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Was von den Toten übrig blieb

Die Künstlerin Teresa Margolles befasst sich auf provokante Weise mit Verstorbenen

"Catafalco"/"Katafalk" (1997) – Gipsabdruck von einem Toten. Fotos: Museum für moderne Kunst, Frankfurt am Main

Von Klaus Werger

Ein leerer Raum – das ist die Installation "Aire" ("Luft", 2003) der mexikanischen Künstlerin Teresa Margolles. Nur zwei Geräte zur Luftbefeuchtung befinden sich im Raum. Noch befremdlicher als der Minimalismus ist die Tatsache, dass die Luftbefeuchter mit Wasser betrieben werden, mit dem Leichen gewaschen wurden. Ein Schock für manche Besucher. Das Kunstobjekt – wenn man es unbedingt definieren will – ist die (befeuchtete) Luft im Raum, wie der Titel sagt.

In vielen Werken der 1963 geborenen Künstlerin finden sich Materialien, die mit Toten in Berührung gekommen sind. Teresa Margolles stellte ein Leichentuch aus, nahm Gipsabdrücke von Verstorbenen, stellte mit dem Abwasser von Totenwaschungen Seifenblasen her und rührte Beton für plastische Objekte an. Oder sie befeuchtete eben damit die Luft in einem Raum.

Die Verknüpfung von Kunst und Leiche stößt verständlicherweise auf Ablehnung. Allein schon weil die Körperlichkeit eines Toten ein Gefühl auslöst, das aus Ehrfurcht und Ekel gemischt ist, und darauf drängt, Abstand zu halten. Die spontane Kritik an Teresa Margolles hat meist darin ihren Ursprung.

Eine Szene in Michel Houellebecqs Roman "Plattform" liest sich wie eine Karikatur auf das Schaffen von Teresa Margolles. Ein Künstler erschreckt bei der Vernissage sein Publikum dadurch, dass von ihm beauftragte Personen präparierte Leichenteile hervorholen und präsentieren. Dazu läuft das Video über eine universitäre Sektion. Auch sonst gibt es in dem Buch Seitenhiebe auf die Gegenwartskunst, der pauschal Weltfremdheit und Belanglosigkeit vorgeworfen wird.

Mexikanische Ursprünge

Wer diese Kritik auf die Arbeit von Teresa Margolles übertragen wollte, müsste dabei in jedem Fall berücksichtigen, dass die Unbefangenheit gegenüber Tod und Toten in ihrer Heimat Mexiko kulturell verwurzelt ist. Auf den Außenstehenden wirken manche mexikanische Traditionen makaber. In der Volkskunst sind Skelettfigürchen aus Holz, Ton, Gips und anderen einfachen Materialien verbreitet, die ausgesprochen niedliche und lustige Züge haben, z. B. Totengerippe als Braut und Bräutigam, auf dem Fahrrad oder als Klischeemexikaner mit Sombrero. Zu Allerheiligen und Allerseelen gibt es für die Kinder Totenschädel aus Zuckerguss oder Marzipan, für den 2. November werden farbintensive Blumendekorationen hergestellt. Die Familie hält ein heiteres Mahl, an dem die verstorbenen Mitglieder im Geiste der Lebenden teilnehmen. Der Ursprung des Brauchtums ist umstritten. Möglicherweise geht er auf vorkolumbianische Vorstellungen der Indios zurück, nach denen nicht der Tod, sondern (nach leidvollen Erfahrungen) das Leben als Übel aufgefasst wird. (Siehe dazu auch Seite 6 in diesem "extra".)

Die Werke von Teresa Margolles setzen die Reihe der großen Tabubrüche in der zeitgenössischen Kunst fort. Die Provokation spielt sich allerdings auf einer anderen Ebene als etwa bei Hermann Nitsch ab. Die Verstörung wird in der Regel nicht durch unmittelbare Anschauung der Objekte hervorgerufen, sondern von den dazugehörigen Informationen (Texttafeln in der Ausstellung, Medienberichte). Erst durch sie erfährt der Betrachter, dass er Spuren von Toten vor sich hat. Entscheidend ist das, was er nicht sieht bzw. das, was in ihm vorgeht.

Die Ästhetik der Arbeiten ist von klaren, strengen Formen und einem Minimum an Gestaltung geprägt. Eine Atmosphäre der Ruhe geht von ihnen aus. Udo Kittelmann, Direktor des Museums für moderne Kunst in Frankfurt/Main, scheute sich nicht, bei der Eröffnung der weltweit ersten großen Einzelausstellung 2004 den Begriff "schön" zu verwenden. Er dachte also in einer Kategorie, die im Zusammenhang der Gegenwartskunst allenfalls von untergeordneter Bedeutung ist.

Der Umgang mit Toten ist Teresa Margolles durch ihren Zweitberuf als gerichtsmedizinische Assistentin in einem Leichenschauhaus vertraut. In der Gerichtsmedizin geht es um Fälle unnatürlichen Todes, Opfer von Unfällen und Gewaltverbrechen, Drogentote. Durch ihre Tätigkeit in diesem Bereich war die Künstlerin mit den Problemen der mexikanischen Gesellschaft konfrontiert. In Mexico City, wo sie arbeitete, kommt es nicht selten vor, dass niemand mehr nach einem Verstorbenen fragt. Die Landflucht hat viele Menschen entwurzelt, sie leben anonym und sterben anonym in der 22-Millionen-Metropole. In manchen Fällen können die Angehörigen die Bestattungskosten nicht aufbringen.

Entgegen der Redensart macht der Tod durchaus nicht alle gleich. Jedenfalls nicht sofort. Was mit einem Leichnam geschieht, steht im Kontext der gesellschaftlichen Wirklichkeit, so Teresa Margolles. Ihre Werke können schockierend wirken. Schockiert ist aber vor allem die Künstlerin selbst. Sie will ihre Arbeiten als Kritik an den Zuständen verstanden wissen. Besonders eindrücklich ist ihre Haltung in den "Secreciones en el Muro" ("Absonderungen auf der Mauer", 2002). Bei den "Absonderungen" auf der 20 × 5,5 m großen Wandfläche handelt es sich um menschliches Fett, das bei Schönheitsoperationen abgesaugt wurde. Damit wird die hässliche Seite der Luxusschlankheit bloßgestellt, ihr Zynismus angesichts des Elends namentlich in der Heimat der Künstlerin. Die gesellschaftskritische Ausrichtung wird in den Äußerungen von Margolles und in vielen Urteilen über sie greifbar. Wohlmeinende Kritik entsprignt wohl der Absicht, die makabere Anstößigkeit der Werke durch die ehrenhafte Absicht der Künstlerin zu rechtfertigen.

Das soziale Anliegen hat verschiedene Akzente im Werk der Künstlerin. "Papeles" ("Papiere", 2003) sind in regelmäßigen Reihen gehängte Papierbögen in der Farbe getrockneten Blutes. Die Blätter wurden mit jener Flüssigkeit getränkt, die bei der Reinigung des Körpers nach einer Obduktion ablief. Ein Bogen geht auf jeweils eine obduzierte Person zurück. "Papeles" sind für Teresa Margolles ein Stück Trauerarbeit. Wie auch andere ihrer Werke verleihen sie den Verstorbenen Präsenz – wenngleich in anonymer Form.

Ethische Probleme

Nach dem Willen von Teresa Margolles soll die Problematik der armen Länder in den Metropolen der Welt gegenwärtig bleiben – durch Ausstellungen ihrer Arbeiten in Barcelona, Madrid, Lyon, Paris, Zürich, Wien, Frankfurt, Berlin, Los Angeles, New York. Bei dem starken Mitgefühl der Künstlerin für die namenlosen Toten verwundert es allerdings, dass einzelne Arbeiten ethisch nicht unbedenklich sind. Anstoß erregte z.B. das 2003 in der Kunsthalle Wien gezeigte Video, das die Entstehung von "Entierro" ("Begräbnis", 1999) dokumentiert. Die Künstlerin goss eine Fehlgeburt, die sonst als medizinischer Abfall (!) behandelt worden wäre, in einen Betonblock ein und stellte so ein mobiles Grab her. Die Mutter war damit einverstanden, stand aber insofern unter Druck, als sie eine reguläre Bestattung nicht hätte bezahlen können. In einem anderen Fall erhandelte die Künstlerin von mittellosen Eltern mit der Finanzierung einer Bestattung das Recht, die gepiercte Zunge ihres getöteten Sohnes als Objekt auszustellen ("Lengua" / "Zunge", 2000).

Als die erwähnte Werkschau in Frankfurt eröffnet wurde, konnte man beobachten, dass Gäste, die dem Anlass entsprechend gut gelaunt eingetroffen waren, unter den herabschwebenden Seifenblasen aus Leichenwaschwasser stiller und ernster wurden (Installation "En el aire" / "In der Luft", 2003). Wenn eine Seifenblase auf der Haut zerplatzt, gerät der Besucher in Berührung mit einem Stoff, der auch schon Tote berührt hat. Man müsste schon ein gehöriges Verdrängungspotential aufbieten, um bei dieser Gelegenheit nicht an den eigenen Tod zu denken. In "Aire" ist der Zuschauer ganz von einer solchen – wenn auch desinfizierten! – Substanz umgeben. Er atmet sie als Feuchtigkeit in der Luft sogar ein. Die Kunst der Teresa Margolles drängt dazu, sich der eigenen Vergänglichkeit innezuwerden. Ihre starke Wirkung lässt sich nicht allein mit ihrem gesellschaftlichen Bezug erklären, auch wenn dieser das erklärte Anliegen der Künstlerin ist. Auffälligerweise spielt in ihren Stellungnahmen – bei aller Nähe zu den Toten – der Tod selbst keine Rolle.

Memento mori

Die Feststellung, dass der Mensch sterblich ist, verliert ihre Trivialität, wenn sie auf die eigene Person bezogen wird. Gerade diese Reflexion wird gern vermieden. Die Todesvergessenheit unserer Gesellschaft ("Verdrängung", "Tabuisierung") ist oft konstatiert worden. Es ist erstaunlich, dass bei so viel Offensichtlichkeit Verdrängung überhaupt möglich ist. Ferner, dass es besonderer Momente bedarf, die gewohnte Amnesie aufzubrechen. Etwa Erfahrungen mit der Anfälligkeit und Hinfälligkeit des eigenen Körpers, Erlebnisse im persönlichen Umfeld, religiöse Vollzüge, Stellen aus der Literatur oder Philosophie. Oder eben Werke der bildenden Kunst. Die Objekte der Teresa Margolles erfüllen die Funktion eines memento mori ("gedenke, dass du stirbst"). In der Vergangenheit waren Hinweise auf die Begrenztheit der Lebenszeit selbstverständlich. Die Darstellungen von Totenschädeln sind ein Beispiel dafür.

Große Bedeutung kommt dem memento mori in den religiösen Traditionen zu. Das Aschenkreuz, das in den katholischen Kirchen am Aschermittwoch ausgeteilt wird, wirbt zu Beginn der österlichen Bußzeit (Fastenzeit) mit seinem Hinweis auf die Vergänglichkeit für eine Umbzw. Neuorientierung im Leben. Die körperliche Berührung mit einem Stoff, der von Vergänglichkeit zeugt, hat überraschende Ähnlichkeit mit den Installationen "Aire" und "En el aire". Eine Steigerung ist die Praxis von Hindu-Asketen, den ganzen Körper mit Asche einzureiben. Die Gruppe der Aghori verwendet dazu sogar die Rückstände verbrannter Leichen.

Sich den Bildern von Teresa Margolles auszusetzen, kann die Bedeutung eines Ritus haben – ein Stück religionsloser Religiosität in Zeiten, in denen zumindest in Europa die Religiosität schwindet. Die Kunst der Mexikanerin kann schockierend wirken, ist aber mehr als ein bloßer Schockeffekt. Gewiss nicht jedem zugänglich, behandelt sie doch ein Thema, das jeden betrifft.

Klaus Werger , geboren 1957, unterrichtet katholische Religion, Philosophie und Latein an einem Gymnasium. Er lebt in Worms und veröffentlicht Aufsätze zu religiösen und geschichtlichen Themen.

Freitag, 28. Oktober 2005

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