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Ein Haus für Lebende und Tote

Im schweizerischen Vrin steht ein Totenhaus besonderer Art
Von Bernhard Kathan

Gleichgültig, ob der Umgang mit Toten in ritualisierter Form öffentlich inszeniert oder wie in unserer Gesellschaft zunehmend verdrängt und zur Aufgabe von Spezialisten wird - jede Kultur lässt sich anhand ihrer Totenbräuche beschreiben. Auch wenn die Bräuche in manchen Details voneinander abweichen mögen, so wurden in der kleinbäuerlichen Kultur die Toten bis in die jüngste Vergangenheit in der Stube aufgebahrt. Abwechselnd hielten Angehörige, Nachbarn oder andere Dorfbewohner Totenwache. Am dritten Tag wurde der Sarg durch das Dorf auf den Friedhof getragen und dort beigesetzt. Nach dem Totenmahl wurde die Stube, die drei Tage dem Toten gehörte, wieder zu einem Ort des Lebens, zu einem Ort der Unterhaltung und Erholung.

Historische Fotografien zeigen in der Regel den aufgebahrten Sarg mit dem Toten, manchmal auch Trauergäste, die sich in der Stube versammelt haben. Dies weckt die falsche Vorstellung, im Trauerhaus hätte sich alles auf die Stube konzentriert. Tatsächlich wäre dieser Umgang mit den Toten ohne die anderen Räume des Hauses vollkommen undenkbar gewesen. Wer den Gang betrat, konnte sich auf den Anblick des Toten wie auf das ritualisierte Gebet einstimmen. Hier wurde er begrüßt, konnte er den Angehörigen sein Beileid ausdrücken. In der Küche waren längere Unterhaltungen möglich, die sich oft auf das Leben des Toten bezogen. Kammern wiederum boten Angehörigen und angereisten Trauergästen die Möglichkeit, sich auszuruhen.

Neue Begräbnissitten

Längst ist es selten geworden, dass Kranke in bäuerlichen Häusern sterben, in der Stube aufgebahrt werden oder Angehörige und Nachbarn am offenen Sarg Totenwache halten. Der sich durchs Dorf bewegende Trauerzug ist zu einer Seltenheit geworden. Heute werden auch in den Dörfern die Toten in Totenkapellen aufgebahrt. Dafür sind viele Gründe zu nennen.

Wenngleich die Anteilnahme am Leben anderer in den Dörfern nach wie vor ausgeprägter ist als in den Städten, so ist doch nicht zu übersehen, dass die heutigen Lebensentwürfe auch hier vor allem die Möglichkeiten des Einzelnen betonen. Vielschichtige Abhängigkeiten und Verpflichtungen haben an Bedeutung verloren. An die Stelle tradierter Todesvorstellungen sind Erklärungen der Medizin und Psychologie getreten. Auch auf dem Land verbringen heute viele alte Menschen ihren Lebensabend in Alters- und Pflegeheimen. Haben sie ihre Verbindung zum Haus verloren, dann bedarf es anderer Orte des Abschiednehmens. Hat sich die Stube einmal zum Privatraum gewandelt, dann kann sie nicht länger ein Ort sein, an dem Verstorbene öffentlich aufgebahrt werden können. Ändern sich die Bedeutungen der Räume, dann wird das Ritual selbst brüchig wie auch dann, wenn scheinbar zwingende Zeitstrukturen an Bedeutung verlieren. Heute erlaubt es die Kühltechnologie, die Beerdigung Tage hinauszuzögern und Terminwünschen oder anderen Interessen entsprechend festzusetzen. Auch dies trug dazu bei, den tradierten Umgang mit den Toten auszuhöhlen. Wird jemand erst zwei Wochen nach seinem Tod beerdigt, dann haben sich die Trauergefühle schon merklich abgekühlt.

Trotz allen Bemühens von Architekten, Totenkapellen und Aufbahrungshallen das Gepräge eines würdigen, letztlich immer noch sakralen Raumes zu geben, bleiben sie architektonisch unbestimmt. Sakralraum im eigentlich Sinn können sie nur noch bedingt sein, sollen sie auch Begräbnissen von Menschen dienen, die weder an die Tröstungen der Kirche noch an ein jenseitiges Leben glauben. Bei Totenkapellen oder Aufbahrungshallen handelt es sich wie bei Kindergärten oder Müllverbrennungsanlagen um kommunale Zweckbauten. Fragen der Hygiene wie des leichten Zugangs für Bestattungsunternehmen spielen dabei eine wichtige Rolle.

Ein Raum für den Tod

Kaum eine der vielen Totenkapellen, die in den letzten Jahrzehnten in Dörfern errichtet wurden, vermag zu überzeugen. Die wohl bemerkenswerteste Ausnahme findet sich in Vrin, einem Bergbauerndorf im Bündner Lumneziatal. Der Architekt Gion A. Caminada, selbst in Vrin geboren und dort lebend, wurde beauftragt, eine "Aufbahrungshalle" zu bauen. Statt mit Entwürfen zu beginnen, also Lösungen vorwegzunehmen, setzte er auf einen breiten Diskussionsprozess, zu dem er die Dorfbevölkerung einlud. Caminada: "Wir hatten dazu eingeladen, und die Leute kamen. Die Vriner Dorfbevölkerung nahm sich Zeit, um über den Umgang mit den Toten nachzudenken. Es war eine der intensivsten und emotionsgeladensten Diskussionen, die ich bislang erleben durfte. Wir redeten über Rituale, deren Sinn und Bedeutung. Wir konfrontierten uns mit dem Gedanken, ob es möglich wäre, in diesem neu zu schaffenden Raum Kaffee zu trinken oder zu musizieren. Das Ziel dieser Auseinandersetzung war nicht, diese künftige Stätte befremdlichen Nutzungen zuzuführen. Es war vielmehr die Frage nach einem Raum, den man nicht deshalb meidet, weil er dem Tod gehört. Damit kam die Forderung nach einem gemeinsamen Raum für die Lebenden und die Toten. Denn eins muss man wissen: der Tod war immer schon das Problem der Lebenden. Angesichts des Todes zusammen Kaffee zu trinken, ist für viele eine irritierende Vorstellung."

Das Gebäude, welches sich nicht zuletzt solchen Diskussionen verdankt, erinnert in keiner Weise an eine der üblichen dörflichen Totenkapellen. Würde es nicht hart an der Friedhofsmauer stehen, würde es sich nicht durch seinen weißen Anstrich von den Holzhäusern des Dorfes abheben, man hielte es wohl für ein Wohnhaus. Caminada spricht nicht von einer "Totenkapelle", einem "Aufbahrungsraum" oder einem "Totenhaus", sondern von einer "Stiva da morts", also von einer Totenstube. Das Gebäude greift jene Räume auf, die in der traditionellen Totenkultur eine wichtige Rolle spielten. Die Stube, also der Aufbahrungsraum, befindet sich im unteren Stock. Eine Treppe führt in den oberen Gang und zu einem Aufenthaltsraum, in dem es den Trauergästen möglich ist, sich formlos zu unterhalten. Das Gebäude bietet genügend Raum, sich jenen Platz zu suchen, der dem eigenen Verhältnis zum Toten am besten entspricht. Es zwingt einen nicht in die Stube mit dem Sarg, man kann Perspektiven wechseln, sich auch im Stiegenhaus mit Geschwistern und Freunden unterhalten, auf die Hinterbühne zurücktreten, um etwa Kaffee zu trinken und mit anderen Besuchern zu reden. Es ist ein Gebäude für die Lebenden und die Toten. Nicht zufällig hat es zwei Eingangstüren. Man kann es vom Friedhof aus betreten und von der alten Dorfstraße. Der Tote wird über diese Dorfstraße zum Friedhof getragen.

Architektur im besten Sinn

Caminada wusste den Ergebnissen langer und wohl auch manchmal anstrengender Diskussionen Struktur zu geben. In der "Stiva da morts" werden mehrfach Beziehungen thematisiert; die zwischen den Lebenden und den Toten, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart und so fort. Es ist Architektur im besten Sinn, orientiert sie sich doch konsequent an sozialen Realitäten, denen sie Struktur zu verleihen sucht. Und schließlich überzeugt die "Stiva da morts", weil sie auf heutige Schwierigkeiten, mit dem Tod oder den Toten umzugehen, Bezug nimmt.

Es fällt schwer, sich dieses Gebäude in einem anderen Dorf vorzu- stellen. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Bedrohung des Lebens in diesem kargen Vrin spürbarer ist als an anderen Orten. Zwar sind Knochen und Schädel längst aus dem ehemaligen Beinhaus entfernt worden, aber wer immer es betritt, hat noch den Geruch faulenden menschlichen Fleisches in der Nase. Davor schützt selbst der frische Anstrich nicht. Dass Knochen und Schädel früher wie Zierrat in die Außenmauer dieses kleinen Gebäudes eingemauert wurden, diente der Mahnung, sich der Vergänglichkeit des Lebens bewusst zu sein. Zähne von Totenschädeln, die sich heute noch hin und wieder im Kies finden, werden sorgsam in eine Nische des Beinhauses gelegt.

Holzbau mit Steindach

In Sichtweite zu Caminadas "Stiva da morts" befindet sich ein anderes Totenhaus, nämlich die "Mazlaria", also die Metzgerei, auch ein Caminada-Gebäude. Daran schließen sich zwei von ihm entworfene Stallgebäude an, die vorzüglich in die Landschaft gefügt sind und durch die stringente Überlagerung traditioneller und heutiger Bau- und Nutzungsformen überzeugen. Obgleich formale Fragen und Lösungen für Caminada nicht unwichtig sind, so setzt er doch radikal an der Funktion an, die ein Gebäude in einem bestimmten Gefüge haben kann oder haben soll.

Caminadas Architektur ist in angenehmster Weise unaufdringlich. Seine Gebäude strahlen eine nahezu aristokratische Zurückhaltung aus. Ihre Markenzeichen: die Holzbauweise, die meist kleinen Fenster mit ihren Schiebeläden mit den winkelförmigen Auskragungen, die Beibehaltung des traditionellen Steindaches. Caminada baut ausschließlich in Vrin und Umgebung. Manche denken, hier würden städtebauliche Kriterien in bester Form auf ein Dorf angewandt. Mag sein, dass sich Caminadas Arbeit auch der Distanz, dem urbanen Blick verdankt, aber so kann nur jemand bauen, der in einer kleinbäuerlichen Kultur aufgewachsen ist, der um Wechselwirkungen ebenso weiß wie um begrenzte Möglichkeiten, der gelernt hat, im Gegebenen zu denken.

Übrigens war Caminada die "Mazlaria" ein besonderes Anliegen, zählt doch die Verarbeitung und Vermarktung der eigenen Produkte zu den wenigen Möglichkeiten heutiger Bergbauern, längerfristig das Einkommen zu sichern. Vrin kennt heute eine in Dörfern seltene Gruppe von Touristen. Viele Besucher kommen hierher, weil sie sich für Architektur und Regionalentwicklung interessieren. Ohne Zweifel kommt Caminada dabei eine wichtige Rolle zu, aber vermutlich verdankt sich das Ganze mehr noch den sprachlichen, religiösen und kulturellen Überlappungen in der Region. Es lohnt sich, einige Tage in Vrin zu verbringen.

Es ist fraglich, ob sich die tradierte Totenkultur mit Hilfe der Architektur in die Zukunft übertragen lässt. Manche Trauernde werden es als störend empfinden, den Sarg über den Umweg der Dorfstraße auf den Friedhof zu tragen. Manchen wird die "Stiva da morts" vielleicht zu sehr mit Bedeutungen aufgeladen sein. Manche werden die Zweckarchitektur heutiger Aufbahrungshallen vorziehen, die das "Abschiednehmen" zu einer kurzen Terminangelegenheit machen. Aber Caminadas "Stiva da morts" ist nicht daran, sondern an den Spielräumen möglicher Nutzungen zu messen. Mühelos kann man sich in diesem Gebäude sehr unterschiedliche Umgangsformen mit dem Tod denken. Und man befindet sich in einem Haus, welches den Lebenden und den Toten gehört. Da kann einen Neid überkommen. Und das in einem Bergbauerndorf.

Literatur: Gion A. Caminada u. a., Stiva da morts. Vom Nutzen der Architektur. gta Verlag Zürich, 2003.

Freitag, 31. Oktober 2003

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