Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Portal zum ouml;esterreichischen EU-Vorsitz 2006 Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Der große Kehraus

Über das kurze Leben von Menschen und von Dingen
Von Bernhard Kathan

Als mein Nachbar kurz nach einem Schlaganfall starb, erlebte ich eine beindruckende Szene. Noch ehe er begraben war, stopfte seine Frau seine Kleidung in die im Innenhof stehenden Mülltonnen. Kleidung, die Verstorbene gewärmt, ihre Haut vor der Sonne geschützt hat, ist nicht dazu geeignet, die Haut oder die Körper Lebender zu schützen. Sauber gebügelt und gefaltet lagen seine Hemden in den Tonnen. Das Ergebnis unseres Lebens ist offensichtlich Abfall und Schmutz.

Nur wenige Jahre später starb seine Frau. Nun wurde die Wohnung endgültig ausgeräumt, gewissermaßen geschichtslos und neutral gemacht. Nun landeten auch ihre Kleider in den Mülltonnen. Sessel, Stühle, Betten und was sonst in einer Wohnung anfällt, wurde auf die Straße hinuntergetragen, um als Sperrmüll entsorgt zu werden. Noch kurz zuvor fand das Meiste, was hier aufgetürmt wurde, Verwendung, nun war alles zu Gerümpel geworden, all jenen freigegeben, die in solchem Zeug etwa nach alten Lampenschirmen oder Büchern wühlen. Am Rande des Haufens stand ein Einkaufswagen, der randvoll mit Gläsern mit unterschiedlichsten Kompotten und Marmeladen gefüllt war. Alles aus Omas Küche, die sich damit wohl viel Mühe gegeben haben muss. Niemand rührte diesen Einkaufswagen an. Lag es daran, dass Inhaltsstoffe und Ablaufdatum nicht angegeben waren? Die städtische Müllabfuhr sah sich für Essbares nicht zuständig. Sie transportierte den gesamten Hausrat ab, ließ einzig diesen Einkaufswagen zurück. Da stand er nun und erinnerte in deutlicher Form an die Obszönität des Todes, daran, dass Essbares, welches mit Toten in Verbindung gebracht wird, dem Tabu des Verzehrs unterliegt. Nach einigen Tagen war der Einkaufswagen plötzlich verschwunden. "Mit Liebe gemacht", das behaupten Lebensmittelkonzerne heute von ihren Kuchen und Marmeladen.

Das Prinzip Entrümpelung

Vor kurzer Zeit starb die alte Frau, die in der Wohnung über mir lebte. Sie muss wohl gestürzt sein. Tot wurde sie in ihrem Blut liegend gefunden. Auf keinen Fall wollte sie in ein Pflegeheim. Kurze Zeit nach ihrem Tod wurde ich eines Morgens durch heftigen Lärm geweckt. Zuerst dachte ich, in der Wohnung über mir würden Zwischenwände herausgerissen. Wie sich dann zeigte, wurde dieser Lärm durch Arbeiter einer auf Wohnungsräumungen spezialisierten Firma verursacht, die mit einem Vorschlaghammer das nicht brauchbare Mobiliar zertrümmerten und Teile von Betten, Kästen oder anderen Gegenständen aus einem Fenster in den Hof hinunterwarfen. Für die alte Frau waren all diese Dinge wichtig, Teil ihres Lebens, Identitätsausstattung, Erinnerung. Plötzlich ist alles nur noch Ballast, der möglichst rasch entsorgt sein will.

Ich hatte vor dieser Frau sehr großen Respekt. Sie war sehr klein. Ihre rachitischen Beine, die jeden Schritt zu einem Risiko werden ließen, und ihre eingefallenen Augen ließen mich manchmal an eine Vogelscheuche denken, die früher auf den Äckern zu sehen waren. In ihren letzten beiden Lebensjahren war sie schon sehr verwirrt und irrte sich mehrfach in der Wohnungstür. Unter Umständen stand sie plötzlich nachts oder frühmorgens neben meinem Bett und verstand nicht mehr, dass sich ihre Wohnung so verändert hatte und ein Mann in einem Bett lag. Während des Zweiten Weltkrieges wurde sie Mutter eines ledigen Kindes. Obwohl nur Arbeiterin, hat sie es geschafft, diesem Kind den Besuch einer besseren Schule, später der Universität zu ermöglichen. Das Wenige, das sie hinterließ, ließ sich offenbar nicht in die Welt ihres Sohnes oder ihrer Enkel integrieren. Das brachiale Ausräumen der Wohnung, die Überantwortung all dessen dem Abfall, was sie besaß, zeigt deutlich, dass wir in einer Gesellschaft leben, welche alle Bindung verabscheut. Wir umgeben uns mit Dingen, die letztlich auf keine Geschichte mehr verweisen.

Was ließe sich weitergeben?

Die Zeiterfahrung des modernen Menschen begründet sich zunehmend lebenszeitlich. Wer im Garten einen Baum pflanzt, kauft ihn zehnjährig, also an der Lebenszeit eines Baumes gemessen, bereits in jugendlichem Alter. Menschen leben in der Regel nicht so lange, um Bäume, die sie setzen, noch erwachsen zu sehen. Uns kommt auch die Vorstellung abhanden, etwas zu tun, was für unsere Kinder von Bedeutung sein könnte, etwa einen Baum zu pflanzen, dessen Früchte und dessen Schatten sie genießen könnten. Unsere Kinder, sollten sie sich überhaupt noch für Bäume interessieren, werden einen anderen Geschmack haben und die von uns gesetzten Bäume durch andere ersetzen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist der Tod zu einem faktischen Ereignis geworden. Nicht nur drohen uns alle Jenseitsvorstellungen abhanden zu kommen, es wird auch schwieriger daran zu glauben, in der Arbeit, im Kampf für ein politisches Ziel oder in den eigenen Kindern fortzuleben. Was ließe sich noch weitergeben, abgesehen von guten Wünschen und weitgehend neutralen Werten?

Übrigens beginnen manche schon bei Lebzeiten, viele Dinge wegzugeben, Spuren ihres Lebens zu tilgen. Die Kinder sollen mit der Hinterlassenschaft nicht "belastet" werden. Es geht zwar um Dinge, aber es spiegelt deutlich das Abhandenkommen unserer Geschichte. Es gibt auch unsichtbaren Ballast. Ein Großteil aller psychotherapeutischen Sitzungen dient dem Kehraus, der Entrümpelung der Vergangenheit. Auch hier geht es darum, von verpflichtenden Bindungen befreit zu werden. So entlastend dies für den einzelnen sein mag, es bestimmt nicht nur unser Verhältnis zu den Toten, sondern jenes zu den Lebenden wie zu jenen, die erst geboren werden.

Pasolini meinte, dass eine Gesellschaft, in der die Dinge des täglichen Lebens so leichtfertig in Abfall verwandelt würden, das Leben selbst entwerte. Ein wesentliches Merkmal aller Verbrauchsgüter liegt in ihrer Geschichtslosigkeit. Neben allen anderen Funktionen, die der Verpackung zukommt, ist ihre wohl wichtigste, die Unberührtheit des Produkts zu behaupten. Wer immer eine Verpackung öffnet, sie wird zum ersten Mal geöffnet.

Der Gegenstand in der Verpackung scheint jungfräulich, unverbraucht, neu und sauber, ohne Lebensspuren, oft sogar keimfrei. Es scheint, als sei dieser nie mit schmutzigen fremden Fingern in Berührung gekommen, wie das Fruchtfleisch der Banane, wenn es nach dem Abziehen der Schale zum Vorschein kommt. Wird ein Gegenstand am Ende seiner industriellen Fertigung verpackt, so wird all das gelöscht, was bislang zu seiner Herstellung nötig war oder getan werden musste.

Die Verpackung hat die Funktion, den Gegenstand ruhig zu stellen. Diese Ruhephase folgt auf die dynamische Phase seiner Herstellung und geht jener nicht weniger unruhigen Phase des Verzehrs, der Abnützung und der Zerstörung voraus. Unverpackte Dinge haben etwas Obszönes.

Bis in unsere Zeit haben viele Dinge des täglichen Gebrauchs manchmal Generationen überdauert. Sie wurden von der Mutter auf die Tochter, von dieser auf ihre Tochter, vom Vater auf den Sohn übertragen, weitergegeben. So teilten all diese Dinge eine Geschichte von Menschen mit. Nur in unserer Vorstellung kann man davon sprechen, dass es sich um Mitteilungen von Toten handelt. Es waren wichtige, beredte Objekte der Tradierung, die nicht vergessen ließen, selbst nur Besucher oder Gast auf dieser Welt zu sein.

Wir dagegen umgeben uns mit Dingen, deren Halbwertszeit in der Regel nicht einmal ausreicht, ihre Gebrauchsanleitung zu Ende zu lesen, sind mit Objekten beschäftigt, welche die Zeichen von Abfall an sich tragen, kaum dass wir sie gekauft haben. Ginge es nur um Dinge, um Spülmaschinen, Computer, Videorekorder oder ähnliches. Der Überfluss an Dingen führt zu ihrer konsequenten Entwertung, genaugenommen zu einer Entwertung der Arbeit. Da die Identität des modernen Menschen eng an die Arbeit geknüpft ist, heißt dies, der Mensch selbst droht entwertet zu werden. Es erstaunt nicht, dass viele der heute Lebenden die Grundangst kennen, überflüssig zu sein, umgeben wir uns doch mit vielen Dingen, die überflüssig sind, letztlich ohne jeden realen Gebrauchswert.

Begrenzte Lebensdauer

Die Lebensdauer von Geräten wie PCs nimmt mit jeder Generation ab. Kaum haben wir uns eines dieser Geräte gekauft, werden wir daran erinnert, dass es bessere Modelle oder neuere Programme gibt. Dies wirkt auch auf seine Benutzer zurück, die trotz einer Lebenserwartung, von der vor 100 Jahren noch niemand zu träumen gewagt hätte, vom Gefühl geprägt sind, das Leben zerrinne zwischen den tastenschlagenden oder mausschiebenden Fingern. Während früher die Geräte, welche die Menschen benutzten, bestenfalls Schwielen oder andere Wunden verursachten, so schreiben uns die Geräte, die wir benutzen, heute neu. Wir rüsten unsere Körper mit Hilfe der Medizin nach, arbeiten an ihrer Einstellung und Optimierung. Um welchen Preis! Wir leben zwar in einer Welt, welche die alte Angst vor den Toten nur noch bedingt kennt, aber der Tod ist zur eigentlichen, wenn auch unbewussten Triebfeder des Lebens geworden. Zum ersten Mal in der Geschichte wären die meisten Menschen in der Lage, ein ziemlich luxuriöses Leben zu führen. Wir könnten uns die Muße leisten, die für die Differenzierung der Sinne und wirkliche Bildung erforderlich ist. Aber womit beschäftigen wir uns denn? Mit der Zerstörung von Gütern, wir hetzen von einem Termin zum nächsten, mit zunehmendem Alter von einem Arzt zum anderen.

Kürzlich habe ich die Briefe, Fotografien und Dokumente meiner Eltern durchgesehen. Beide starben im letzten Jahr. Meine Mutter hatte seit vielen Jahren die seltsame Angewohnheit, jährlich eine kleine Statistik ihres Briefverkehrs zu erstellen. Sie war eine leidenschaftliche Briefschreiberin. In dieser Statistik stellte sie die von ihr geschriebenen Briefe jenen Briefen und Karten gegenüber, die sie während eines Jahres erhalten hatte. Letztere schnürte sie zu einem kleinen Paket, oben befestigte sie einen kleinen Zettel, auf dem Jahreszahl und Zahlenverhältnis angegeben waren. Für sie musste die Welt in Ordnung sein, wenn das Verhältnis zwischen ausgehender und eingehender Post ausgewogen war.

Zu Weihnachten und Neujahr kamen besonders viele Briefe und Karten. Die meisten dieser Grußkarten hatten eigentlich nichts zum Inhalt. Gesten der Höflichkeit, Zeichen, die glauben machen sollten, noch in einer Welt von Bindungen zu leben. Man könnte zehn von solchen Briefen und Karten auswählen, und man hätte das ganze Vokabular vor sich. Eine Statistik, die sich auf neue Worte oder Formulierungen bezogen hätte, hätte mir besser gefallen. Offensichtlich litt meine Mutter zunehmend unter der Angst, überflüssig zu sein, zwar zu leben, aber nicht mehr gebraucht zu werden, schlimmer noch, anderen zur Last zu fallen.

Zwei Tage habe ich damit verbracht, Briefe und Karten zu lesen, die an meine Eltern gerichtet waren. Ich kannte die wenigsten der Briefeschreiber. Im Garten machte ich ein Feuer, in welches ich all das warf, was ich nicht aufbewahren wollte. Am Ende blieb ein großer Berg weißer Asche. Die Asche habe ich zwischen Blumen und Sträucher gestreut, etwa neben einen kleinen Lorbeerbaum, der aus einem Kern gewachsen ist, den ich auf Pasolinis Grab fand. Gabriele Münters Eichen erhielten auch ihren Teil. Den Schmuck meiner Mutter habe ich zuletzt neben den Pfingstrosen vergraben.

Unser Garten ist diesbezüglich ein sehr guter Ort. Es gibt keine Pflanze, deren Geschichte nicht auf andere Menschen verwiese. Die Stangenbohnen habe ich etwa von meiner Mutter bekommen. Diese wiederum hatte die Bohnen von der Mutter meines Vaters. Sie heißen Susannas Bohnen, sind also nach meiner Großmutter benannt. Meine Großmutter muss die Bohnen wiederum von anderen bekommen haben. Wer immer diesen Garten betrachtet, dem wird vielleicht dessen eigentümliche Unordnung auffallen, aber er wird nur Pflanzen sehen. Die Geschichte dieser Pflanzen kenne nur ich oder jene, denen ich sie erzähle. Einige Briefe habe ich aufbewahrt. Etwa die Liebesbriefe meiner Eltern oder den letzten Brief, den meine Mutter im Krankenhaus schrieb: "Ich bin sehr müde. Ich habe keine Kraft. Wie soll das alles werden . . ." Unten links versuchte sie mit zittriger Hand eine kleine Zeichnung. Aufbewahrt habe ich auch das Kriegstagebuch meines Vaters, in dem er sich wie ein Ding beschreibt, welches sich von diesem nach jenem Ort bewegt.

Freitag, 02. November 2001

Aktuell

Blicke aufs Häusermeer
Erhöhte Aussichtspunkte haben schon immer Schaulustige angelockt
Wer übernimmt die Führung?
Die kommenden Probleme und Entwicklungen der Weltwirtschaft – Ein Panorama
In Millionendimensionen
Grundlegende Befunde über den allseits sichtbaren Wandel Chinas

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum