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Todesangst und Sterbekunst

Ärzte, Patienten und das Lebensende -ein historischer Rückblick
Von Barbara Allmann

Splitternackt und enthemmt tanzten sie dort, wo es sich am wenigsten ziemte: am Friedhof. Solcherart demonstrativ freute man sich am Grabe anderer, dass man selbst noch am Leben war. Das heidnische Treiben auf dem makabren Tanzboden wandelte sich jedoch unter dem gebietenden Einfluss der Kirche zur meditativen Innenschau: 1424 entstand der erste gemalte Totentanz auf den Mauern eines Pariser Friedhofs. König, Papst, Bauer und Mädchen tanzten dort mit ihren eigenen Leichen; und mit dem Spiegelbild ihrer Vergänglichkeit, dem Tod, der weder Standes- noch Altersunterschiede kennt.

Der kranke Mensch des Mittelalters sah schon bei geringen Beschwerden den Sensenmann nahen. Mit gutem Grund: Die hygienischen Unzulänglichkeiten, schlecht ausgebildete Ärzte, Seuchen, kriegerische Auseinandersetzungen sowie die niedrige Lebenserwartung reichten aus, um immer das Schlimmste befürchten zu müssen. Der Tod war allgegenwärtig.

Hilfe versprachen sich die armen Kranken von Scharlatanen, Kräuterweiblein und Schutzheiligen. Die wenigen, die es sich leisten konnten, konsultierten einen Arzt, nachdem sie gebeichtet und die Absolution erhalten hatten.

Über die Schwere der verschiedenen Krankheiten war man sich ebenso wenig im Klaren wie über den Zeitpunkt des Todes. Platon hatte sicherheitshalber vorgeschlagen, Begräbnisse erst am dritten Tage nach dem vermeintlichen Todeseintritt durchzuführen. Diese Frist setzte sich generell durch und war im späten Mittelalter die Norm geworden, zumindest bei mächtigen Herrschern, um deren Bestattung viel Pomp (inklusive Einbalsamierung) getrieben wurde.

Der "Schwarze Tod"

Zogen aber die großen Seuchen pandemisch durch das Land, machte man sich wegen der Ansteckungsgefahr daran, ein schnelles Begräbnis zu arrangieren. Still in der Nacht mussten die Verblichenen begraben werden. Um Panikmache zu vermeiden, verbot beispielsweise Herzog Albrecht V. von Österreich 1436 das Läuten der Totenglocken von St. Stephan.

Angesichts dieser kollektiven Todesgefahr versuchten die verschreckten Menschen, dem Leben doch noch etwas Erfreuliches abzugewinnen. Gesellige Unterhaltung wurde von den Ärzten geradezu "verschrieben"; doch auch von liederlichen Ausschweifungen wird berichtet. Zu Pfingsten 1349 fand auf dem Augustinerfriedhof in Wien ein Tanzfest statt, das die quälenden Gedanken an den Schwarzen Tod des Vorjahres vertreiben sollte.

Gemeinhin glaubte der spätmittelalterliche Mensch an ein Leben nach dem Tod vor und fand in diesem Glauben Trost. Dieser erwies sich allerdings als unbeständig, und bald hielt man den Zeitpunkt des Todes an sich für wichtiger. Die Sorge galt nun weniger der Vorbereitung auf das ewige Leben als vielmehr der Bewältigung des einmaligen Abschieds vom Hier und Jetzt. Der Tod kam als souveräne Macht, der man sich möglichst tapfer stellen wollte. Der normale Sterbliche, vor allem wenn er schon alt und gebrechlich war, fühlte sich für die Gedanken verantwortlich, mit denen er aus dem Leben schied. Da der Tod gelassen und würdevoll geschehen sollte, griff man zu Sterbebüchern, die jahrhundertelang viel gelesen wurden. Sie lehrten die Sterbekunst, die Ars Moriendi.

Um festzustellen, ob eine Krankheit den nahen Tod bedeutet, wurden mancherorts abergläubische Rituale vollzogen. Versank beispielsweise die Blume im Klosterbrunnen, war jede Medizin als nutzlos zu betrachten. Allenfalls Arzneien, die die Agonie erleichtern konnten, verkauften sich dann noch recht gut.

Spürte der Sterbende das Ende nahen, ließ er die Türen öffnen, damit der Tod ungehindert eintreten konnte. Die Aufgabe des Arztes, sofern er konsultiert worden war, erschöpfte sich im gemeinsamen Beten im Kreise der Familie. Denn noch bis in das 19. Jahrhundert hinein starb man zu Hause; Krankenhäuser waren nur für die Pflege und Heilung bestimmt.

Der soziale Status des alten Menschen im vorindustriellen Europa war nicht schlecht. Integriert in die drei Generationen umfassende Großfamilie, übernahm er leichte häusliche Arbeiten und wurde mit dem Notwendigen versorgt. Der alte und sieche Hausvater behielt seine Autorität jedenfalls, auch wenn ihm der Leistungsabfall zu schaffen machte. Die Probleme des Greisenalters wurden aber nie als Krankheit gewertet, sondern als "natürlich und unabwendbar" erachtet. Der Mensch, der nach einem langen und gesunden Leben, medizinisch betreut, eines "natürlichen Todes" stirbt, entspricht einer Lebensvorstellung, die sich erst im Laufe der Jahrhunderte entwickeln sollte. Mit dem Aufstieg des Bürgertums war eine Klasse entstanden, die versuchte, den Tod durch Geld möglichst lange fernzuhalten. Der bürgerliche Mensch wurde zum Patienten, der nicht nur sein Arbeitsleben gesund bewältigen, sondern auch die Pension genießen wollte. Die Aufgabe des Arztes bestand daher nicht nur in der Bewahrung der Gesundheit und der Heilung, sondern vor allem in der Lebensverlängerung dieser spezifischen, schmalen Schicht alter Menschen. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von nur 35 Jahren erreichten nur wenige das Senium. Im "aufgeklärten" Jahrhundert wurde Krankheit nicht mehr als überwältigendes Naturereignis gesehen, sondern als Resultat ganz bestimmter Krankheiten, die der Arzt zu erkennen und einzuordnen hatte. Der Arzt stand nun stellvertretend für die Hoffnung, diese Krankheiten mit den neuen klinischen Möglichkeiten verhindern oder lindern zu können. Der Mythos, er hätte Macht über den Tod, wurde dabei fest verankert.

Die Energien der Toten

Dem "natürlichen Tod" der wenigen stand die "extreme Form des Sterbens" einer anderen Minderheit gegenüber: die öffentlichen Hinrichtungen, die als ritualisierter Vorgang zur Wiederherstellung der "alten" Ordnung dienten. Diese Machtdemonstration der Obrigkeit bot gleichzeitig auch eine Form der Ars Moriendi, in der der Sünder seine Schuld öffentlich bekannte und mehr oder weniger würdig in den Tod ging.

Da nach volkstümlichem Aberglauben auch dem toten Körper noch bestimmte Energien innewohnten, zog man daraus praktischen Nutzen, indem die Leichname für bestimmte Arzneien ausgebeutet wurden. Der Schweiß der Toten sollte wirksam gegen Hämorrhoiden, die pulverisierten Schädelknochen gegen Epilepsie sein. Die Erde von Gräbern der Gehängten zeichnete sich angeblich durch therapeutische Qualitäten aus, auch dem Henker selbst wurden Zauberkräfte zugeschrieben. Mancherorts war er auch ein vielgesuchter Arzt, da er mit seiner erznei vielen gebrechlichen kranken personen zu irrer hailung seer dienstlich gewesen und noch sein mag", wie auch die Obrigkeit zu bestätigen wusste. Des Henkers zahlreiche Heilmittel gegen Unheil aller Art waren begehrt, und so bot er auch Menschenblut und Gliedmaßen von Hingerichteten an. Unheimlich zwar, doch heilbringend: Diese Eigenschaften wurden dem Henker zugeschrieben.

Tortur und Hinrichtung nahmen mit den Jahrhunderten an Grausamkeit zwar ab, sie blieben aber lange noch eine drastische Machtdemonstration der Autoritäten. Als die Aufklärung die philantropische Aufmerksamkeit rund um den humanen Tod förderte, wurde auch die Erste Hilfe institutionalisiert. Denn der mittelalterliche Bürger hatte es nicht eilig, wenn es um die Rettung menschlichen Lebens ging. Allzu sehr steckte ihm die Angst in den Knochen, er könnte dabei in Berührung mit versuchten Selbstmördern geraten - und das kam nach herrschender religiöser Auffassung einem sündigen Verstoß gleich.

In Wien war es Leibarzt Gerard von Swieten, der mit dem Rettungspatent von 1769 erstmals über den Unterricht verfügte, "wie die scheinbar ertrunkenen, erhengten oder erstickten menschen beym leben zu erhalten seyen". Europaweit wurde die Reanimation endlich ein medizinisches Thema; vor allem interessierte der Scheintod, spiegelte er doch die ehemals weitverbreitete Angst der Bevölkerung wider, lebendig begraben zu werden.

Das traditionelle und routinemäßige Interesse der Ärzte am Tod änderte sich durch ein neues Phänomen: die Angst vor dem Scheintod. Die Unruhe kam stark um die Mitte des 18. Jahrhunderts auf und artikulierte sich unter anderem in den Testamenten der Oberschicht: "Ich möchte 48 Stunden nach meinem Verscheiden beerdigt werden, und man lasse mich während dieser Zeit im Bett", verfügte ein besorgter Mensch 1771 in Frankreich.

"Der Scheintod" titelte Anfang des 19. Jahrhunderts eine anonyme medizinische Schrift, deren Vorwort Christoph Wilhelm Hufeland (1762 bis 1836) geschrieben hatte. Hufeland wollte die Menschheit vor diesem "schrecklichsten aller Schrecken, dem lebendigen Begräbnis" bewahren und auch selbst eines sicheren Todes sterben. Deshalb ordnete er für den Fall seines Todes den Herzstich und die Öffnung seiner Blutgefäße an.

Doch nicht nur dieser renommierte Medizinprofessor, auch andere berühmte Männer, wie beispielsweise Schopenhauer, Nestroy oder Rilke, wurden von der spezifischen Angst des Scheintodes heimgesucht.

"Selten werden die Ärzte gerufen, um den Tod festzustellen, diese wichtige Sorge wird gedungenen Helfern oder Individuen, die völlig frei von der Kenntnis der menschlichen Physis sind, überlassen. Ein Arzt, der einen Kranken nicht retten kann, vermeidet, sich bei ihm einzufinden, nachdem er den letzten Seufzer ausgestoßen hat, und alle praktischen Ärzte scheinen von diesem Axiom eines großen Philosophen durchdrungen: es gehört sich nicht, dass ein Arzt einen Toten besuche." Das schrieb der Verfasser eines medizinischen Wörterbuches noch 1818, doch begann sich die ärztliche Kontrolle des Todes langsam durchzusetzen: Der Totenschein musste von einem Arzt ausgestellt werden, die Aufbahrung erfolgte im Leichenhaus und die Beerdigungsfristen wurden verbindlicher.

Wissenschaftliche Distanz

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich sprachen die Ärzte dem Scheintod jegliche Realität ab. Im positivistisch geprägten Weltbild hatte er keinen Platz mehr und durch die größere Sicherheit bei der Feststellung des Todes wurde das Phänomen als Zwangsvorstellung und Aberglaube gewertet, das am Ende des Jahrhunderts seine Faszination verloren hatte.

Doch die Angst vor dem Tod blieb, wenngleich auch dieses Ereignis nicht immer mit gleicher Intensität gefürchtet wurde. Im Volksglauben sind ursprünglich mythologische Todesvorstellungen tradiert, die im Tod das Entweichen der unsterblichen Seele aus dem Körper sehen. Rituale sollen diese Trennung erleichtern. Parallelen zwischen dem europäischen Volksglauben und den Vorstellungen der Naturvölker (z. B. Eskimos, Malayen) bestehen in der Annahme, dass jeder Mensch ein kleines Modell seiner selbst in sich trägt, das ihn beseelt. Man stellte sich vor, dass die Seele durch Mund und Nase entweiche, wie dies auch Bestattungspraktiken in Europa im 18. und 19. Jahrhundert dokumentieren: Die Augen des Toten wurden mit Münzen bedeckt und die Kinnlade hochgebunden, um zu verhindern, dass sein Geist entschlüpfen und die Lebendigen mitnehmen könnte.

Und heute? "Eine unbearbeitete Sterbeangst" ortet Othmar Hill, Wirtschaftspsychologe in Wien, in unserer Gesellschaft. Gründe hierfür sieht er in der starken Verdrängung des Alterns und in der Lebensgier, die eine bewusste Auseinandersetzung mit Sterben und Tod nicht zulässt.

Dass diese Themen auch in der medizinischen Ausbildung vernachlässigt werden, weiß Univ.-Prof. Dr. Gernot Sonneck vom Institut für Medizinische Psychologie der Universität Wien ebenso gut wie der niederländische Arzt Bert Keizer. "Das ist das Letzte!" - so betitelte Keizer seine in Buchform erschienenen Erfahrungen mit dem Sterben und dem Tod. Sie zeigen, wie hilflos Arzt und Patient dem Problem oft gegenüberstehen. Der Mensch im Mittelalter setzte noch viel daran, dem letzten Ereignis im Leben mit religiöser Überzeugung, abergläubischen Ritualen und künstlerischem Schaffen beizukommen. Später prägte die Angst vor dem Scheintod den Umgang mit dem Sterben, bis die Ärzte ihn schließlich als Phantom entlarvten. Die Angst vor dem Tod aber konnten sie bis heute nicht kurieren.

Literaturhinweis: Bert Keizer: Das ist das Letzte! Erfahrungen eines Arztes mit Sterben und Tod. Argon Verlag, Berlin, 297 Seiten.

Freitag, 31. Oktober 2003

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