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Die Hand am Puls der Zeit

Joachim Angerer, der Abt des Stiftes Geras, ist nicht nur

Kirchenpolitiker
Von Brigitte Borchhardt-Birbaumer

„WZ.": Als einer der Auflehner gegen eine verstaubte Kirchenpolitik sind Sie in letzter Zeit geradezu berühmt geworden. Kann man diese Popularität als Mittel
zur Veränderung nützen?

Angerer: Das wäre schön. Ich finde aber, bevor man „aufmüpfig" wird, müßte man schon verändert sein, und so fühle ich mich als einer, der an der Basis und mit beiden Beinen im Leben steht und der
immer die Hand auch am Pulsschlag der Zeit hat.

„W. Z.": Der letzte Kirchentag hat Neuerungen von der katholischen Kirche gefordert und darüber positiv abgestimmt · dieses Ergebnis ist jetzt dem Papst vorgetragen worden. Wird es unter Johannes
Paul II. aber noch zu Erneuerungen kommen?

Angerer: Zunächst möchte ich feststellen, daß sich in den letzten Monaten bei allen Problemen vieles verändert hat. Man hat mir signalisiert, daß die Menschen glücklich sind, auch im Klerus das
menschliche Antlitz der Kirche zu finden. Viele sind mir dankbar gewesen, daß ich das

aussagte und ansprach, was sie schon immer empfunden haben und was sie zweifeln machte, aus Angst, es stünde mit der Kirche in Konflikt. Das ist ein starker Impuls aus der Entwicklung, die mit Pater
Udo Fischer begann, dessen Behandlung durch Bischof Krenn einfach finster gewesen ist.

„W. Z.": Was müßte ein neuer Papst · nach ihren Wünschen · neues einbringen?

Angerer: Wir haben in den letzten Jahrzehnten einen Papst erleben dürfen, der große Bedeutung in der Kirchengeschichte und in der gesamten Menschheitsgeschichte hatte, denn durch ihn konnte u. a.
der Kommunismus zu Fall kommen. Das ist allein schon genug, um in der Geschichte für alle Zeiten bestehen zu können. Darüber hinaus ist aus seiner Charakterstruktur das Bedürfnis da, alles
festzulegen, gewissermaßen „festzuschreiben". Ich nehme nicht an, daß ein kommender Papst, wie immer er aussehen mag, so weiterschreiben wird und kann. Was ich mir wünsche, ist ein menschlicher
Papst, einer, der wieder Lächeln schenkt und aus dessen geistlichem und spirituellem Selbstverständnis und Vermögen alle profitieren können. Ich möchte das in Worte von Paracelsus kleiden, der sagte,
die wichtigste Arznei ist die Liebe. Ich verstehe, daß die Kirche viele Strukturen haben muß, auch hierarchische; der letzte Inhalt aber kommt vom Göttlichen, und darüber haben wir nicht zu verfügen.

Jedoch: Gottes Sohn ist Mensch, ist Fleisch geworden, und diese Umsetzung im Fleisch muß immer wieder durch uns in der Kirche neu geschehen. Hinter all dem, was Kirche und Kirchenpolitik
vorschreiben, sollte man die Liebe verspüren, denn Gott ist die Liebe. Zur Zeit habe ich manchmal den Eindruck, daß uns mit den Vorgaben aus Rom alle Lasten aufgelegt werden · aber nicht mehr klar
ist, daß die Arznei Liebe heißt.

„W. Z.": Heißt das, daß es im 21. Jahrhundert vielleicht möglich sein wird, daß die katholische Kirche das Zölibat aufhebt, Frauen zum Priesteramt zuläßt und den wiederverheirateten Geschiedenen
die Sakramente nicht mehr verweigert? Oder ist ein längerer Zeitraum notwendig?

Angerer: Ich würde mich gar nicht auf Zeit einlassen, sondern grundsätzlich sagen: Wir Christen, die wir uns durch die Taufe und in Jesus Christus als Erlöste empfinden dürfen, wir wissen auch,
daß die Vollendung der Erlösung nicht hier stattfindet, sondern im Jenseits. Mit anderen Worten: Unser Inhalt ist so unendlich groß, daß wir die ganze Zeit der Menscheitsgeschichte benötigen werden,
um das umzusetzen, was uns vorgegeben ist aus der Tatsache des Erlöstseins durch Christus. Es wird also viel Zeit benötigen, bis wir immer wieder einholen, wo der Mensch oder die menschliche
Entwicklung steht. Ich bin aber sehr optimistisch, daß sich vieles verändern wird, und das hat sich ja bei Johannes XXIII. schon abgezeichnet. Wenn Hans Küng sagt, mit ihm hat die Kirche das
Mittelalter verlassen, bin ich überzeugt, daß nach dem Jahr 2000 ein oder mehrere Päpste kommen werden, die dann die Kirche ins 3. Jahrtausend hinübergeleiten.

„W. Z.": Wie ist Ihr Werdegang, wie bringen Sie zahlreiche Berufe und Berufungen unter einen Nenner?

Angezogen vom Schönen

Angerer: Als Sohn einer niederösterreichischen Mutter und eines Bayern, bin ich sozusagen ein „echter" Österreicher. Ich bin das einzige von fünf Kindern, das den Weg in die Heimat meiner
Mutter zurückgefunden hat. Durch die Verwandten ging ich in Böhlerwerk bei Waidhofen an der Ybbs in den Kindergarten und in die Volksschule. Danach, in Bayern, kam ich ins Gymnasium von Scheyern zu
den Benediktinern. Bei aller Dankbarkeit und Respekt muß ich sagen, daß mir vieles dort schwergefallen ist. Trotz der Probleme bin ich zu den Benediktinern gegangen, angezogen vom Schönen. Mit elf
Jahren saß ich schon auf dem Orgelbock meiner Heimatkirche von Rottenbuch und bin mit der Kirchenmusik groß geworden.

Durch die Benediktiner kam ich 1955 zur Philosophie nach Salzburg bis 1957, daneben konnte ich am Mozarteum auch Musik studieren · Kapellmeisterei und Orgel ·, ging aber dann nach Rom ins Pontificio
Ateneo di S. Anselmo auf dem Aventin und habe dort in vier Jahren Theologie studiert und das Studium mit dem Lizentiat abgeschlossen. 1957 bis 1961 war eine Zeit des Aufbruchs: Ich habe am 25. Jänner
1959 in St. Paul · als unser Kolleg den Gottesdienst gestaltete · Orgel gespielt, in dem Augenblick, als Johannes XXIII. das Konzil ankündigte. Das prägt mich bis heute, da ich all diese
Entwicklungen von Anfang an mitbekam, daher bin ich ein Mann des Vatikanums II.

Im Auftrag des Abtes von Scheyern kam ich dann nach Würzburg, um Altphilologie zu studieren · Griechisch, Latein und Geschichte ·, obwohl das Gymnasium in Scheyern eingestellt wurde. Es war damals
eine gute Fügung, daß ich einen Freund in Niederösterreich für drei Ferienwochen vertrat und bei der Gelegenheit der Wunsch geweckt wurde, eine kleine Pfarre zu übernehmen und mein Doktorat in der
Theologie beendigen zu können und daneben Musikwissenschaft zu studieren und zu forschen. Dieser Freund sagte mir, daß Stift Geras im Waldviertel kleine Pfarreien habe und Betreuer suche. 1963, zum
ersten Adventsonntag, kam ich in die Kleinstpfarre Eibenstein; zwei Jahre später war meine Dissertation fertig und es folgte ein deutscher Forschungsauftrag, eine textkritische Edition der „Melker
Reform" zu erstellen, was mein Hauptforschungsgebiet geworden ist.

In Wien wurde ich auf der Musikwissenschaft bei Prof. Erich Schenk mit offenen Armen aufgenommen · ich erschien ihm prädistiniert für die Mittelalter-Lehrkanzel, die später eingerichtet wurde.
Gleichzeitig mußte ich meinen kirchenrechtlichen Status der Abtei Scheyern gegenüber klarstellen. Dort war man damals nicht interessiert, daß ich als Benediktiner eine Professur annehme, der damalige
Abt · auch ein Konzilsmitglied · hat mir geraten, entweder als Weltpriester zu Kardinal König zu gehen oder in die Diözese St. Pölten. Ersteres brachte ich nicht fertig, weil ich nie Priester
geworden wäre, um als Einzelkämpfer in der Welt zu stehen. So bin ich 1969 nach Geras übergetreten und bekam die Führung der Wirtschaft des Klosters anvertraut. Mit einem Tag die Woche · der
Provisortag war Donnerstag · wollte ich diesen Wirtschaftsbetrieb führen und den Rest der Wissenschaft widmen. Aber wie so oft im Leben: Der Mensch denkt, Gott lenkt. Ich sah die Gebäude leerstehen
und daß deren Erhaltung die größte Hypothek für ein Kloster ist, und so war mir klar, daß ohne Inhalt für diese die Sanierung und Erhaltung kaum möglich ist. Da kam die Idee, sie für Kunst und für
sinnvolle Freizeitgestaltung zu öffnen; 1970 konnten wir im Neugebäude des Stiftes den ersten Hinterglasmalkurs durchführen. 1971 kamen Kurse für Bauernmalerei dazu, Restaurierung, Schießscheiben,
Ikonenmalerei und Zeichnen und Malen mit Fritz Itzinger.

So entwickelte sich ein ganzes System, das Geras bis heute in der Welt bekannt macht, und über diese Kursveranstaltungen kamen neue Notwendigkeiten. Die Abwanderung im Waldviertel ist immer noch
dramatisch, und ich habe meinen Mitbrüdern gegenüber unsere Mitverantwortung für die Mitmenschen in einer Region signalisiert. Es war damals unerhört schwer, weil niemend mehr daran glauben konnte,
daß die Grenze eines Tages fällt. 1980 wurde das Hotel und Stiftsrestaurant „Alter Schüttkasten" eröffnet, da haben mich manche für verrückt erklärt, doch mir war · auch dank meines Doktorvaters in
Rom, der sagte, jedes totalitäre System ist nach spätestens 90 Jahren kaputt-gegangen · klar, daß der Stacheldraht bereits rostet. So wurden mit großem Optimismus und vielen Schulden jene
Einrichtungen geschaffen, die Geras heute auszeichen und zu einer Drehscheibe im Fremdenverkehr machen. Wir haben zu Stift und Schüttkasten den Meierhof für die Kurse eingerichtet und von 1992 bis
1997 auch das ehemalige Frauenkloster Pernegg mit einem Aufwand von 140 Millionen neugestaltet. Damit haben wir jetzt fast 300 Fremdenbetten. Das sind viele Arbeitsplätze, aber auch große Sorgen, und
ich bin dankbar, daß uns viele geholfen haben · auch seitens der Regierung ·, und ich hoffe, daß ich alle Konzepte für Geras vollenden kann. Ich bin seit 1986 Abt des Klosters, und als solcher habe
ich eine große Familie von Mitbrüdern bekommen. Es gibt seit 1989 eine Neugründung (der Prämonstratenser) in Fritzlar bei Kassel · Diözese Fulda ·, und wir haben zwei Mitbrüder in der Mission in
Brasilien in San Salvador de Bahia, die wieder sechs junge Mitbrüder aufnehmen konnten.

„W. Z.": Was die Bildung betrifft, ist in diesem Kloster wohl der Etruskologe Ambros Josef Pfiffig Hauptdiskussionspartner · ein auch in Italien ausgebildeter Universitätsprofessor, der auch für
Kursteilnehmer Geschichten à la Umberto Eco erzählt. Was für Vorteile bietet eine Gemeinschaft von Chorherren noch?

Angerer: Wenn Pfiffig angesprochen ist, muß ich sagen, für mich ist diese Persönlichkeit neben der Tatsache, daß er ein weltbekannter hervorragender Wissenschafter und mein Gesprächspartner ist,
bedeutsam, weil er der Traditionsträger des Klosters ist. Er erzählt uns jene Begebenheiten, die in keinem der Bücher aufgezeichnet werden konnten. 1927/28 kam er ins Kloster, da gab es noch
Mitbrüder, die Geschichten erzählten aus dem Jahr 1840 · also bis 1840 ist er der geschichtsträchtige Überlieferer der Geschichte des Hauses. Wir haben aber auch noch andere Persönlichkeiten wie den
Kräuterpfarrer Weidinger, der wichtige Dinge abdeckt. Das alles kann aus dem Kloster herauswachsen. Jeder kann seine Urtalente frei von Sorgen für den Alltag entwickeln, weil andere da sind und das
Kloster Sicherstellung bietet. Ich sehe gerade den Beitrag des Kräuterpfarrers auch insofern wichtig, weil wir durch ihn unsere Landwirtschaft rechtzeitig umstellten. Wir haben eine besonders
wertvolle Fischzucht, die auch biologisch betrieben wird, und wir zeigen auch in der Forstwirtschaft, wie man manches auf neusten Stand bringen kann. Von unseren Nachbarn werden wir zuweilen
nachgeahmt.

„W. Z.": Die Hobbykurse haben sich zu einer Art Akademie gewandelt, Geras könnte auch ein Ort für Tagungen werden, außerdem ist mit Elisabeth Schaumbergers renommierter „Neuer Galerie" ein
Kulturfaktor von Wien nach Geras übersiedelt.

Ein Kloster für alle

Angerer: Die Öffnung des Klosters für alle, auch für diejenigen, die Schwierigkeiten mit der Kirche haben, hat gezeigt, daß sich die Menschen bei uns geborgen fühlen. Geborgenheit ist
Ausdruck von Glaubwürdigkeit, und wenn das ein Kloster ganzheitlich vermittelt, ist das eine wichtige Botschaft an die heutige Zeit. Eine Kunstschule wäre mein größter Wunsch, die europaweit
vermutlich einmalig wäre. Um Qualifikationen geben zu können, müßte man ganzjährig den Betrieb führen, Kunsttheorie einbringen und nach einem bewilligten Lehrplan vorgehen. Das ist noch ein weiter
Weg. Eine zweite Sache ist uns durch Pernegg zugewachsen: Immer mehr Menschen brauchen seelische Hilfe. Da gibt es jetzt ganzjährig ein Fastenzentrum, weil die Erfahrungen der alten Religionen und
der Klöster den Menschen helfen können, den eigenen Körper besser zu behandeln. Aber nach wie vor gibt es freie Räumlichkeiten, in die ein Zentrum kommen soll, das sich professionell therapeutisch
der Sorge der Menschen und ihrer Seelen widmet. Geras wäre dann ein Kloster auf der Höhe der Zeit auch für junge Menschen, und dabei wäre der Region geholfen. Es gibt auch Möglichkeiten,
Ausstellungen in Burgen und Schlössern und Konzerte wie das Kammermusikfestival in Altenburg zu besuchen und aufs ganze Land verstreute Veranstaltungen.

Dazu gibt es eben die „Neue Galerie", die eine der Spitzengalerien Österreichs ist. Der Impuls, der von Geras ausgeht, hat für alle Mitmenschen so viele Vorteile, daß es geradezu eine Bildungslücke
wäre, hätte man uns noch nicht im Waldviertel besucht.

„W. Z.": Sie spielen neben all diesen Tätigkeiten selbst Klavier und Orgel, welche Vorlieben in der Musik haben Sie?

Angerer: Auf der Orgel spiele ich in der Hauptsache Bach, das ist das „Täglich Brot", es gibt auch herrliche Werke von Händel, doch zu diesen braucht man ein Orchester. Am Klavier spiele ich nur
mehr jene Musik, die für mich Erholung und Freude bietet. Wenn ich für Zuhörer improvisiere, kann ich zwar ganz gut barock imitieren, aber meine Sprache ist die Sprache der Moderne. In ihr kann ich
meine Empfindungen ausdrücken.

Anfragen über die Sommerakademie und andere Veranstaltungen im Kloster Geras über: Kunst und Bildungszentrum Stift Geras, Kursbüro, Hauptstraße 1, 2093 Geras, NÖ, Telefon: 0 29 12/34 52 89.
Über das Seminar- und Fastenzentrum Kloster Pernegg: 3753 Pernegg, Telefon: 0 29 13/614-0, Fax: 0 29 13/614-300.

Freitag, 04. Dezember 1998

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