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Ein viereckiges Stück Leinen

Ein Besuch beim berühmten Grabtuch in Turin
Von Elisabetta Dal Bello

Man fährt im strömenden

Regen auf der Staatsstraße Nr. 10 von Mailand nach Turin. Die Autobahnbrücke über den Tessin existiert nicht mehr. Die sintflutartigen Regen haben sie mit sich gerissen. Das Ziel der Reise - ein altes, strohfarbenes Linnen, das im Dom San Giovanni, anlässlich des vom Papst Johannes Paul II. ausgerufenen Jubiläums, bis Ende Oktober ausgestellt war. Jedermann hat es vor dem Besuch mindestens schon einmal in einer Reproduktion vor Augen gehabt - ein viereckiges Stück Leinen im Fischgrätenmuster, auf dem in dunkelbrauner Farbe die Rück- sowie die Vorderseite eines nackten, in etwa 180 cm großen, männlichen Körpers zu sehen sind. Das Abbild ist einem Fotonegativ vergleichbar, das heißt: mit invertierten Helligkeitswerten und spiegelverkehrt. Dies merkte als erster der Turiner Rechtsanwalt und Amateurfotograf Secondo Pia im Jahre 1898, als er vom Haus Savoyen (in dessen Besitz sich damals das Leichentuch befand) die Genehmigung erhielt, das in der barocken Domkapelle des Architekten G. Guarini unter Gitter und dreifachem Schloss in einem Silberschrein aufbewahrte Stück in Einsicht zu nehmen und, zum ersten Mal in der Geschichte, zu fotografieren.

Auf den Negativplatten, die er vor Erregung beinahe zu Boden fallen ließ, zeigte sich das Grabtuch im Positiv. Der auf dem Leinengewebe abgebildete Mann weist auf der Stirn und am Hinterkopf Spuren von Verletzungen auf, die von Stacheln oder Dornen verursacht sein können. Der ganze Körper scheint von mehr als hundert Peitschenhieben auf schwerste Weise malträtiert worden zu sein. Die Wunden im Bereich der Handgelenke und der Füße lassen an eine Art von Hinrichtung denken, welche die Karthager erfunden und die Römer übernommen hatten, eines "Supplicium", dem Sklaven, Schwerverbrecher und Rebellen unterzogen wurden: der Kreuzigung durch Annagelung.

Wer dieser Mann sei, steht für die meisten Besucher der Turiner Ausstellung fest: Jesus von Nazareth, über dessen Leben und qualvollen Tod die Evangelien berichten. Für andere hingegen - unter ihnen nicht wenige Christen - ist gerade aufgrund dieser Identifizierung eine Fälschung im Spiel. Ulysse Chevalier zum Beispiel, ein französischer Kanonikus und Zeitgenosse von Secondo Pia, vertrat die Meinung, es handle sich hier um ein im Mittelalter gemaltes Bild. Seine Argumente basierten auf der Tatsache, dass der dokumentierte Weg dieser umstrittenen Reliquie erst 1353 in Lirey, Nordfrankreich, beginnt, als Geoffroy von Charny sie in der dortigen Kirche den Gläubigen zur Schau stellen ließ. Den eindringlichen Fragen des Bischofs von Troyes, woher und von wem das "Schweißtuch unseren Herrn Jesu Christi" her käme, antwortete er, es sei ihm großzügig geschenkt worden - er wollte keine Namen nennen.

Was in den vorherigen Jahrhunderten mit dem Leichentuch geschah, ist den Hypothesen von Historikern und Archäologen überlassen, wie der Normalfall für viele Gegenstände der Geschichtsforschung ist: man denke dabei an das Bernsteinzimmer oder an die Eiserne Krone der Langobarden. Das Grabtuch wäre demnach Anfang des 13. Jahrhunderts, zur Zeit des vierten Kreuzzugs, nach Frankreich von Byzanz gebracht worden. Verantwortlich für den Reliquienraub wären die Tempelritter gewesen. 100 Jahre später, in dem von König Philipp dem Schönen gegen diesen ihm zu mächtig gewordenen Orden angezettelten Prozess, wurden seine Mitglieder unter anderem beschuldigt, ein geheimnisvolles, bärtiges Antlitz anzubeten. In Byzanz wäre das Linnen im 10. Jh. eingetroffen, nach einem langen Aufenthalt in Edessa (heute Urfa, Zentralanatolien), wo ein "Acheiropoieton" - das griechische Wort bedeutet: "nicht vom Menschenhand geschaffenes" - Bildnis verehrt wurde.

Die Schriftquelle über das "Acheiropoieton" von Edessa geht allerdings auf das 6. Jahrhundert zurück. Es bleibt daher eine Lücke von zirka 500 Jahren, die meistens von den Historikern mit der Vermutung gefüllt wird, das Grabtuch sei nach dem Tod Jesu Christi eine Zeit lang versteckt gehalten worden, zuerst am Toten Meer und danach in Edessa, wohin es Judenchristen auf der Flucht vor den Verwüstungen in Jerusalem, im Jahre 70 unter Kaiser Titus, mitgenommen hätten.

Laboruntersuchungen

Diese geschichtliche Rekonstruktion scheint allerdings in der Naturwissenschaft eine Bestätigung erhalten zu haben. In den siebziger Jahren fand der Schweizer Botaniker und Kriminologe Max Frei Sulzer auf dem Linnen Spuren von Pollen von mehr als 50 verschiedenen Pflanzen, die in Frankreich, Italien, der Türkei sowie in der Gegend von Jerusalem beheimatet sind oder waren.

Die Theorie, das Turiner Grabtuch stamme in Wirklichkeit aus dem Mittelalter, erhielt neuen Rückhalt, als 1988 an einer Gewebeprobe eine Altersbestimmung mit der Radiokarbonmethode unternommen wurde. Die Laboruntersuchungen in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und in der Schweiz ergaben alle das gleiche Resultat: das Leinen geht auf einen Zeitraum zwischen dem 13. und dem 14. Jh. zurück. Die Experten mahnten jedoch zur Vorsicht, was die Anwendung der Radiokarbonmethode in dem Fall von alten Stoffen betrifft. Der russische Biochemiker Dimitri Kuznetsov machte auf die beiden Brände aufmerksam - einen vermutlich vor dem Jahr 1150 in Byzanz und einen am 4. Dezember 1532 in Chambéry -, die ihre Spuren auf dem Grabtuch hinterlassen hatten und eine "Verjüngung" (durch Isotopenaustausch) verursacht haben könnten.

Die Folgen von dem Brand in der Sainte Chapelle von Chambéry, dem damaligen Hauptsitz der Savoyer (sie hatten 1453 das Grabtuch von Marguerite de Charney abgekauft), sind deutlich sichtbar: Ränder von Löschwasserflecken und dreieckige Flicken auf den Brandlöchern. Diese Ausbesserungen hatten die Klarissinen von Chambéry vorgenommen, kniend im Kerzenlicht und mit goldenen Nadeln. Ferner nähten die französischen Nonnen das alte, brüchige Linnen auf einem Unterfutter, ebenfalls aus Leinen. Als 1978 eine Gruppe von 50 Spezialisten das Grabtuch für insgesamt 120 Stunden untersuchte, wurde es vom Unterfutter um ein kleines Stück getrennt, um Fotos von der Rückseite zu machen. Man entdeckte, dass dort kein Abbild zu sehen war. Wie dieses auf der Vorderseite entstanden sei, bleibt kontrovers. Fest steht, dass es sich dabei weder um ein gemaltes Bild (man hat keine Spuren von Farbsubstanzen gefunden) noch um das Resultat einer besonderen Webetechnik handelt. Auch die Idee, es sei der Abdruck einer zum Glühen gebrachten Metallstatue, musste man verwerfen, weil das Bildnis des Gekreuzigten sich "thermostabil" verhält, das heißt: wenn es mit Wood-Licht bestrahlt wird, reagiert es nicht mit rötlichen Fluoreszenzen wie die Brandstellen an seiner rechten und linken Seite.

Archäologische Befunde

Makrofotografien haben gezeigt, dass das Abbild in die Vertiefungen des Gewebes nicht eindringt, im Gegenteil: sobald sich der Leinenfaden entsprechend des Webmusters abwärts neigt, verschwindet es. Es scheint wie auf das Tuch gelegt zu sein. In einem vor drei Jahren veröffentlichten Buch über das Thema verteidigt die Archäologin Maria Grazia Siliato mit neuen Argumenten die alte Theorie, wonach das Turiner Grabtuch der Abdruck des Leichnams Jesu Christi wäre.

Der sich infolge einer Berührung mit der verschwitzten, blutigen und verschmutzten Haut des Gekreuzigten geformt hätte, ohne dass sie vorher gewaschen oder mit Ölen bestrichen wurde. Der Vorgang würde den jüdischen Begräbnissitten entsprechen, die keine Taharah (Leichenwäsche) für jene vorsahen, die an einem gewaltsamen Tod mit Blutvergießen und durch die Hand von Nicht-Juden gestorben waren - wie im Fall Jesu, den der römische Statthalter Pontius Pilatus zum Tod am Kreuz verurteilt hatte. Aus den jüdischen Katakomben an der Via Nomentana in Rom, die in die Zeit des zweiten jüdischen Aufstandes (135 n. Chr., unter dem Kaiser Hadrian) zurückreichen, holt die italienische Wissenschaftlerin weiteres Informationsmaterial über die damaligen Bestattungsrituale. Die Exiljuden jener Zeit streuten auf die Steinbank Aromastoffe in Pulverform und Salz, legten darauf den in einem Leinentuch eingewickelten Toten und besprengten ihn mit dem Rest der Aromastoffe, dann schlossen sie die Grabnische mit einer Steinplatte. Die Angehörigen, die von Zeit zu Zeit das Grab besuchten, bestrichen die Platte mit Aromastoffen in Öllösung, als eine Art von Geschenk und Ehrerbietung, wie wir heute Blumen niederlegen.

Maria Grazia Siliato supponiert eine ähnliche Prozedur für den Mann des Turiner Grabtuchs, im Einklang mit dem Bericht des Johannesevangeliums über die 100 Pfund (zirka 30 kg) Aloe und Myrrhe, die der Ratsherr Nikodemus zum Grab des Herrn bringen ließ. Das würde auch erklären, warum manche Teile seines Körpers (die Rückseite der Schienbeine im unteren Drittel) auf dem Grabtuch zu sehen sind, was eine weiche Unterlage - wie eine dicke Schicht fein gemahlener Aromastoffe - voraussetzt.

Spuren von Menschenblut

Auch Gerichtsmediziner haben sich an das Grabtuch herangemacht und unter dem Mikroskop Spuren von Menschenblut der Gruppe AB sowie von Serum gefunden.

Laut ihrem Befund ist die Stichwunde auf der rechten Brustseite erst nach dem Tod des Opfers zugefügt worden. Die eigentliche Todesursache bei einer Kreuzigung war die Erstickung. Antoine Legrand, ein französischer Arzt, der in das Nazi-Lager Dachau deportiert war, musste Hinrichtungen dieser Art mit ansehen. Es war das berüchtigte "Baumhängen", das auch in anderen NS-Lagern Anwendung fand. Der Verurteilte, der an den Händen an einem Pfahl aufgehängt worden war, hatte unerträgliche Atembeschwerden. Also versuchte er sich mit einer Zuckbewegung der Arme abzustützen und Atem zu holen, bis er, von der Anstrengung erschöpft, zurückfiel, wieder zu ersticken drohte und einen neuen verzweifelten Versuch unternahm.

Wenn ihm eine Stütze unter die Füße gestellt wurde, so dass auch nur die Zehenspitzen halt fanden, ging der Atem leichter, was die Agonie um vieles verlängerte. Wenn aber, um die mechanische Erstickung zu unterstützen, Gewichte an die Füße gehängt wurden, trat der Tod in wenigen Minuten ein. Antoine Legrand sah, wie sich der Brustkorb des Bestraften übermäßig ausdehnte und fast unbeweglich blieb; die Beine baumelten kraftlos, die Haut wurde violett; Schweiß bedeckte Körper und Haupthaar, obwohl es Winter war.

Devotionalienmarkt

"Ich glaube nicht, dass das Grabtuch echt ist, aber man kann trotzdem ein guter Katholik sein", sagt zu mir ein Mann mittleren Alters, mit dem ich ein paar Worte vor der Informationsstelle auf der Piazza Castello gewechselt habe. Nebenan ist in Hütten aus Fichtenholz ein kleiner Devotionalienmarkt untergebracht. "Der Eintritt befindet sich bei den Giardini Reali", erklärt mir die junge Dame. Dort bei der Schranke zeige ich einem Pater meine Zählkarte und der Geistliche lässt mich passieren. Auf einer Tafel steht SILENZIO groß geschrieben. Es gibt keinen Andrang - im Gegenteil: einzelne Besucher und kleine Gruppen schreiten auf dem überdachten Weg aus Holzdielen, durch den Park des Savoyenpalasts bis zu der Rückseite des Doms. Auf dem Hauptaltar ist das Leichentuch Christi hinter Panzerglas in einem modernen, schlichten Rahmen zur Andacht präsentiert. Eine weibliche Stimme vom Tonband spricht Worte der Demut und der Dankbarkeit aus. Als der Text wieder von vorne beginnt, schaue ich fragend die Aufseherin an - sie gibt mir lächelnd mit einer Handgeste zu verstehen, ich darf ein paar Minuten noch bleiben. Es gibt keinen Andrang.

Wo sind die Massen von Pilgern, auf die ich mich eingestellt hatte? Gut, es ist gerade Mittagszeit. Und das miserable Wetter. Vom 12. August bis zum 22. Oktober sind knapp mehr als 900.000 Besucher registriert worden. Eine magere Zahl, wenn man bedenkt, dass während der Ausstellung im Jahre 1978 in 43 Tagen über drei Millionen Wallfahrer dem Turiner Grabtuch gehuldigt hatten. Die Zeiten - wer merkt das nicht? - haben sich geändert. Die einst feurigen Diskussionen über die Echtheit des Turiner Grabtuchs sind eingeschlafen, die Reliquienverehrung hat stark nachgelassen. Der Glaube hat sich verinnerlicht, jeder geht für sich allein den großen und größten Fragen nach.

"Wie ist es möglich, dass nur einer von den vier Evangelisten die Dinge so darstellt", fragt sich Wladimir in "Warten auf Godot". "Sie waren doch alle vier dabei, jedenfalls nicht weg. Und nur einer spricht von einem erlösten Schächer."

Lukas 23,43: "Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein", sagte Jesus dem guten Schächer. Bei Matthäus beschimpfen ihn hingegen beide.

Freitag, 03. November 2000

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