Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Portal zum ouml;esterreichischen EU-Vorsitz 2006 Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Die viktorianische Walhalla

Auf dem Londoner Highgate-Friedhof ruht die Prominenz von einst
Von Stefan Spath

Zu nachtschlafender Stunde haben sich auf dem Friedhof im Norden Londons vier Männer versammelt. Der Himmel ist bewölkt, wie für Ende September nicht unüblich. Die Nerven der Wartenden sind aufs Äußerste gespannt. Plötzlich werden sie im Mondlicht einer weißgekleideten Gestalt gewahr, die ein Kind in ihren Armen trägt. Zwischen den Bäumen scheint sie zielstrebig auf ein bestimmtes Grab zuzustreben! Als der Professor aus der Deckung tritt und sich ihr mit einem Kruzifix entgegenstellt, lässt die Untote ihr Opfer fahren. Nach einem vergeblichen Versuch, mit diabolischem Charme ihren früheren Verlobten zu verführen, verschwindet sie in der Gruft der Westenras. Tags darauf dringen Van Helsing und seine Begleiter in die Kammer ein, öffnen den Sarg - und prallen zurück. Mit blutverschmiertem Gesicht und spitzen Eckzähnen ist die eine Woche zuvor verstorbene Lucy ein Albtraum ihres früheren Selbst. Nun haben sie Gewissheit. Die Männer schreiten zur einzigen Tat, die ihnen übrig bleibt. Der Pfahl wird über dem Herz angesetzt, der schwere Hammer hebt sich und . . .

"Ladies und Gentlemen. Bitte dicht hinter mir bleiben, wir wollen nicht, dass jemand in eine Grube fällt." Mit trockenem Humor platzt unsere Friedhofsführerin in die gedankliche Wiederbelebung einer der wohl berühmtesten Szenen der Vampirgeschichte. Highgate Cemetery, Nord-London, mehr als 100 Jahre später. Man blickt sich um und denkt, das ist die melancholisch-gruselige Stimmung, die ihn auf seinen langen Spaziergängen inspiriert haben könnte. Ihn, Bram Stoker, den Verfasser des Blutsauger-Klassikers "Dracula". Düstere Mausoleen, Sarkophage im Schatten dichter Laubdächer, von Efeu umrankte steinerne Engel, moosbedeckte Urnen und halb im Erdreich versunkene Grabsteine machen aus dem viktorianischen Friedhof einen verwunschenen Ort.

"Nahe Hampstead Hill"

Vampir- und Literaturforschern zufolge war Stoker eine Begebenheit geläufig, die zehn Jahre vor seiner Ankunft in London riesiges Aufsehen erregt hatte. Im Jahr 1869 setzte der Maler und Dichter Dante Gabriel Rossetti durch, seine sieben Jahre zuvor verstorbene und in Highgate beigesetzte Frau Elizabeth Siddall exhumieren zu dürfen, um an ein ihr mit ins Grab gegebenes Büchlein mit Gedichten zu kommen. Nach der Legende soll ihre Leiche praktisch unversehrt gewesen sein, als Rossetti bei Nacht und Nebel die Gruft öffnen ließ.

Im 1897 erschienenen Roman "Dracula" trägt der Friedhof, auf dem Elizabeth Siddalls literarische "Wiedergängerin" Lucy Westenra beerdigt wird, zwar den Namen Kingstead, doch die Ortsangabe "nahe Hampstead Hill" und das düstere Setting würden exakt zu Highgate passen. Freilich, belegt

ist nichts. Auch auf der Führung durch den Westteil des Friedhofs wird man kein Sterbenswörtchen über eine Vampir-Connection vernehmen. Nach einem makabren Spuk im Jahr 1970, als ein Okkultist Stein und Bein schwor, einen Vampir aufgescheucht und ihn mit einer sinistren Zeremonie wieder verbannt zu haben, sind Gerüchte über wandelnde Blutsauger das Letzte, worauf die "Friends of Highgate Cemetery" Wert legen. Sie sorgen vielmehr dafür, dass Highgate als ein viktorianischer Museums-Friedhof erhalten bleibt. Diese Geschichte ist ähnlich faszinierend wie jene über Knoblauch, Kruzifixe und silberne Kugeln - und zudem um einiges besser belegbar.

Sie reicht bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück, als sich die Bevölkerung Londons binnen weniger Jahrzehnte auf zwei Millionen Menschen verdoppelte. Auf den innerstädtischen Friedhöfen fand sich für die Toten kaum mehr Platz. Schockierende Berichte über Leichenfledderei und Leichendiebstahl bewogen die Behörden schließlich, die Einrichtung privat betriebener Friedhöfe an der Peripherie zu gestatten. 1839 wurde der Friedhof auf dem Gelände des idyllisch gelegenen Highgate Hill eingeweiht und 15 Jahre später um ein großes Areal (den östlichen Friedhof) jenseits der Swains Lane erweitert.

Vielen Engländern des viktorianischen Zeitalters erschien der Tod als ein Übergangsstadium. Die Toten wurden als "Schlafende" oder "Ruhende" verklärt, eine Sichtweise, der schließlich Bram Stoker mit der Figur der Lucy einen makabren Zerrspiegel entgegenhielt. Im Gegensatz zu heute war das Verhältnis zu den letzten Ruhestätten der Toten aber ein entspannteres. Man ging auf idyllische Friedhöfe wie Highgate, um gesehen zu werden und repräsentative Grabmäler zu bewundern. Nach dem Grundsatz "Je pompöser, desto besser" reflektierten die Gräber auch den gesellschaftlichen Status, den die Verstorbenen zu Lebzeiten innegehabt hatten. Dieses Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch Highgate.

Löwen und Kanonen

Aber es gibt auch originellere Entwürfe. Ein traurig dreinblickender Löwe aus schwarzem Stein liegt auf dem Grabsockel des Zoobesitzers George Wombwell, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer Schau von exotischen Tieren durch die Lande zog. Ein grasendes Pferdchen erinnert an J. Atcheler, seines Zeichens Pferdeschlachter der Königin. Und General Sir L. Otway, ein Veteran der Napoleonischen Kriege, ließ sein Mausoleum mit einem Eisengitter einfassen, das aus umgekehrten Kanonen bestand. Es hat sich ausgekämpft, ist die Bedeutung des Symbols.

Die umgekehrte, ausgelöschte Fackel ist eines der häufiger anzutreffenden Motive auf den insgesamt 52.000 Gräbern des West- und Ostfriedhofs. Eine auseinandergebrochene Säule steht für Menschen, die in der Blüte ihres Lebens aus dieser Welt gerissen wurden, ein leerer Stuhl für jemanden, der in das Unbekannte aufgebrochen ist.

Es sind aber die Beispiele einer in Monumentalität ausufernden Grabmalkultur, die dem "viktorianischen Walhalla" seine bizarre Note verleihen. Auf einer Anhöhe im westlichen Friedhofteil liegt der Lebanon Circle, eine tief in den Boden gegrabene ringförmige Anlage mit Katakomben zu beiden Seiten. Eine Zeder aus dem Libanon breitet ihre Äste wie eine trostspendende Gottheit über die Gräber aus. Wuchtige, von Spinnweben verhangene Eisentüren verwehren den Blick in das Reich der Toten. Zum Lebanon Circle hin führt die von einem bröckelnden Obelisken bewachte Egyptian Avenue mit Gräbern, die orientalischen Vorbilden nachempfunden sind. Auch sie sind Ausdruck der Ära von Queen Victoria (1837 bis 1901), in der sich England ferne Länder in sein Weltreich einverleibte und eine beispiellose wirtschaftliche Blüte erlebte.

Einer, der das mit dem Aufschwung Großbritanniens verbundene Wirtschaftssystem erbittert bekämpfte, ist der berühmteste Tote des Highgate Cemetery: Karl Marx. Zu seiner Beisetzung an einem Märztag des Jahres 1883 hatten sich auf dem heute noch öffentlich zugänglichen Ostteil des Friedhofs nur ein Dutzend Menschen eingefunden. Seit Jahrzehnten ist der an Marx erinnernde Gedenkstein - ein wuchtiger Granitsockel mit der Inschrift "Workers of all lands unite", gekrönt von einer Büste des Kommunistenvaters - eine Wallfahrtsstätte. Wohl nicht ganz zufällig in Marxens Nähe haben eine Reihe von linksgerichteten Politikern aus aller Herren Länder, die nach London ins Exil gegangen waren, ihre letzte Ruhe gefunden.

Die Führungen über den atmosphärisch weit interessanteren Westfriedhof leben von den Anekdoten über Persönlichkeiten der viktorianischen Ära. Am Grab des Faustkämpfers Thomas Sayers, das von einem steinernen Denkmal seines treuen Hundes Lion bewacht wird, erfährt man vom Leben eines der ersten Sporthelden im wettkampfbegeisterten England. Der eher schmächtige Sayers hatte sich mit bloßen Fäusten den Ruf eines unbesiegten englischen Champions erprügelt, als es 1860 zum "Kampf der Titanen" gegen den US-Champion John Heenan kam. Nach 42 Runden und einem vergeblichen Versuch der Polizei, das Spektakel abzubrechen, einigte man sich auf ein salomonisches Remis. Sayers wurde gedrängt, für die exorbitante Summe von 3.000 Pfund nie mehr in den Ring zu steigen. Er akzeptierte und zog sich ins Privatleben zurück. Als er 1865 im Alter von nur 39 Jahren starb, folgten 100.000 Menschen dem Trauerzug nach Highgate.

Eine nicht minder aufschlussreiche Geschichte handelt von dem gebürtigen Deutschen Julius Beer, einem Mohammed el Fayed der viktorianischen Zeit, der in jungen Jahren nach London gekommen war und sich aus bescheidenen Anfängen zu einem erfolgreichen Unternehmer und Börsenmagnaten emporgearbeitet hatte. Als Beer im Jahr 1870 den "Observer", eines der renommiertesten Sonntagsblätter Englands, erwarb, hoffte er, endgültig die Eintrittskarte in die feine Gesellschaft gelöst zu haben. Doch die zeigte ihm weiter die kalte Schulter. Beer beschloss, sich mit einem dreistöckigen Bau das größte Mausoleum des gesamten Friedhofs errichten zu lassen. So müsse man ihn schließlich respektieren, ob man wolle oder nicht, soll er halb im Trotz gesagt haben.

Der Niedergang

Highgate West war nur einige Jahrzehnte lang eine Erfolgsstory. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts neue Bestattungsmethoden zugelassen wurden, mit Englands allmählichem Niedergang nur noch wenige Menschen viel Geld für repräsentative Begräbnisse erübrigen konnten und sich schließlich immer weniger Nachkommen ihrer Toten erinnerten, gerieten die Friedhofsbetreiber in Schwierigkeiten. Allmählich begann der Friedhof zu verwildern. Die Natur übernahm die Regentschaft, sprengte Grabsteine mit Wurzeln, nahm sie mit Ästen in den Würgegriff, überwucherte sie mit Platanen, Moos und Efeu ließ die Inschriften auf dem Sandstein verwittern. 1975 wurde der ursprüngliche, westliche Friedhofsteil für die Öffentlichkeit geschlossen.

Dem wollten Anrainer und Kulturfreunde nicht tatenlos zusehen und schlossen sich zu den "Friends of Highgate Cemetery" zusammen. Die Mitglieder des rührigen Vereins sehen es als ihre Hauptaufgabe an, die eindrucksvollsten Beispiele viktorianischer Grabmalkultur für die Nachwelt zu bewahren. Sie kassieren Eintrittsgelder, heben eine Extra-Fotogebühr ein und bitten am Ende ihrer geführten Touren über den West-Friedhof noch mal um Spenden. Die Geschäftstüchtigkeit der meist im Seniorenalter befindlichen "volunteers" mag zwar leicht deplatziert wirken, zumal man den Eindruck gewinnt, dass "Gräbertouristen" nicht eben geschätzt würden, doch wird aus den Mitteln ein Teil der Restaurierungen bestritten.

Eine Sisyphus-Arbeit in der Tat: Neben der Kapelle am Friedhofs-Eingang wurden bisher nur einige Dutzend Grabanlagen annähernd wieder in ursprünglichen Zustand versetzt. Befreit vom Gestrüpp sind nur die wichtigsten Wege. Den Rest der Gräber verschluckt der Wald. Wenn die Tore quietschend hinter den Besuchern zufallen, versinkt der Friedhof wieder im schaurig-schönen Dämmerschlaf. Fuchs und Hase, die in der Totenstadt eine Heimat in der Großstadt gefunden haben, sagen einander gute Nacht. Was sich sonst nächtens hinter der hohen Backsteinmauer abspielt, bleibt der Fantasie und den Spintisierern überlassen.

Der östliche Friedhof ist ab 10 Uhr (Wochenende 11 Uhr) öffentlich zugänglich. Highgate West kann nur mit geführten Touren besichtigt werden. Erkundigungen und Buchungen beim Verein "Friends of Highgate Cemetery" (+44) (0) 20 8340 1834. Üblicherweise findet unter der Woche um 14 Uhr eine Tour statt, an Wochenenden gibt es mehrere Besichtigungen am Tag.

Die nächstgelegene U-Bahn-Station ist Archway. Von dort ein etwa 20-minütiger Fußmarsch zum Highgate Cemetery. Man kann auch die Buslinien 143, 210, 271 benützen.

Literatur: "Dracula" von Bram Stoker; am Friedhof werden mehrere Broschüren verkauft.

Weitergehende Informationen finden sich auf der Webseite der "Friends of Highgate cemetery" http://highgate-cemetery.org/

Freitag, 31. Oktober 2003

Aktuell

Blicke aufs Häusermeer
Erhöhte Aussichtspunkte haben schon immer Schaulustige angelockt
Wer übernimmt die Führung?
Die kommenden Probleme und Entwicklungen der Weltwirtschaft – Ein Panorama
In Millionendimensionen
Grundlegende Befunde über den allseits sichtbaren Wandel Chinas

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum