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Bordell neben Gräbern

Auf Pariser Friedhöfen sind viele Prominente bestattet – Ein Rundgang

  Das Grab von Oscar Wilde (Friedhof Père-Lachaise, links) und das Doppelgrab Sartre/de Beauvoir (Montparnasse).

Das Grab von Oscar Wilde (Friedhof Père-Lachaise, links) und das Doppelgrab Sartre/de Beauvoir (Montparnasse).

Mit Fotos und Devotionalien aller Art versehen: das Grab des Popsängers Serge Gainsbourg (Montparnasse).

Mit Fotos und Devotionalien aller Art versehen: das Grab des Popsängers Serge Gainsbourg (Montparnasse).

Von Hans-Jürgen August (Text und Fotos)

Was haben Samuel Beckett und Heinrich Heine, der in Brüssel geborene Argentinier Julio Cortázar und der aus Dublin stammende Oscar Wilde gemein? Was vereint den aus der rumänischen Provinz kommenden Gründer der Dada-Bewegung, Tristan Tzara, und seinen Landsmann Constantin Brancusi mit Max Ernst und Amadeo Modigliani?

Sie alle liegen, fern ihrer Geburtsorte, auf Pariser Friedhöfen bestattet. Denn ausländische Künstler haben zusammen mit ihren französischen Kollegen zur Dominanz der Pariser Kultur zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg beigetragen. Diese multinationale Blüte folgte einer Zeit dramatischer politischer wie sozialer Veränderungen. Schon vor der Französischen Revolution hatte ein tiefgreifender Wandel weltanschaulicher und wissenschaftlicher Art begonnen. Diderot und Voltaire trieben die Aufklärung voran, Lavoisiers Theorie der Elemente begründete die moderne Chemie, die Industrialisierung und das Aufkommen des Bürgertums veränderten das Weltbild und verursachten eine Neubewertung von Dies- und Jenseits.

Jahrhunderte lang war es in der christlichen Welt üblich gewesen, die Toten in den umfriedeten Höfen der Kirchen zu bestatten. Auf dem Pariser Friedhof Saints-Innocents etwa begruben 22 Pfarren ihre Toten. Schon 1554 beklagten Mediziner der Universität Paris, ein solcher Leichenberg sei der Gesundheit der Stadtbevölkerung keinesfalls förderlich. Nach offenbar ausgiebiger Prüfung bestätigte 1737 die königliche Akademie der Wissenschaften die Rechtmäßigkeit der ärztlichen Befürchtungen. Seit langen wurde vermutet, dass sich Krankheiten durch "schlechte Luft", sogenannte "Miasmen", ausbreiteten, und Mediziner hatten erkannt, dass nicht üble Ausdünstungen der Erde für Pest und Cholera sorgten, sondern etwas, das von Müll, Kot und verrottenden Leichen ausging.

Tote in den Katakomben

All das akademische Wissen blieb jedoch wirkungslos – obwohl so viele Tote in Saints-Innocents bestattet worden waren, dass das Niveau des Friedhofs zweieinhalb Meter über jenem der Umgebung lag. Selbst dass sich auf dem nahe gelegenen Markt Les Halles, dem "Bauch von Paris", der Geruch von Fisch und Fleisch mit dem verwesender Leichen mischte, ertrugen die Pariser. Es war schließlich der Druck der Toten, der Bewegung in die Sache brachte: 1780 brach eine Mauer des Friedhofs nieder und setzte ein Gemisch aus Erde und halb zersetzten Leichen frei. 1785 wurde die Evakuierung des Friedhofs beschlossen.

So spät Paris auf das Bevölkerungswachstum und die Erkenntnisse der Hygiene reagierte, so radikal wurde das neue Bestattungskonzept umgesetzt. Zwischen 1787 und 1814 wurden alle Kirchhöfe geräumt und die Überreste von sechs Millionen Toten in die unter der Stadt liegenden Steinbrüche gebracht. Nahezu jeder, der vor dem Beginn des 19. Jahrhunderts in Paris starb, liegtseitdem in den 350 Kilometer langen Katakomben, unter ihnen auch der Märchensammler Perrault ("Dornröschen"), die Dichter Rabelais und Racine, die Hauptfiguren der Revolution wie Robespierre, Danton, Marat und Tausende ihrer Opfer.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten Adelige die Katakomben als Schauplatz für Feste, und auch das aufstrebende Bürgertum schätzte den Chic von Dîners im Ambiente jenseits der Empire-Meublage ihrer Stadtpaläste. Noch heute herrscht reges, meist illegales Treiben unter den Straßen von Paris; gegen die ortskundigen, oft in Clubs zusammengeschlossenen Anhänger von Partys zwischen säuberlich gestapelten Schädeln haben die städtischen Behörden meist das Nachsehen.

So beliebt bei Touristen der – auch legal mögliche – Besuch der Katakomben ist, so unattraktiv empfanden es die Pariser, ihre Toten weitab der Kirchen und Wohnstätten zu bestatten – auf Père-Lachaise etwa, der 1804 als erster der drei großen neuen Friedhöfe eröffnet wurde. 17 Hektar bot diese Begräbnisstätte, doch zählte sie um 1820 nicht mehr als 2000 Gräber. Die Stadtverwaltung entschloss sich daher zu einer Marketing-Kampagne mit prominenter Unterstützung. 1817 wurden dort die Überreste der Dichter La Fontaine und Molière in auf Sockeln stehenden Sarkophagen bestattet. Auf die romantische Ader des Publikums zielte das neugotische Grabmal ab, in dem das berühmteste Liebespaar des Mittelalters auf ewig vereint liegt: Héloïse und ihr Lehrer, der Mönch Abélard, der zur Strafe für seine Liebe kastriert worden war.

Die Werbeoffensive hatte Erfolg: 1830 fanden sich auf Père-Lachaise schon 33.000 Gräber, bis 1850 folgten sechs Erweiterungen, die dem Friedhof seine jetzige Größe von 44 Hektar gaben, womit er der größte Park von Paris ist – und so groß wie der Vatikanstaat.

Die vom Architekten Brongniard geplante Anlage liegt auf hügeligem Gelände. Den Hauptplatz umgibt eine halbkreisförmige Anhöhe, die mit reich verzierten Grabhäusern besetzt ist, so wie mancher Bergrücken mit Einfamilienhäusern. Völlig unscheinbar ist hingegen die meistbesuchte Ruhestätte – und wäre schwer zu finden, stünden davor nicht College-Pärchen und eine Gruppe kräftiger Männer in schwarzem Leder und mit Baseballkappen. Nicht mehr als ein halbes Jahr lebte Jim Morrison in Paris, voll Hoffnung auf eine Karriere als Schriftsteller. Im Sommer 1971 wurde der erst 27-Jährige in der Badewanne seines Apartements tot aufgefunden. Ähnliche hohe Verehrung genießt Oscar Wilde. Nachdem der Schriftsteller in England wegen Homosexualität zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war, verbrachte er sein letztes Lebensjahr im Pariser Exil. Sein Grabmal mit einem stilisierten, geflügelten Löwen ist übersät mit – in allen Rottönen leuchtenden – Lippenstiftabdrücken Hunderter Küsse.

Père-Lachaise ist nicht nur der älteste der neuen Friedhöfe von Paris, sondern auch der am häufigsten besuchte. Etwa zwei Millionen Menschen kommen jedes Jahr in die Anlage, in der auch die Gräber von Rossini, Chopin und Bizet, von Ingres, Corot, Pissarro, Seurat und Modigliani, Balzac, Apollinaire und Proust, Isodora Duncan, Sarah Bernhardt und Edith Piaf zu finden sind.

Etwa 20 Jahre nach dem ersten modernen Pariser Friedhof wurden zwei weitere eröffnet: jener von Montmartre im Norden und der von Montparnasse im Süden der Stadt. Seit Jahrhunderten schon war der Norden eng mit dem Tod verknüpft. Auf dem Hügel Montfaucon, auch aus größerer Entfernung gut sichtbar, standen seit dem Mittelalter Dutzende Galgen. Konnte man den Blick auf die Scharen Gehenkter auch abwenden, der je nach Windrichtung mehr oder weniger starke Leichengeruch mahnte jeden, sich möglichst unverdächtig zu verhalten. Auch der Friedhof von Montmartre hat eine Vorgeschichte als Totenstatt. In dem früheren Gips-Steinbruch wurden viele Tausende Opfer der Französischen Revolution deponiert. Heute umfasst der 11 Hektar große Friedhof etwa 20.000 Gräber, darunter auch solche von Malern wie Degas, Komponisten wie Offenbach, Schriftstellern wie Dumas, Stendhal und Heine.

Eine weit bedeutendere Rolle aber war im 19. Jahrhundert dem Friedhof von Montparnasse zugedacht. Mit 19 Hektar Fläche bildete er ein zentrales Element in den Plänen von Georges Eugène Baron Haussmann. Der Präfekt von Paris, bekannt für die breiten Boulevards, die er durch das historische Stadtbild schlagen ließ, plante, jenseits der Stadtgrenzen große, durch ein Eisenbahnnetz miteinander verbundene Nekropolen anzulegen – mit Montparnasse als "Zentralbahnhof". Die Vorstellung, mit dem Zug zum Grabbesuch fahren zu müssen, entfachte jedoch einen Sturm der Entrüstung und ließ Haussmanns Pläne scheitern. So gibt sich der Friedhof heute beschaulich und landschaftlich unspektakulär. Wer eine hügelige Grabstätte erwartet, wird enttäuscht.

Friedhof der Philosophen

Als Friedhof des Universitätsviertels links der Seine beherbergt der "Cimetière du Sud" viele Philosophen und Künstler. Seit 1986 liegen Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir in einem schlichten Doppelgrab aus grauem Stein. Als fixe Größen in den gesellschaftlichen Kontroversen der 1960er Jahre waren sie Teil der studentisch-intellektuellen Popkultur jener Zeit. 30.000 Trauergäste begleiteten Sartre auf seinem letzten Weg, noch immer liegen täglich frische Blumen auf dem Grab des Paares.

Ähnlich stark verehrt wie das Grab von Jim Morrison wird jenes von Serge Gainsbourg. Obwohl seine unzähligen Skandale und die meisten seiner Chansons (bis auf "Je t’aime . . . moi non plus" ) im Ausland fast vergessen sind, gilt Gainsbourg in Frankreich als der einflussreichste Popstar, den das Land je hervorgebracht hat. Verständlich, dass sich auf seinem Grab eine Mischung teils skurriler Devotionalien findet – neben Steinen, Métro-Tickets und kleinen Zetteln auch Christbaumkugeln, Teletubbie-Figuren und Plüschtiere.

Von der sprichwörtlichen Nähe zwischen Eros und Thanatos kündete bis in die Nachkriegszeit das Etablissement "Sphinx" gegenüber dem Friedhofseingang. Um bei 1500 Gästen pro Nacht die Zahl der Zwischenfälle und etwaigen anschließenden Transfers in die Friedhofsanlage gering zu halten, verfügte das Edel-Bordell über eine spektakuläre technische Innovation: die erste Pariser Klimaanlage.

H.-J. August , geboren 1961, lebt als Physiker und Autor in Wien.

Freitag, 28. Oktober 2005

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