Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Portal zum ouml;esterreichischen EU-Vorsitz 2006 Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Verwaiste Eltern

Der lange Weg der Trauer nach Fehl-und Totgeburten
Von Martin Scheid

Wollen Sie ihr Kind sehen?, fragt die sichtlich selbst bestürzte Hebamme die geschockte Mutter. Beatrix schüttelt den Kopf. Sie will es nicht wahrhaben, ein totes Kind zur Welt gebracht zu haben. Im Taumel von Wut, Schmerz und Schwäche will sie nur eines: selbst sterben. Die große Leere, die sich vor ihr auftut, vernichtet jeden Lebenswillen. Das regungslose Lebewesen, das jetzt in ein Tuch eingewickelt weggetragen wird, hat vor zwei Tagen noch in ihrem Bauch gestrampelt, sie hat mit ihm gesprochen, das Glockenspiel auf den Bauch gelegt, gespürt, wie das Ungeborene ruhiger wird, hat die Wiege überzogen, die Hemdchen und Höschen gerichtet, alles vorbereitet zum Empfang des ersten Kindes. Jetzt soll es tot sein?

Der Arzt hat das Kreißzimmer verlassen, er hat schließlich seine Schuldigkeit getan, die Frau ist medizinisch bestens versorgt. Nach dem zweiten Versuch der Hebamme, der Frau das Kind zu zeigen, ist auch sie gegangen. Ihr Mann ist jetzt bei ihr, zusammen sind sie allein, allein gelassen mit ihrem Schmerz. Kein Einzelschicksal. Tausende Frauen pro Jahr bleiben meist allein mit ihrem Verlust, ihrer Trauer. Viele Männer sind emotional selbst so überfordert, dass sie ihren Frauen kaum Hilfe in der Bewältigung dieses Schicksalsschlages bieten können. Auch der gut gemeinte Trost naher Angehörigen - "Sei froh, dass Du es nicht gesehen hast, es wär eh behindert gewesen" oder "Mach Dir doch nichts draus, in einem Jahr schaut die Welt wieder anders aus, wenn Du ein gesundes Kind im Arm halten wirst" - kann sie nicht beruhigen.

Neuer Weg in Amstetten

Im Krankenhaus Amstetten sieht die Welt für Frauen mit Tot- oder Fehlgeburten tatsächlich etwas anders aus. Vor zehn Jahren hat man dort umzudenken begonnen. Landete früher das tote Kind beim medizinischen Müll, wird es heute tagelang gekühlt aufbewahrt, um es den Müttern zeigen zu können, wenn diese dazu bereit sind. Das kann oft tagelang dauern, weiß die Hebamme Christa Wagenhofer. Der unbeirrbare Wunsch einer Frau, ihr totes Kind noch einmal zu sehen, hat im Krankenhaus Amstetten zu einem würdevollen Umgang mit Tot- und Fehlgeburten geführt. Damals wollte man den Frauen den Schock dieses Anblicks ersparen. Mit Aussagen wie "Schauen Sie das Kind nicht an" oder "Es ist besser, Sie behalten ihr Baby ohne diesen Anblick in Erinnerung" wird heute noch in vielen Krankenhäusern den Eltern das Vergessen und Verdrängen nahe gelegt, ihnen die Chance zum Abschiednehmen genommen.

Auch in Amstetten kamen die Kinder früher sofort in die Pathologie, von wo sie zusammen mit amputierten Zehen und Blinddärmen in anonymen Plastiksäcken verschwunden sind. In einer Nacht- und Nebelaktion brachte die Hebamme damals, gegen alle Vorschriften verstoßend, der verzweifelten Mutter den leblosen Körper ihres Kindes. Jahre danach kam diese Frau zurück ins Spital, um sich für dieses Geschenk des Abschiednehmendürfens zu bedanken.

Auch Petra Zagler hat ihre Anuk als totes Kind in den Armen gehalten. Allen Müttern, die Angst vor diesem Moment haben, möchte sie an dieser unvergesslichen Erfahrung teilhaben lassen. Ein Kind, das im Tod einen derartigen Frieden ausstrahlt, zeuge von einem Leben nach dem Tod, ist sie überzeugt. Von einem Leben, das vielleicht sogar schöner ist als unseres hier auf Erden. Durch diesen Anblick habe sie jegliche Angst vor dem Tod verloren. Noch immer aber fließen die Tränen, wenn sie an ihren kleinen Engel denkt. Auch die gesund geborene zweite Tochter kann und soll diesen Verlust nicht wett machen.

Im Leben der Mutter hat sich inzwischen vieles verändert. Wertigkeiten haben sich verschoben, die Freude am eigenen Leben hat sich gesteigert. Wenn andere über zu Schrott gefahrene Autos trauern, kann sie nur den Kopf schütteln. Das gemeinsam mit ihrem Mann durchlittene Leid hat ihre Beziehung vertieft, das Leben noch wertvoller gemacht. Auf die ständige Frage nach dem Warum hat sie keine Antwort gefunden, wird sie auch nie eine finden, ist sie überzeugt. Aber einen Sinn hat es schon gehabt: seither lebt sie ihr Leben intensiver. Jeder Tag könnte der letzte sein. Nur mit der Art und Weise, wie die Umwelt mit dem Tod ihrer Tochter umging, hadert sie bis heute. "Ich kann es einfach nicht verstehen, dass meine Tochter so schnell vergessen wurde. Ganz nach dem Motto 'Aus dem Leben, aus dem Sinn' wird sie nicht als Mensch akzeptiert; es ist, als ob sie nie unsere Tochter gewesen wäre, als ob sie nie existiert hätte."

Von ihrem Mann kommt ein zweiter Vorwurf, dem sich viele Frauen und Männer nach dem Ereignis einer Tot- oder Fehlgeburt anschließen. Kein Mensch, nicht einmal die besten Freunde erzählen, dass sie selbst schon von glücklos geendeten Schwangerschaften betroffen waren. Falsch verstandene Rücksichtnahme und der generell tabuisierte Tod machen es noch immer schwer, darüber zu sprechen. "Wir hätten uns ganz anders auf die Schwangerschaft eingestellt", so der Vater eines verstorbenen und eines lebenden Kindes, "hätten wir gewusst, wie häufig es zu Fehlgeburten kommen kann. Lange haben wir geglaubt, völlig alleine mit unserem Schicksal da zu stehen. Erst im Nachhinein rücken viele damit heraus, dass ihnen das auch schon passiert ist."

In der Geburtsstation Amstetten gehört es heute zur Routine, dass von den toten Babys Fotos gemacht und Fußabdrücke abgenommen werden. In der Kapelle des Krankenhauses steht den Betroffenen eine eigene Gedenkstätte zur Verfügung. Zu jeder Tages- und Nachtzeit haben Frauen und Männer Zutritt zu diesem Ort stillen Gedenkens. Auch die Seelsorgerin Christine Winkelmayr ist an der Seite der Frauen, wenn sie Trost brauchen. Als "lebende Klagemauer" fühle sie sich manchmal. "Ich versteh's ja auch nicht", meint sie, "aber es ist so wichtig, dass die Frauen ihre Wut, ihr Hadern mit dem Schicksal ausdrücken können. Gott hält das aus", sagt sie ihnen immer wieder und leitet durch Weinenlassen den Weg der Trauer ein.

Wie alle im Spital sieht sie es als Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Trauerarbeit an, wenn eine Frau ihr totes Kind noch einmal in die Arme nimmt. Nur was man einmal gehalten hat, kann man wieder loslassen. Auch der Realität ins Auge zu sehen, tote Kinder zu betrachten, sie anzufassen und zu streicheln, ist, selbst wenn diese behindert waren, stets leichter erträglich, als ein Leben lang wüste Fantasiebilder mit sich zu tragen, erzählt die Pastoralassistentin aus ihrer Praxis. Im kostenlosen Sammelgrab des städtischen Friedhofs können verwaiste Eltern ihre abgestorbenen Föten oder toten Kinder begraben. Das ganze Jahr über zeugen brennende Kerzen und Blumen davon, wie nötig es ist, einen Ort der Trauer zu haben.

Namen für Totgeborene

"Ein Kind ist nur ein Kind, wenn es lebt", beklagt Karl Weghaupt, Primar der Amstettener Geburtenhilfestation, die Einstellung der Gesellschaft zu Tot- und Fehlgeburten. Für ihn ist das drei Zentimeter kleine "Etwas" genauso ein Kind, wie das fünfzehn Zentimeter "große" Frühgeborene. Unfassbar für betroffene Mütter und Väter ist auch die gesetzliche Grundlage, dass eine Fehlgeburt eines Kindes unter 500 Gramm als reine "Sache" definiert wird und niemals Eingang in ein Personenstandsregister findet. Dementsprechend geben verwaiste Eltern diesen Kindern selten Namen. Primar Weghaupt geht andere Wege. Die Eltern werden ermuntert, ihren Kindern Namen zu geben. Namen, durch die sie am Leben erhalten werden können, Namen, damit die möglicherweise nachfolgenden Geschwister wissen, wer vor ihnen war. Diese Kinder zu vergessen kann schwerwiegende Folgen haben. Beispiele aus der Familientherapie zeigen immer wieder, wie stark das Verheimlichen eines Abortus, einer Fehl- oder Totgeburt nicht nur die Mutter, sondern auch noch Generationen danach belasten kann.

Für die meisten Mütter der Kriegs- und Nachkriegsgeneration war es eine Art Naturereignis, das man so schnell wie möglich zu vergessen suchte. Dass dies nicht gelingt, zeigen die alljährlich stattfindenden Gedenkfeiern für diese Kinder. Viele ältere Frauen, auch Großmütter, kommen dorthin, um nach 20, 30 oder 40 Jahren erstmals wieder um ihre verlorenen Kinder zu weinen. Sie alle hatten damals nur ein dünnes Pflaster auf ihre tiefe Wunde gelegt, aber keine Gelegenheit zur Trauer, zur Heilung dieser Wunde gehabt. Der letzte Freitag im Mai ist in Amstetten inzwischen zum "Tag der zu früh verlorenen Kinder" geworden. Ähnliche Gedenkfeiern und Gottesdienste werden von einigen Pfarren Österreichs angeboten (siehe Kasten unten).

Wir brauchen Trauerräume, meint Pierre Stutz, Priester und spiritueller Begleiter von Trauernden. Wir brauchen Orte, wo unsere Tränen fließen können, wo Menschen in ihrem Rhythmus so lange trauern können, bis Verwundungen verheilt sind. Klage- und Trauerräume werden so zu Orten der Hoffnung. Gerade jetzt, vor, zu und nach Allerheiligen, geht das Grab der zu früh verstorbenen Kinder in Amstetten vor Blumen über. Frauen stehen davor, zünden Lichter an und sinnieren still über den Text von Antoine de Saint-Exupéry auf dem dunklen Stein vor dem Grab: "Wenn Du bei Nacht den Himmel anschaust, so ist es Dir als leuchten tausend Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Und wenn Du Dich getröstet hast, wirst Du froh sein, mich gekannt zu haben".

Weitere Informationen:

http://www.gutehoffnung-jaehesende.com

http://www.nureinhauchvonleben.at.tt

http://www.glueckloseschwangerschaft.at

Freitag, 01. November 2002

Aktuell

Rätselhafter Genius
Der Komponist Mozart ist nicht zu beschreiben – trotzdem wird es hier versucht
Musik für Körper und Geist
Ein Gespräch mit dem Geiger Hiro Kurosaki über die Kunst, Mozart zu spielen
Produktive Dekadenz
Was Mozart und der Romancier Marcel Proust gemeinsam haben

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum