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Gedenken am Straßenrand

Kreuze für Verkehrstote sind öffentliche Zeichen der Trauer
Von Peter F. N. Hörz

Tucson, Arizona, nachmittags vier Uhr. Durch den Verkehr bahnt sich der Chevrolet den Weg durch die westlichen Vororte. Noch fünf Meilen, dann verengt sich die Stadtautobahn zum ordinären Highway. Langsam wird der Verkehr schwächer und schicke Autos werden seltener. Auch die Anwesen, die zu beiden Seiten in der Wüstenlandschaft stehen, werden ärmlicher. In Three Points gabelt sich die Route. Highway Nummer 286 führt geradewegs zur mexikanischen Grenze, um dort in eine Sandpiste zu münden. Highway 86 dagegen bildet zusammen mit Highway 85 einen 150 Meilen langen Bogen durch den wüsten Süden des Grand Canyon State. Vor der langsam untergehenden Sonne breitet sich ein weiter Horizont aus: Hügel, Felsen, Buschwerk und ausladende, fleischige Kakteen. Ein dünn besiedelter Landstrich, knapp vor der mexikanischen Grenze. Ein Landstrich, in dem asphaltierte Straßen selten und Tankstellen so rar sind, dass Fremden geraten sei, an jeder Zapfsäule die Treibstoffvorräte zu ergänzen. Aber Fremde kommen hier ohnehin nur selten freiwillig her, es sei denn in jenen zwei Frühlingswochen, in denen im Organ Pipe Cactus National Monument die Wildblumen blühen.

Eine gottverlassene Wüstengegend, in der es nicht viel zu sehen gibt und in der nie etwas passiert. Oder doch? Während der Chevy auf dem rauen Straßenbelag nach Südwesten rollt und die Dixie Chicks im Autoradio vom Leben im Westen singen, werden die Fahrzeuginsassen eigenartig ruhig, denn eines ist unübersehbar: Highway Nummer 86 ist eine Straße des Todes! Eine Straße, auf der gestorben wird. Und zwar massenhaft.

Die Toten des Highway 86

Weiße Kreuze, die das Sonnenlicht reflektieren, verziert mit Fähnchen, Wimpeln, Plüschtieren, häufig umstellt von typisch mittelamerikanischen Grablichtern - das Ganze umrahmt von kreisförmig angelegten Einfassungen aus weißen Steinen - auf diese Weise erinnert man an die Verkehrstoten des Highway 86. Dergleichen Gedenkstätten gibt es hier so viele, dass man schon die Augen schließen müsste, um nicht auf sie aufmerksam zu werden. Oft sind es zwei, drei oder noch mehr Kreuze, die an einem Punkt beieinander stehen und vom Tod mehrerer Fahrzeuginsassen oder Unfallbeteiligter künden. Manchmal zeugen Kreuze in unterschiedlicher Größe davon, dass auf Highway 86 mitunter ganze Familien ausgelöscht werden.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Highway 86 stellt keine besonderen Ansprüche an die Fahrzeugbeherrschung der Fahrer. Genau genommen könnte jedes Kind am Highway 86 sicher unterwegs sein. Gestorben wird auf dieser Straße nämlich nicht der engen Kurvenradien, der unübersichtlichen Kreuzungen, des dichten Verkehrs- oder der Steigungs- und Gefällestrecken wegen; gestorben wird hier der Hoffnungslosigkeit einer vergessenen mexikanisch-indianischen Bevölkerung wegen. Einer Hoffnungslosigkeit, die sich - Sozialprogramme hin, Polizeikontrollen her - in exzessivem Alkoholkonsum, in Trunkenheit am Steuer und in nächtlichen Hochgeschwindigkeitsfahrten niederschlägt. Nirgendwo seien die Straßen nachts gefährlicher, als im Bereich der Indianerreservate, sagt die US-amerikanische Unfallstatistik und ein deutschsprachiger Reiseführer warnt vor nächtlichen Fahrten in solchen Regionen. Nirgendwo sei der Vollkaskoschutz für das Kraftfahrzeug wichtiger, als dort, wo die besoffenen Indianer nachts unterwegs seien, bedeutet mir mein Versicherungsagent . . .

In ihrer auffälligen Gestaltung, ihrer Buntheit und in ihrer Dimension sind die Kreuze und Schreine, die den Highway 86 säumen, für den europäischen Betrachter zunächst fremd. Im Kern jedoch handelt es sich dabei um eine Form des Gedenkens an im Straßenverkehr tödlich verunglückte Angehörige und Freunde, die uns von unseren Straßen durchaus vertraut ist, wiewohl wir als fröhlich Gas gebende Automobilisten allzu gerne die schlichten Holzkreuze am Straßenrand übersehen wollen. Mag sein, dass die Einheimischen längst auch die blau-weiß-roten Fähnchen und die Herden von Plüschtieren am Highway 86 zu ignorieren gelernt haben; für all jene, welchen diese regionale Ausformung des Totengedenkens am Straßenrand fremd ist, sind die Kreuze entlang dieser Route zumindest Anlass, über den Tod auf der Straße und die mit ihm verbundene Gedenkkultur nachzudenken . . .

Der besondere Tod

Den Schauplatz eines außergewöhnlichen Sterbens zu markieren, den Ort des unnatürlichen Todes zu etikettieren, mit Bedeutung aufzuladen und mit dem tragischen Ereignis zu identifizieren, ist keine Modeerscheinung der automobilen Massenverkehrsgesellschaft. Vielmehr ruft der plötzliche, der unerwartete und damit unvorbereitet eintretende Unfalltod in den meisten abendländisch geprägten Gesellschaften mehr Betroffenheit, mehr psychisches Engagement hervor, als der natürliche und zu erwartende Tod von Alten und Kranken. Tödliche Unfälle ereilen nicht nur die Alten, sondern auch die Jungen; Menschen, die Familien zu ernähren, Kinder zu versorgen haben, und natürlich sind auch (und gerade) junge Menschen von tödlichen Unfällen betroffen. Deshalb ist der Unfalltod ein außergewöhnlicher, tragischer Tod und erfordert besondere Bewältigungsstrategien auf Seiten der Hinterbliebenen.

In vormoderner Zeit setzte man tödlich Verunglückten ein Marterl an den Sterbeort, ein Kreuz, das dazu auffordern sollte, für das Seelenheil des unvorbereitet und demnach ohne letzte Sakramente Abberufenen zu beten. Der tragische Tod wurde veröffentlicht und all jene, die das Kreuz am Unglücksort passierten, waren aufgefordert, an der Bewältigung dieses Todes mitzuwirken. Insofern ist es naheliegend, die heutigen Kreuze am Straßenrand als moderne Marterl zu bezeichnen, denn auch hier werden der Tod eines Menschen und das Verlustempfinden einer spezifischen sozialen Gruppe öffentlich gemacht, wiewohl dem Gebet für das Seelenheil des Verunglückten in weitgehend säkularisierten Gesellschaften kaum mehr Bedeutung zukommt.

Der Tod, durch Asylierung, Professionalisierung und Privatisierung der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit entzogen, ist den Menschen fremd geworden. Philip Ariès und Norbert Elias haben die Geschichte von der Verdrängung des Todes, von der Wandlung seiner Bedeutung im menschlichen Leben und vom einsamen Sterben erzählt. Der Unfalltod indessen - allzu häufig eintretend und dennoch nicht die Norm - reißt Familien, Nachbarschaften und Freundeskreise aus der Normalität des verdrängten Todes heraus, und wird um so schwerer bewältigt, als er unerwartet auftritt und keinen Sinn erkennen lässt. Zumindest weit weniger Sinn als der natürliche, der Alters- oder Krankheitstod. Deshalb steht am Ende eines langen Leidenswegs weit weniger ausgeprägt die Frage nach dem "Warum", als dort, wo man nach plötzlichem Unfalltod Kreuze am Straßenrand aufstellt.

Der Tod auf der Straße - unter rationalen Gesichtspunkten wäre die Frage nach dem "Warum" an die Verkehrspolitik zu richten, wäre über Verkehrserziehung, Promillegrenzen, über Nachtautobusse und Disco-Heimfahrdienste zu sprechen. Und überhaupt: Unter rationalen Gesichtspunkten wäre darüber zu reden, dass die Risiken der Kulturtechnik "Autofahren" weit größer sind als jene, die von Kernkraft, Flugreisen und Zigarettenrauch ausgehen und damit permanent unterschätzt werden. Doch rationale Gesichtspunkte treten angesichts des menschlichen Leids, das die Angehörigen von Unfallopfern erfahren, in den Hintergrund. Und für jene, die dieses Leid zu bewältigen haben, kommen Verkehrspolitik und Risikodiskussion ohnehin zu spät.

Ordnung durch Rituale

Weil sich die (post)industrielle Gesellschaft so verhält, als gäbe es keinen Tod, weil uns Wissenschaft und Forschung die Antworten auf unsere eigentlichen Fragestellungen schuldig bleiben, stehen wir meist hilflos vor dem Phänomen Tod. Eine Hilflosigkeit, die nach wiederhergestellter Ordnung schreit, nach Ordnung durch Rituale. Und weil unsere Hilflosigkeit um so größer wird, desto weniger sinnhaft oder wenigstens folgerichtig ein Todesfall erscheint, erfordert der Unfalltod ein Mehr an Bewältigungsritualen, ein Mehr an Trauerarbeit und ein Mehr an Gemeinschaftsstiftung. Trauer braucht Rituale und Orte - immer und überall. Aber das Trauern ist in der offenen und säkularisierten Gesellschaft schwerer geworden, als in Zeiten, da die Sinnstiftungen von der Kirche kamen und die Rituale von Sitte und Brauch bestimmt wurden. Die alten Ordnungen des sukzessiven Abschiednehmens und des langsamen Wiedereintritts der Trauernden in die soziale Normalität sind Geschichte, und der Umgang mit dem Toten selbst ist keine Sache der Angehörigen mehr, sondern Aufgabe von Spezialisten. An der Unfallstelle eines Verunglückten eine Gedenkstätte einzurichten wird vor diesem Hintergrund zu einer der wenigen Handlungen, welche Angehörige und Freunde tatsächlich selbst tun können, um ihrer Verbundenheit mit dem Toten und der Verbundenheit als Trauergemeinschaft Ausdruck zu verleihen.

In Krankenhäusern, in Altenheimen stellt man keine Totengedenkkreuze auf, denn das Sterben an solchen Orten gilt uns als normal. Das zu frühe, das nicht verstandene und vielleicht auch unverstehbare Sterben im Verkehr, der Tod außerhalb der für das Sterben vorgesehenen Einrichtungen, hebt den Unfallort vor allen anderen Orten in der Landschaft heraus. Seine Hervorhebung durch Symbole, seine eindeutige Kenntlichmachung als Bezugsort für die Trauer einer bestimmten Sozietät scheint gerade auch in der säkularisierten Gesellschaft an Bedeutung zu gewinnen - besonders bei jugendlichen Hinterbliebenen. Diese Tendenz passt in eine Zeit, da man verstärkt nach authentischen Erinnerungsorten sucht und von der Renaissance der Magie der Orte spricht. Am Ende scheint es, als bedürfe die aufgeklärte, die rationalisierte und säkularisierte Gesellschaft der Remythisierung des Lebens und der Sinnschöpfung aus jenen Glaubens- und Aberglaubenssätzen, die sie selbst zu tilgen aufgebrochen ist. Die Moderne aber - so scheint es - hat nicht nur eine Reihe von Fragen offen gelassen, sondern selbst auch neue Fragen aufgeworfen. Offene Fragen, die sich ganz offensichtlich nur durch Rituale, durch Symbole und durch Mythisches bewältigen lassen. Moderne Menschen, die an eine besondere, eine übersinnlich geprägte Charakteristik von Unfallorten glauben, so wie man plötzlich wieder an die Heilkraft der Kräuter glaubt und allerhand Mythisches in die Wellnessphilosophie mit einbezieht. Der Entzauberung der Welt folgt ihre Wiederverzauberung!

Öffentlich gemachte Trauer

Die als gefühllos gebrandmarkte Moderne wird wieder emotionalisiert. In Talk-Shows werden Tränen vergossen und Wutausbrüche zelebriert. Die als förmlich und distanziert empfundene Gesellschaft soll Gefühle zeigen, so lautet der kategorische Imperativ, ausgesprochen vom Chor der Therapeuten, der Gesellschafts- und Kulturdeuter. Öffentlich gemachte Trauer, demonstrative Gefühlsausbrüche gelten - den Jüngeren - als positiv besetzte Zeichen einer Reemotionalisierung der als kalt empfundenen gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Dass wir den Kreuzen am Straßenrand heute auch in so nachhaltig säkularisierten Regionen wie Ostdeutschland begegnen, wird erst vor dem Hintergrund der verbreiteten Bedürfnisse nach mehr emotionaler Expressivität verständlich. Die Gesellschaft, die auch schon als "Bekenntnisgesellschaft" charakterisiert worden ist, trägt nach außen, was immer sie bewegt, und empfindet die entfesselten Gefühlsbezeugungen als einen Schritt zu mehr Freiheit, ohne daran zu denken, dass die Prägung neuer Rituale schlussendlich auch neue Zwänge und neue Pflichten evoziert.

Totengedenken am Straßenrand - ein im doppelten Sinne höchst zeitgemäßes Ritual: Signalisiert die Anzahl der Kreuze - kaum zu übersehen am Highway 86, weniger auffällig an unseren Landstraßen - das Opfer, das die automobile Gesellschaft offenbar zu bringen bereit ist, so kommt in der Errichtung der Gedenkkreuze das moderne Bedürfnis der öffentlichen Gefühlsbezeugung zum Ausdruck.

Wie vor einigen Jahren in einem Fachblatt zur Friedhofskultur zu lesen war, gilt vielen der Ausdruck der Trauer am Unfallort als die direktere, die ehrlichere Form der Erinnerungsarbeit. Ein nicht völlig abwegiger Gedanke, denn vermutlich steckt in den selbst gestalteten Kreuzen, den Plüschtierkollektionen, den Kerzen und (Kunst-)Blumenarrangements mehr Symbolkraft, als in den vom Friedhofsgärtner gepflanzten Buchsbaumreihen und Stiefmütterchenbeeten.

Freitag, 01. November 2002

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