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Vom Friedhof auf den Tanzboden

Zur Tradition und Wiederbelebung von Trauermärschen
Von Christa Salchner

Popballaden, die über den Friedhof tönen, sind bei Begräbnissen heutzutage keine Seltenheit, auch am Land. Handelt es sich beim Verstorbenen um einen verdienten Dorfbewohner, etwa einen ehemaligen Musikanten, wird die örtliche Blasmusikkapelle ihr Möglichstes tun, die eine oder andere Ballade sorgfältig einzustudieren. Das Lieblingslied des Verstorbenen soll als solches schließlich erkennbar werden, auch wenn einige aus der Trauergemeinde vielleicht die Tuba irritiert . . .

Blasmusik und Pop bilden eine schräge Kombination - und viele empfinden dieses Duo als haarsträubend. Auch Andreas Schett verursachen solche Klanggebilde Ohrenschmerzen. Er ist Blasmusiker und stammt aus Innervillgraten, der hintersten Gemeinde im Villgratental in Osttirol, einem abgeschiedenen Bergbauerngebiet. Die Uhr scheint in solch isolierten Gegenden langsamer zu gehen als andernorts. Der Boden wirkt karger, das Leben rauer, der Wind frischer und die Tradition lebendiger.

Andreas Schett begann schon als Kind, die Trompete zu blasen. Mit 19 Jahren wurde er Kapellmeister - damals der jüngste in ganz Österreich. Mit 21 gründete er die Musikbanda Franui, und mit 27 fragte ihn Gustav Kuhn, ob er sich die künstlerische Leitung der Tiroler Festspiele in Erl mit ihm teilen wolle. - Und er wollte. Andreas Schett kennt die Musiklandschaft Tirols, wie kaum ein anderer. Bergbauern, die Mainstream-Pop oder Samba-Rhythmen spielen, finden vor seinen Ohren kaum Gnade. Schließlich beherrschen sie eine andere Kunstform - und die hat Andreas Schett vor einigen Jahren wiederzubeleben begonnen.

Manchmal ein bisschen falsch Verstirbt jemand, der in Bergbauerndörfern wie Innervillgraten aktiv war, rückt die Musikkapelle aus - wenn auch nicht immer in voller Besatzung. Am Friedhof und bevor der Sarg mit Erde überschüttet wird, spielen die Musikanten Trauermärsche, die 100 Jahre und älter sind. (Außer die Kapellmeister geben sich in obigem Sinne modernistisch.) Wie es sich für ein Begräbnis gehört, verfehlen diese Trauermärsche ihre Wirkung auch dann nicht, wenn einzelne Hörner, Trompeten oder Klarinetten aus der Reihe tanzen und Misstöne produzieren. Dass die Musik manchmal ein bisschen falsch klingt, gehört irgendwie dazu, unterstreicht ihre verwegene Schönheit mitunter noch.

Trauermärsche sind Gebrauchsmusik und verfolgen einen klaren Zweck: sie wollen berühren und Betroffenheit erzeugen. Darum der triefende Schmerz in den Melodien, die in den Kitsch gleitende Trauer, die sich während des Spiels über den Friedhof legt. Erreicht wird das in der Regel durch einfache Rhythmen und langsame Tempi. Musikalische Strukturen, die den Trauermarsch-Komponisten des 19. Jahrhunderts sehr entgegenkamen. Das 19. Jahrhundert war die Blütezeit des Trauermarsches. Nahezu jeder namhafte Komponist hat mindestens einen Trauermarsch komponiert. Der dritte Satz aus Chopins Klaviersonate b-Moll Opus 35 ist wohl einer der berühmtesten Trauermärsche. Berlioz und Bizet haben Trauermärsche für Bühnenwerke komponiert, Wagner hat in die "Götterdämmerung" einen Trauermarsch eingebaut und Mahler begann seine Fünfte Symphonie mit einem Trauermarsch, um nur einige der Großen zu nennen. Auch fast jeder Kapellmeister hat sich im Komponieren von Trauermärschen versucht, viele wurden sogar dazu angehalten. Starb jemand, der zu Lebzeiten Ruhm und Anerkennung genossen hat, wurde für dessen Begräbnis ein eigener Trauermarsch komponiert. Starb jemand, dessen Ruhm und Anerkennung mit einem Trauermarsch nachgeholfen werden konnte, scheuten vermögende Familienangehörige nicht davor zurück, das entsprechende Bargeld auszulegen und einen Kleinmeister mit der Komposition zu beauftragen.

Erste Probe am Friedhof

Da ein Menschenleben damals wie heute meist unverhofft und abrupt endet, mussten die Komponisten schnell arbeiten, konnten nicht lange nach Melodien und gefinkelten Strukturen suchen. Sie wussten auch, dass den Musikanten kaum Zeit bleibt, die Stücke einzustudieren, kannten deren Qualitäten, die es zu berücksichtigen galt. Die erste Probe fand oft erst am Friedhof selbst statt. Trauermärsche mussten daher so geschrieben sein, dass sie direkt vom Blatt gespielt werden konnten. Gleichzeitig sollten sie dem Toten ein musikalisches Denkmal setzen, den Wert seiner Verdienste preisen, die Trauergemeinde zu Tränen rühren - auch jene, denen vielleicht gar nicht nach Trauern zumute war.

Trauermärsche klingen schön und eigenartig zugleich, spiegeln im Grunde aber nur das wider, was in der Realität stattfindet: Schönes und Eigenartiges. Von einem höchst eigenartigen Begräbnis erzählt beispielsweise eine Anekdote aus Osttirol, die sich, sofern man ihr Glauben schenkt, 1999 zugetragen hat.

"Im vergangenen Frühjahr fand in Sillian, das ist die größte Gemeinde am Ausgang des Villgratentales, ein denkwürdiges Begräbnis statt, das zwei, drei Stunden später in allen rundumliegenden Gemeinden ins Gerede kam. Ein Altbauer sei verschieden. Vor einigen Jahren habe er Selbstmord gemacht, was aber nicht geglückt sei. Deswegen sei er die letzten Jahre im Rollstuhl gesessen. Zum Transport des Sarges habe man sich das Ross des Nachbarn ausgeliehen. Der Trauerzug habe sich in Bewegung gesetzt, und wie sie so dahinziehen und beim Hof des Nachbarn vorbeikommen, riecht das Ross im Stall sein Fohlen, dreht durch und schießt samt Sarg davon. Die Trauernden rennen dem Gefährt mit äußerster Kraft hinterher. In der ersten Kurve natürlich leert das Ross den Sarg ab. Der kugelt den Abhang hinunter, prallt an eine Fichte und bleibt in Fetzen liegen. Es habe mehrere halbe Stunden gebraucht, bis man den örtlichen Bestattungsunternehmer per Mobiltelefon habe ausfindig machen können, der sei mit einem neuen Sarg gekommen, worauf sich die Hinterbliebenen neuerlich auf den Weg gemacht hätten."

Diese und eine Reihe anderer Geschichten übers Sterben finden sich im Booklet der Doppel-CD "Frische Ware" der Musikbanda Franui. Schließlich wollen Franui nicht nur Musik vermitteln, sondern auch erklären, warum Trauermärsche so klingen, wie sie klingen. "Der Tod war immer schon lustiger, als man es wahrhaben wollte, und trauriger, als man es zuließ", heißt es im Nachtrag - und beides ist nicht zu überhören. Die 17 Trauermärsche auf dieser CD haben Franui und der Wiener Posaunist und Improvisateur Bertl Mütter 1999 im Traubenkeller in Lienz in Osttirol live aufgenommen. Sechs Märsche komponierten Andreas Schett und Markus Kraler. Die anderen sind zum Teil bekannte, aber verfremdete Märsche, manche stammen von weniger berühmten Komponisten, manche von berühmten wie Schubert oder Mahler. Die Herkunft ist ohnedies manchmal ungewiss. Andreas Schett erzählt seinem Publikum im Traubenkeller, dass Mahler in Toblach einen Trauermarsch gestohlen hätte - und Franui jetzt nichts anderes machen würden, als ihn quasi "zurückzustehlen".

Ob sich das Erzählte tatsächlich so zugetragen hat, sei dahingestellt. Möglich wäre es, denn einige Verfasser von Trauermärschen sind schon zu Lebzeiten in der Anonymität verschwunden - das machte es namhaften Komponisten leicht, sich an deren Material zu bedienen. Bei Franui ist aber viel Ironie im Spiel, wenngleich sich diese Ironie nie über die Sache stellt oder erhebt. Sie ergibt sich durch die zeitliche und räumliche Distanz sowie durch den ernsten und respektvollen Umgang mit dieser Musik.

Die Musikgeschichte der Trauermärsche erinnert ein wenig an die Entstehung und Verbreitung der Grimm-Märchen. So wie Jakob und Wilhelm Grimm die Märchen gesammelt und aufgeschrieben, aber nicht erfunden haben, besinnen sich Franui auf alte Geschichten, sammeln sie und erzählen daraus.

Fahrende Musikanten

Ein Großteil der mittlerweile zehnköpfigen Formation stammt aus Villgraten und ist von der ersten Stunde an dabei. Franui wurden 1993 als Haus- und Hofmusik der "Villgrater Kulturwiese" gegründet und waren Hauptbetreiber dieses Kulturfestivals. Bis Mitte der neunziger Jahre wurden Dutzende von Veranstaltungen in Villgraten durchgeführt. 1996 kam dann das Aus. Das Zentrum des Festivals, ein altes Holzhaus, wurde abgefackelt - und so endete die Geschichte der Villgrater Kulturwiese wie manch ein Menschenleben: über Nacht und tragisch. Das Verbrechen wurde nie aufgeklärt.

Franui sind zu einer Gruppe fahrender Musikanten geworden. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens wird Anfang nächsten Jahres das dritte Album erscheinen. "Ende vom Lied", so der Titel, knüpft an "Frische Ware" an, setzt es fort und erweitert den musikalischen Bogen. Neben neuen Trauermärschen werden eine Schubert-Messe und "U-Musik" der Wiederaufbaugeneration auf diesem Album zu hören sein.

"Eine Art hm-ta-ta zum Vergessen der Katastrophe. Franui vollziehen die musikalische Überführung einer rechteckigen Fläche in eine andere: vom Friedhof auf den Tanzboden", wie es Andreas Schett formuliert. Beginnen und enden würde ja doch alles im Gasthaus.

Freitag, 31. Oktober 2003

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