Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Portal zum ouml;esterreichischen EU-Vorsitz 2006 Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Ich drücke den Arm meiner Mutter

Von Bernhard Kathan

Italienische Friedhöfe kennen Hochhäuser für Tote. Das ist konsequent. Warum sollten Menschen, die in großen Wohnblocks dicht gedrängt, aber anonym nebeneinander leben, nach ihrem Tod nicht in ähnlicher Weise organisiert sein? In der heutigen Gesellschaft, die sich von allen Vorstellungen zyklischen Denkens verabschiedet hat, kommt uns die Bedeutung der Erdbestattung zunehmend abhanden. Keine Rückkehr in die Erde, aus welcher der Mensch nach altem Glauben gemacht ist, keine Hoffnung mehr, dass sich dereinst die Gräber öffnen werden, Herz, Haut, Knochen, Gedärm und alles andere, was den menschlichen Körper ausmacht, wieder zu neuem Leben zusammengefügt werden. Marie Luise Kaschnitz dachte noch, dies geschähe, und zwar "im Fluge".

Casarsa. Wer wüsste schon etwas vom Friedhof dieses trostlosen Ortes in der Nähe von Pordenone, wäre hier nicht Pier Paolo Pasolini begraben? Hier wurde er geboren, hier wurde er als junger Lehrer nach dem Bekanntwerden seiner Homosexualität vom Schuldienst suspendiert. Von hier flüchtete er mit seiner Mutter in die Anonymität Roms. Ausgerechnet er sollte später das einfache Leben und den archaischen Katholizismus, der seine Kindheit geprägt hatte, in seiner Kritik an Konsumgesellschaft und Kapitalismus zitieren. Pasolini: "Casarsa hat mich enttäuscht, doch eigentlich enttäuschen mich alle Dinge, während sie noch da sind. Wenn sie dann vorbei sind, weine ich ihnen nach."

Der Friedhof liegt etwas außerhalb von Casarsa. Entlang der Friedhofsmauern finden sich aufwendige Grabstätten, richtige Totenhäuser, deren Architektur jeweils dem Geschmack jener Zeit entspricht, in der sie errichtet wurden. So viel Aufwand konnten sich verständlicherweise nur die wenigsten leisten. Die meisten sind in einfachen Gräbern, die allerdings auch einen großen Spielraum der Ausgestaltung lassen, bestattet. Normierte Urnen- und Nischengräber bilden die schlichteste Form der Bestattung. Bisher fehlt allerdings ein Hochhaus für Tote.

Pasolinis Mutter, Susanna Pasolini Colussi, wollte gemeinsam mit ihrem Sohn begraben sein. Sie wünschte sich, dass nach ihrem Tod auch seine sterblichen Überreste nach Casarsa überführt würden. Beide, die zeitlebens eine sehr tiefe Beziehung verband, sind heute im selben Grab bestattet. Pasolini in einer Erinnerung an seine Mutter: "Ich drücke fest den Arm meiner Mutter (. . .) und tauche mein Gesicht in den armseligen Pelz, den sie trägt: In dem Pelz rieche ich den Duft des Frühlings, eine Mischung aus Frost und milder Wärme, aus wohlriechendem Schlamm und noch geruchslosen Blumen, den Geruch meines Zuhauses und des Landes ringsum. Dieser Geruch in dem armseligen Pelz meiner Mutter ist der Geruch meines Lebens."

Es ist nicht schwer, Pasolinis Grab zu finden. Auf eigentümliche Weise unterscheidet es sich von allen anderen Varianten der auf diesem Friedhof vorhandenen Bestattungsformen. Dabei ist es sehr einfach. Sieben Lorbeersträucher, zu kleinen Bäumen hochgezogen, bilden eine Baumkrone. Genährt von den Gebeinen der Mutter und ihres Sohnes.

Pasolini ist wohl der Einzige, dem auf diesem Friedhof ein tempelartiges Totenhaus gebühren würde. Zum Glück kam niemand auf diese Idee, dienen doch solche Totenhäuser dazu, die Widersprüchlichkeit des Lebens endgültig zu befrieden. Nicht zufällig betont ihre Architektur einzig die Fassade, den Schein des Lebens, an dem nicht gerüttelt werden darf. Wäre Pasolini ein ähnliches Denkmal errichtet worden, so hätte man ihn ein für alle Mal eingemeindet und seine ganze Vitalität und Widersprüchlichkeit zum Schweigen gebracht. Seine Texte eignen sich nicht nur als Begleitlektüre für den Friaulreisenden. Wer in einer Zeit, deren Ideal im geringsten Reibungsverschleiß besteht, Pasolinis Gedichte und Essays liest, wird zwar keine Antworten bekommen, aber es wird sich auf die kritische Betrachtung der Welt günstig auswirken: Sie kennen wie die Lorbeerhecke immer noch Triebe und Früchte.

Freitag, 01. November 2002

Aktuell

Blicke aufs Häusermeer
Erhöhte Aussichtspunkte haben schon immer Schaulustige angelockt
Wer übernimmt die Führung?
Die kommenden Probleme und Entwicklungen der Weltwirtschaft – Ein Panorama
In Millionendimensionen
Grundlegende Befunde über den allseits sichtbaren Wandel Chinas

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum