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Steinerne Lebensbilanzen

Was Grabsteine über die Verstorbenen erzählen
Von Fritz Keller

Wissenschaft klassifiziert alles und jedes - manchmal sogar die (fast) allerletzten Dinge wie Grabinschriften. Das kann nur einem Gelehrten aus Wien eingefallen sein, weil nur hier ein wirklich inniges Verhältnis zum Tod besteht? Falsch geraten. Autor des ersten einschlägigen Buches ist Peter Cardorff - ein Pseudonym, hinter dem sich der Hamburger Peter Kulemann verbirgt. Zum Trost für all jene, die das Todestrieb-Monopol der Wiener gebrochen sehen, sei aber verraten: Dieser Hanseat verbrachte genügend viele Jugendjahre in der Stadt an der Donau, um dem hiesigen Faszinosum "schöne Leich'" erlegen zu sein.

Ausgangsmaterial für Cardorffs Analysen sind 650 Fotos von Gräbern und Grabinschriften, sachkundig fotografiert von der Mitherausgeberin Conny Böttger auf rund 300 Friedhöfen in Deutschland,

Österreich und der Schweiz. So

ist ein Kaleidoskop von denkwürdigen Bildern, Symbolen und Slogans entstanden: Der Fußballer zeigt sich mit seinem über

alles geliebten Leder, der Gescheiterte zieht öffentlich Bilanz: "Der Kampf ist aus. Paul der Verlierer". Oder es heißt: "Rock 'n' Roll forever" . . .

Diese letzten Lebenszeichen teilt Cardorff in verschiedene Kategorien ein, von denen hier nur einige herausragende illustriert werden können: "Sinnenfreuden und Leidenschaften"drücken sich in Grabinschriften wie "Am Aschermittwoch ist alles vorbei . . ." aus. Sätze wie "Wo wir ewig leben finden wir uns wieder mein Mausi!" werden unter "Kundgebungen aus der Beziehungskiste" rubriziert, und der Vers "Hier liegen meine Gebeine / Ich wollte es wären Deine" gehört zu den "Publikumsbeschimpfungen", die auch auf Grabsteinen zu finden sind. Ferner untersucht Cardorff Rauswürfe der Angehörigen aus dem Friedhof, Selbstabrechnungen und Lebensbilanzen, Frei- und andere Ehrentode.

Im Zuge seiner Aufarbeitung macht der Gelehrte dann eine gleicher- maßen unerwartete wie erstaunliche Entdeckung. Überall in deutschsprachigen Landen steigt nämlich die Nachfrage nach dem Inkognito post mortem. In Hamburg lässt sich mittlerweile jeder Vierte anonym bestatten, in Berlin jeder Dritte. Einer der Trendsetter war Karl Markus Michel, bekannt als Herausgeber der Zeitschrift "Kursbuch" und der berühmten weißen Hegel-Ausgabe. Er verfügte testamentarisch, alle seine Manuskripte, Briefe, Fotos zu verbrennen und seine sterblichen Überreste nach der Einäscherung dem Feld der Namenlosen zu überantworten.

Cardorff nennt eine Reihe guter Gründe für den Wunsch, nach dem Tod spurlos zu verschwinden: Man hat der Nachwelt nichts zu sagen. Man findet nicht die geeignete Form für eine Botschaft. Man will den Hinterbliebenen nicht zur Last fallen. Dem Rezensenten scheint jedoch eine andere Begründung naheliegender: Die vereinzelten und entfremdeten Ich-Aktien haben in unserer Gesellschaft oft niemanden mehr, dem sie eine persönliche Visitenkarte ihres Lebens hinterlassen können und wollen. Wie beim Auflassen eines Computer-Betriebssystems alle gespeicherten Informationen für immer verschwinden, müssen die modernen Robotermenschen nach Ablauf der für sie errechneten Haltbarkeitsfrist im Inkognito enden.

Aus welchen Gründen auch immer dieser Trend zur Anonymität entstanden ist - Cardorff ist zuzustimmen, wenn er sich im Nachwort nachdrücklich für selbst entworfene, individuelle Grabmäler einsetzt. Die Arbeit am eigenen Grabstein, meint er, sei eine Herausforderung zur Selbstverständigung, die erhellender sei als die Standard-Frage aus den Promi-Fragebögen, "Wie möchten Sie sterben?" Wer sein Leben lang an seinem Grabstein

arbeitet, dokumentiert nach Cardorffs Ansicht seine Lebensgeschichte auf einzigartige Weise. Ein Ur-Wiener Gedankengang! Oder doch nicht?

Conny Böttger / Peter Cardorff: Mein letztes Wort - Der Grabstein als Visitenkarte. Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2003, 240 Seiten, 650 Abbildungen.

Freitag, 29. Oktober 2004

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