. Der Begriff "to out-god one another", also sich zu gegenseitig zu "übergotten", ist spätestens seit dieser Wahlkampagne Teil des US-Politvokabulars. Im Gegensatz zu Ronald Reagan, der sich zwar gern auf die Bibel berief, jedoch selber nie in die Kirche ging, handelt es sich bei Gore und Bush (deren spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen um die Präsidentschaft bei Redaktionsschluss dieser Beilage noch in Gang war, d. Red.) um Politiker, bei denen der eigene Glaube einen wesentlichen Teil der eigenen Identität ausmacht.

George Bush und seine Frau sind überzeugte sogenannte "born-again Christians". Diese Wiedergeborenen zählen zum Kern des explosionsartig wachsenden "evangelical movements", einer Art Fundi-Protestantismus, basierend auf einer persönlichen Begegnung mit Gott. Seit langem bilden diese Kader die Speerspitze im Kulturkampf gegen aufgeklärtes und linksliberales Gedankengut. In den Siebziger- und Achtzigerjahren underwanderten die "Evangelicals" erfolgreich die Republianer, die vorher eher als Wirtschafts- und Law-and-Order Partei galten. Seitdem sind Themenbereiche wie Abtreibung, Drogen (Sühne statt Therapie), Lehrpläne (christliche Werte statt sekulärem Humanismus), die Unterhaltungsindustrie und Popkultur (Zucht und Anstand statt Hollywoods "Sex and Crime"), Reform des Wohlfahrtsstaates (Leistungsentzug und "tough-love" als Motivierung statt endloser Sozialprogramme) fixe Bestandteile des Kulturkampfes zwischen der politischen Rechten und dem Rest des Landes.

Gemäß dem Weltbild der Evangelicals, das mittlerweile immer mehr zum Mainstream wird, waren die USA bis Mitte der Sechzigerjahre eine "Nation under God", dann folgten Vietnam, die Hippie- und Rockgeneration und der große Wertebruch. Vom rechten Weg abgekommen ("America lost its way") folgten, laut dieser Sichtweise, der Werteverfall in den Medien, der "Massenmord" (ein Codewort für die Abtreibung), Drogenexzesse und die Zunahme der Kriminalität. Die Ursachen für diese Entwicklungen orten die Rechten nicht in sozialen Umständen, sondern in der Abkehr der Menschen von religiösen Werten. Verantwortlich dafür wird die Babyboom-Generation gemacht, die es nun durch den persönlichen Kontakt mit "Jesus" zu bekehren gilt. Präsident Clinton als erster Präsident der Babyboom-Generation gilt daher als besonderes Feindbild, wobei seine Affäre mit Monica Lewinski noch die schlimmsten Befürchtungen der Fundis übertraf. Über die Debatte um die sogenannten "Family Values" gelangten die Ideen der Evangelicals in die breite Öffentlichkeit, denen sich auch die Demokraten nicht entziehen konnten. Vor allem jene Demokraten aus dem religiösen Süden, wie Al Gore und seine Berater, haben Teile dieser Botschaft, wenngleich etwas modifiziert, ins eigene Programm übernommen.

Die "Jesus-Medizin"

Der Chefideologe des Bush-Programms "Compassionate Conservatism" ist Marvin Olasky, der vor seiner Begegung mit "Jesus" Kommunist war und nun als Professor für Journalismus an der University of Texas unterrichtet. Ziel ist es,

öffentliche Einrichtungen, seien es Jugendzentren, Schulorganisationen und Gefängnisse, in so ge-

nannte Faith-Based-Organizations ("FBOs") umzuwandeln, die Fehlverhalten durch religiöses "Re-programming" zu änderen versuchen. In Texas und anderen Staaten gibt es bereits eine Anzahl solcher Einrichtungen. Mehrere Gefängnisse "therapieren" ihre Insassen täglich mit hohen Dosen der "Jesus-Medizin". Bei erfolgreichen Bekehrungen und nach eifrigen Besuchen des Faith-Mentoring gibt es sogar eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung, natürlich nur für den, der sich in die Obhut einer ständigen FBO-Bewähungshilfe begibt. Pläne, diese Art des erzwungenen Wertewandels im großen Stil auf Bundesebene durchzuziehen, erfreuen sich im republikanisch dominierten Kongress großer Beliebtheit, scheiterten aber bisher am Widerstand des Präsidenten Clinton. Ein weiteres Hindernis ist der Oberste Gerichtshof, wo sich junge Konservative, Moderate und betagt Liberale die Waage halten. Der neue Präsident wird jedoch eine Reihe von Ernennungen vornehmen können, die das Rechtswesen der USA für Jahrzehnte bestimmen werden.

Freitag, 10. November 2000

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