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Die Füße des Herrn im Tor der Götter

Als Zeuge bei der „Kumbha Mela", der rituellen Waschung von Millionen Indern im Ganges
Von Marc Jongen

R ishikesh, 13. April 1998, 9 Uhr

abends. Der Zug nach Haridvar

ist bereits zum Bersten voll, und noch immer will der Zustrom der Pilger nicht abreißen. Unter aufgeregtem Geschrei schieben sie einander in die Waggone, viele scheinen ihr gesamtes Hab und Gut auf
dem Kopf zu balancieren. Drinnen bilden Menschen und Gepäck ein kaum unterscheidbares Konglomerat. Die Person regrediert zur Fracht, aber der heilige Zweck heiligt auch die Verkehrsmittel: Es ist
Vorabend zu Mesh Sankranti, dem Höhepunkt der Maha Kumbha Mela, des größten und bedeutendsten Hindu-Festes, das nun schon über drei Monate andauert. Jupiter steht im Wassermann, und in
wenigen Stunden wird · nach indischer Berechnung, die den siderischen Tierkreis benutzt · die Sonne in das Sternzeichen Widder eintreten. Dann erhöht sich noch einmal die karmatilgende Kraft von
Mutter Ganga und damit ihre Anziehung auf erlösungshungrige Pilger.

Seit Tagen strömen Hunderttausende aus allen Teilen des Subkontinents in die heilige Stadt Haridvar (wörtlich: „Tor der Götter"), um sich im heiligen Fluß Ganges rituell zu reinigen. Erst in zwölf
Jahren wird sich diese Gelegenheit wiederholen, nachdem die Kumbha Mela im Dreijahresrhythmus durch die Städte Allahabad, Ujjain und Nasik nach Haridvar zurückgewandert sein wird.

Unter anderen Umständen hätten wir kehrt gemacht und nach humanerem Transport Ausschau gehalten, doch alle Zufahrtsstraßen wurden großräumig für den Personenverkehr gesperrt. Die laut Guinness- Buch
der Rekorde weltweit größte Zusammenkunft von Menschen (zu ein und demselben Zweck) flößt selbst indischen Organisatoren Respekt ein. Es bleibt also der Zug. Die Tür des einzigen Waggons, der noch
ohne Zerquetschungsgefahr betreten werden kann, öffnet sich, nachdem ein hilfreicher Polizist kräftig mit dem Gewehrschaft dagegen- gestoßen hat. Zum Vorschein kommt das angsterfüllte Gesicht des
Schaffners, dessen Widerstand gebrochen ist. Wir stürmen hinein, schon ganz infiziert von der seltsam aufgeladenen Stimmung um uns herum, deren Anlaß ein Uninformierter wohl eher in irgendeiner
Katastrophe vermuten würde. Er hätte damit nicht einmal unrecht: Es ist die Katastrophe der (Wieder-)Geburt, der diese von Armut und Entbehrung gezeichneten Menschen nach uralter indischer Tradition
zu entfliehen hoffen.

Fußabdruck von Vishnu

Als nach schier endlosem Warten in gekrümmter Körperhaltung der Zug endlich abfährt, weiß ich · ohne eigens Interesse bekundet zu haben · schon erstaunlich viel über meine beiden
Reisebekanntschaften. Monique, eine allem Paranormalen zugetane Australierin, die den Großteil des Jahres in der heiligen Stadt Varanasi ein sogenanntes Aussteigerleben führt, kam auf einen
Kurzbesuch zur Kumbha Mela · „to feel the energy", wie sie sich ausdrückt. Leonardo aus Bologna scheint vor allem das billige und leicht zu habende Haschisch nach Indien geführt zu haben, von dem er
in seinem Leben ganz offensichtlich schon zu- viel geraucht hat. In den Kumbha-Mela-Trubel geriet er rein zufällig, und er hat dafür, wie für alles Indische, nur zornige Verachtung übrig. Fast alle
„Westler", auf die man hier trifft, sind in irgendeiner Weise Randexistenzen der modernen Zivilisation, Gescheiterte und Ausgestoßene der westlichen Welt.

Als der Zug eine Station vor Haridvar aus unerfindlichen Gründen nicht mehr weiterfährt, · für die rund 20 km lange Strecke hat er über zwei Stunden gebraucht ·, setzen wir unsere Reise zu Fuß
fort. Es gibt jetzt nur noch eine Marschrichtung in Haridvar: von den Außenbezirken zum Tempelbezirk am Ganges, dem Har-ki-Pairi (wörtlich: „Füße des Herrn"), wo Gott Vishnu einen Fußabdruck
hinterlassen hat. Dies gilt als der exakte Ort, an dem der Ganges den Himalaja verläßt und in die Ebene eintritt. Hier und nirgendwo anders wollen Hunderttausende in den entscheidenden Stunden ihr
heiliges Bad verrichten, was in der Vergangenheit schon des öfteren zu Massenpaniken mit zahlreichen Toten und Verletzten geführt hat. Man spürt förmlich den magnetischen Sog, der von dieser Stelle
ausgeht, und begreift, daß es kein freier Willensentschluß ist, der die Pilger dorthin zieht.

Je näher wir dem Epizentrum des Geschehens kommen, desto dichter wird der Menschenstrom. Geleitet wird er von einem Heer von Polizisten, die an allen neuralgischen Punkten der Stadt Straßensperren
errichtet haben. Durchlaß gibt es jeweils nur in eine Richtung, und jeder Versuch einer Zuwiderhandlung löst sogleich ein aggressives Konzert aus einem Dutzend Trillerpfeifen aus, das eine sofortige
Umkehr ratsam erscheinen läßt. Ausländer genießen zwar eine bevorzugte Behandlung, doch indischen Polizisten liegt der Schlagstock generell locker in der Hand. Auch ohne die Möglichkeit, die Menge
der Pilger auf einen Blick zu überschauen, teilt sich deren gewaltige Anzahl dem Besucher mit. Von 75 „lakhs", siebeneinhalb Millionen, werden die Zeitungen tags darauf sprechen, doch wer will das
schon überprüfen in einem Land, in dem selbst Zahlen mythische Größen sind.

Bei einem der zahlreichen „Cay-Shops" · das Wort ist ein arger Euphemismus · legen wir einen letzten Halt ein. Zu meiner und Moniques Erleichterung verläßt uns Leonardo, wortlos und mit finsterer
Miene. Der Cay, dieses meist viel zu süße Gebräu aus schwarzem Tee, Büffelmilch und einer 100mal aufgegossenen Gewürzmixtur, überall im ganzen Land am Straßenrand auf primitiven Gaskochern
erhitzt, in henkellosen Gläsern serviert und zumeist im Stehen getrunken, liefert gleichsam den „Geschmack" Indiens. In ihm hat sich die bunte hinduistische Götterwelt, die süßlichen Bilder Krishnas
und Radhas, Ramas und Sitas, zum Aroma sublimiert. Über alle ethnischen, sprachlichen, ja selbst religiösen Divergenzen hinweg stiftet er so etwas wie den kulturellen Minimalkonsens aller Inder.

Magischer Moment

Etwa eine halbe Stunde nach Mitternacht erreichen wir die entscheidende Stelle am Ganges. Der heilige Ernst, mit dem die Menschen ihre Waschungen in den schnell dahineilenden Fluten verrichten,
steht in eigenartigem Kontrast zur scheinbaren Alltäglichkeit ihrer Handlung. Das künstliche Licht der Scheinwerfer und die fast unnatürliche Stille verleihen der Szene einen zusätzlich surrealen
Aspekt. Und da ist er, jener magische Moment, den alle echten Indien-Fahrer suchen, jener „Kick", der den „Touristen" verwehrt bleibt, da sie an der Oberfläche des Geschehens haften bleiben, an dem
Elend, der Armut und dem Schmutz, aber auch an den „Sehenswürdigkeiten" des Landes. Eben diese Oberfläche lichtet sich mit einem Mal, der „Schleier der Maya" zerreißt und gibt den Blick frei auf die
darunter- liegende mythische Substanz, auf die Seele Indiens. Haridvar ist nicht länger eine Stadt mit soundso vielen Einwohnern, an dem und dem Breiten- und Längengrad gelegen, mit einer in diese
oder jene Korruptionsaffäre verwickelten Regierung, sondern es ist nun im wahrsten Sinn des Wortes ein „Tor zu den Göttern". Die Wasser der Ganga sind nicht länger H2O, gemischt mit
allen möglichen Schadstoffen (hier am Oberlauf des Ganges halten sich letztere tatsächlich noch in Grenzen), sondern sie sind Amrit, der Nektar des ewigen Lebens.

Nach der mythischen Quirlung des Milchozeans entstieg ein Topf · Kumbha, der Namensgeber des Festes · voller Amrit den Fluten. Im darauffolgenden Streit zwischen Göttern und Dämonen um das
Lebenselixier fielen vier Tropfen davon auf die Erde · eben auf jene vier Orte, die der Kumbha Mela abwechseld als Schauplatz dienen. Und da dieser Titanenkampf zwölf Tage lang dauerte, ein Göttertag
aber einem Menschenjahr entspricht, wird das Fest alle zwölf Jahre begangen.

Ein Polizist heißt uns, unseren Aussichtsplatz zu verlassen. Alles muß in Bewegung bleiben, jeder Menschenstau könnte rasch gefährlich werden und wird deshalb schon im Ansatz aufgelöst. Also weiter
in die Stadt hinein. Vor uns geht eine Gruppe fast zwergenhaft kleiner Frauen. „Allah tero naam, Ishvara tero naam" singen sie mit kindlich hohen Stimmen: „Allah ist dein Name, Ishvara ist
dein Name." Hier im einfachen Volk ist das Bewußtsein um den gemeinsamen mystischen Kern der Religionen noch lebendig, in dem die berühmte religiöse Toleranz der Inder wurzelt und an dessen
Zerstörung Fundamentalisten muslimischer wie hinduistischer Färbung derzeit so eifrig arbeiten. Überhaupt sieht man fast nur einfache Leute auf der „letzten Kumbha Mela dieses Jahrtausends";
Dorfbewohner, bei denen die Tradition noch ungebrochen ist. Der in Indien inzwischen recht ansehnliche Mittelstand ist kaum, die westlich gebildete Oberschicht gar nicht vertreten.

Die Nacht ist ausgefüllt mit unvergeßlichen Bildern, Stimmungen, Gruppen von Pilgern, die sich an allen möglichen und unmöglichen Orten zusammenkauern, in Decken und Lumpen gehüllt der frischen Brise
aus den Bergen trotzend. Und immer wieder Sadhus. Die entweder orangefarben gekleideten oder vollkommen nackten „heiligen Männer Indiens" sind die eigentlichen Protagonisten der Kumbha Mela. Zu
keiner anderen Gelegenheit findet man so viele von ihnen an einem Ort versammelt. Unter der Patronanz ihrer Gurus kampieren sie in weitläufigen Zeltstädten, die die Regierung im Umland Haridvars für
sie errichtet hat. Ein Baba · so die gängige Anrede für einen Sadhu, mit „Pater" übersetzbar, wenn dies auch völlig falsche Assoziationen weckt ·, den ich vor einigen Tagen in seinem Zelt
besuchte, faßte mir das Lebensmotto der Wanderasketen folgendermaßen zusammen: „Cay, Chillum, Capati."

Vom Cay war bereits die Rede. Chillum ist die dem Gott Shiva geweihte Haschischpfeife, und Capati ist das Fladenbrot, das bei keiner indischen Mahlzeit fehlen darf. Auch bei geringer
Sympathie für psychoanalytische Erklärungen fällt es schwer, hier keine orale Fixiertheit zu konstatieren. Dennoch wäre es ungerecht, die indische Mystik insgesamt als regressives Nuckeln an einer
gewaltigen göttlichen Mutterbrust abzutun. Von den geschätzten 15 Millionen „heiligen Männern" in ganz Indien · ein verschwindender Prozentsatz „heiliger Frauen" ist auch unter ihnen · können beim
besten Willen nicht alle heilig sein. Ein Großteil davon sind Landstreicher, einfache Bettler, Gaukler oder Scharlatane, die die Gutgläubigkeit des Volkes ausnützen. Eine weiterer Teil widmet sich
fragwürdigen spirituellen Praktiken · von exzessivem Drogenkonsum über jahrelanges Stehen auf einem Bein oder Hochhalten eines Armes bis hin zum Sex mit Leichen ·, die der Buddha bereits vor 2.500
Jahren als der Erleuchtung undienlich verworfen hat. Wenn aber auch nur 15 unter ihnen sind, die so etwas wie Heiligkeit verkörpern, nämlich die Anwesenheit des Überweltlichen in der Welt, dann
rechtfertigen diese 15 · so auch die stillschweigende Übereinkunft in Indien · die Existenz der 15 Millionen.

Parade der Sadhus

Trotz Kälte und Müdigkeit in den Gliedern harren wir also aus und warten auf die große Parade der Sadhus. Von einer Autobrücke aus, die heute ganz den Fußgängern gehört, überblicken wir das
Geschehen. Auch jetzt noch, im dämmrigen Morgenlicht, pferchen sich unabsehbare Pilgerscharen durch die eigens errichteten, kilometerlangen Holzgatter. In Schüben werden sie über mehrere Brücken zum
zentralen Badeort vorgelassen. Monique zeichnet alles auf mit ihrer High-Tech-Videokamera, die so gar nicht zu ihrem Hippie-Outfit paßt. Gegen 10 Uhr, endlich, erscheinen die Sadhus. Allen voran die
Naga-Babas: nackte, mit Asche beschmierte Vertreter der hinduistischen Kriegerorden. Einst kämpften sie gegen die in Indien einfallenden Muslime, später gegen die Briten, und noch heute sind
sie, ganz entgegen dem Klischee indischer Gewaltlosigkeit, wegen ihrer Aggressivität gefürchtet. Die Novizen sind kahlgeschoren, den Älteren reicht das verfilzte Haar oft bis unter das Gesäß.

Die scheppernden Lautsprecherdurchsagen der Organisatoren verleihen der nicht enden wollenden Naga-Baba-Prozession ein zusätzlich martialisches Gepräge. Der scheinbaren Wahllosigkeit des archaischen
Aufmarsches liegt ein genau festgelegtes Reglement zugrunde: Eifersüchtig wachen die einzelnen Orden, Akharas genannt, über ihren traditionellen Rang in der Reihenfolge des Badens. Die Sonne
brennt bereits in hochsommerlicher Hitze vom Himmel, als sich die friedlichen Sadhuorden in ihren orangen Roben zum heiligen Bad begeben. Das Gefühl wird übermächtig, einem eigentlich schon
vergangenen Ereignis beizuwohnen, das sich nur gleichsam aus Versehen in die Gegenwart verirrt hat. Bedeutet nicht schon die überall plakatierte Ankündigung „letzte Kumbha Mela dieses Jahrtausends"
eine Unterhöhlung deren mythischer Zyklizität? Wie steht es um die Heiligkeit eines Ereignisses, das zeitgleich im Internet dokumentiert wird? Kann ein sich selbst kasteiender Asket die Gunst der
Götter noch erzwingen, während ihn womöglich ein amerikanischer Spionagesatellit im Visier hat? Wie zur Bestätigung dieser Bedenken geht kurz nach meiner Rückkehr aus Indien die Nachricht von den
indischen und pakistanischen Atomtests um die Welt. „Sanatana Dharma" · ewige Ordnung, ewige Wahrheit · nennen die Inder ihre Religion. · Ihr Wort in Gottes Ohr.

Von Marc Jongen, in Südtirol als Philosoph, Indologe und Journalist lebend, ist im Diederichs-Verlag („Gelbe Reihe") heuer das Buch „Das Wesen spiritueller Erkenntnis · Eine Reise ins Innere
des Geistes" erschienen.

Freitag, 04. Dezember 1998

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