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Totentag in Michoacán

Allerseelenfeiern in Mexiko
Von Georg Oswald

Über den Tod im Allgemeinen zu schreiben grenzt ans Unmögliche. Anschaulichkeit gewinnt der abstrakte Begriff am zweiten November und ein besonderes Kostüm erhält er
in Mexiko, wo der katholische Allerseelentag zum Totentag wird. Was immer man dem Tod in Mexiko nachsagen möchte, dem Paradoxon des Gelassen-Exzessiven kann er sich nicht entziehen. Nicht überall
gedenkt man um diese Zeit herum der toten Seelen in gleicher Weise. Gibt es weite Landstriche, denen die Toten keine besondere Aufwartung wert sind, so häufen sich die Totenfeiern in Mexiko vor allem
in den Bundesstaaten Oaxaca und Michoacán. Die Dörfer rund um die Insel Janitzio begehen den Allerseelentag jedes Jahr auf besondere Weise und sind Anfang November das Ziel von Reisenden aus der
nahen und fernen Umgebung. Mitunter begegnet man auch Reisenden aus anderen Kontinenten, doch in erster Linie ist der Totentag eine mexikanische Angelegenheit.

Gefeiert wird hier die ganze Nacht. Über die Friedhöfe ergießen sich Menschenmassen, die chilangos, wie die Hauptstädter von den übrigen Mexikanern verächtlich genannt werden, kommen mit ihren
Autos in die Dörfer, öffnen am Straßenrand den Kofferraum, lassen die Kapseln von den Flaschen springen und glucksen wenig bedächtig den Inhalt in sich hinein. Jugendliche mit dominierenden
Schwarztönen in ihrer Kleidung lagern in einer Ecke des Friedhofs, scharen sich um eine riesige Soundmachine, aus der Grunge scheppert. Andere singen unter dem Denkmal des Unabhängigkeitshelden
Morelos während der ganzen Nacht zu den Akkorden, die ihnen ein Gitarrenspieler vorgibt.

Der öffentliche Tod

Privatsphäre ist während dieser Nacht nicht angesagt. Der Totentag ist ein Ereignis mit Öffentlichkeitscharakter, zu dem man nicht unbedingt einen Dahingeschiedenen aus dem persönlichen Umfeld
benötigt. Die Friedhöfe sind vom flackernden Kerzenschein hell erleuchtet, die Gräber wurden von den Indigenas, den Purépecha in Michoacán, mit den orangefarbenen Blütenblättern
der Cempasúchil geschmückt. Bilder der Verstorbenen sind in die Dekoration eingebunden, ebenso Gegenstände, die eine Verbindung mit den Verstorbenen aufweisen. Eine Cola-Flasche, ein
Zigarettenpäckchen, Speisen, verdeckt in geflochtenen Körben. Still sitzen die Grabschmücker vor ihrem vollendeten Werk, in sich gekehrt oder im Schubkarren, mit dem sie die Utensilien
herangeschleppt haben. Es ist ein farbenfreudiges Fest, das sich hier jedes Jahr zusammenbraut. Vor allem die Blüten der Totenblume scheinen mit ihrem intensiven Orange den Kerzenschein fortzuführen.
Zwei Indigena-Mädchen können sich das Lachen nicht verhalten, wenn mit Stativ und Kamera beladene Besucher im Friedhofsgelände über Unebenheiten stolpern. Andere Besucher möchten die besten Motive
mit nach Hause nehmen und halten die Indigenas dazu an, sich etwas besser ins Bild zu setzen. Viele lassen sich das nicht gefallen und wenden sich abrupt ab, wenn sie ein auf sich gerichtetes
Objektiv erblicken. Andere lassen es über sich ergehen. Sollte man es als Unverfrorenheit werten, wenn diese für ein Foto ein paar Pesos, besser aber noch Dollars verlangen?

Es gibt viele Möglichkeiten, die tiefe Distanz zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen innerhalb der mexikanischen Gesellschaft kennen zu lernen. Der Totentag in Michoacán ist nur ein Anschauungsfall.
Während die Indigenas, vor allem die Frauen, für den pittoresken Teil der Feier herhalten, ruhig, in sich gekehrt, in ihrer eigenen Sprache, dem Tarasco, plaudern, begeben sich die meisten
Gäste, in deren Sprachgebrauch Indigenas und Mexikaner zwei verschiedene, sich ausschließende Lebensformen sind und die sogar die indigenen Sprachen des Landes in ihrer Vielzahl abschätzig als
Dialekt abkanzeln, auf Fotosafari. Aber alles zusammen ist eine große nationale Feier. Ein mit Blumen geschmückter Bogen trägt die Aufschrift „Tata Cárdenas". Lázaro Cárdenas, der
Revolutionsgeneral, unter dessen Präsidentschaft in den späten dreißiger Jahren erst viele Versprechungen der Revolution eingelöst wurden, stammt aus dem Dorf Jiquilpan im Bundesstaat Michoacán und
genießt vor allem bei der indigenen Bevölkerung hohes Ansehen.

Das mexikanische Kunsthandwerk und die Landesküche haben sich in besonderer Weise des Todes angenommen. Die Märkte sind an den Tagen vor dem zweiten November voll mit Totenköpfen aus Schokolade und
Zuckerguss. Die Stirn bietet sich an, um einen Vornamen aufmalen zu lassen, bevor diese Aufmerksamkeit unter Freunden oder Familienangehörigen verschenkt wird. Skelette hängen in allen Formen und
Materialien von den Dachbefestigungen der Verkaufsbuden. Ein Brautpaar im Knochenkostüm, eine „bessere Dame" mit ausladendem Blumenhut, der Rockschlitz gibt den Blick frei auf ein keck abgewinkeltes,
knochiges Bein. Miniatursärge öffnen sich, wenn man an einem Faden zieht und ein halb aufgerichtetes Skelett um die ewige Ruhe bringt. Grenzenlos scheint die ausgelassene Fantasie des Kunsthandwerks.

Der bedeutendste kulinarische Beitrag zu diesen Festivitäten ist das Totenbrot, ein schlichter Germteig, dessen Oberfläche mitunter von zwei gekreuzten Schenkelknochen verziert wird. Mit
Fernsehgrusel und billigem Kinderschreck hat das alles nichts zu tun. Das Schaurig-Wonnige steht bei allen Darstellungen im Mittelpunkt, vor allem Letzteres darf auf keinen Fall zu kurz kommen.

Für den von den Nazis ins mexikanische Exil gezwungenen deutschen Kunsthistoriker Paul Westheim, dem Fachmann für altmexikanische Kulturen, bündeln sich im gegenwärtigen Totenkult zwei
Traditionslinien, die der vorcortesianischen Jenseitsvorstellungen und die Totentanzbilder europäischer Provenienz. Beide Einflüsse haben sich in Mexiko zu etwas Eigenständigem verbunden.

Die Nächte können um diese Jahreszeit in Michoacán kühl werden. Während der ganzen Nacht gibt es zwischen der Kleinstadt Pátzcuaro und der Insel Janitzio ein Fährservice. Die Überfahrtsmöglichkeiten
sind an diesem Tag dem Ansturm nicht gewachsen. Wer kann ernsthaft glaubhaft machen, dass Zeit in dieser Nacht eine Rolle spielt? Die Fondas, kleine Ausspeisungen mit Plastikstühlen und
Metalltischen, halten die ganze Nacht offen und machen das Geschäft des Jahres. Auf der Straße wird aus fahrbaren Bottichen ein heißer, kräftiger Punsch mit Zuckerrohrstücken und Früchten geschöpft
und zum Verkauf angeboten. Ein ständiges Treiben, ein Geschobenwerden ist diese Nacht. Und man braucht schon etwas Glück, um sich im allgemeinen Gerangel rechtzeitig einen Platz zu erkämpfen, von dem
aus man dem Tanz der Greise oder den Figuren der Fischer in ihren Booten beiwohnen kann.

Auch in Tzintzuntzán, dem ehemaligen Zentrum taraskischer Kultur, bietet sich dasselbe Bild. Ein von Besuchern überschwemmtes Dorf, die archäologischen Anlagen sind während der ganzen Nacht
zugänglich, auf einer Bühne wird Cumbia getanzt. Die wohlhabende Landjugend kommt im Pickup bis vor das Ausgrabungsgelände, auf der Ladefläche Gefrierbehälter mit Bierflaschen und Fahrgäste. Im
Zentrum des Dorfes stellen sich die Kinder schon auf andere Zeiten ein. Den Erwachsenen werden orange Plastikkürbisse mit aufgeklebten Gesichtszügen hingehalten. Der Ruf „Haloi" ist die
Aufforderung, Kleingeld aus der Hosentasche zu klauben. In anderen Regionen Mexikos wird zwar nicht der Friedhof heimgesucht, aber es finden Wettbewerbe statt, wer den schönsten Altar zusammenstellt.
Die Stadtverwaltung gibt Richtlinien aus, wie ein „schöner" Altar zu gestalten sei. Von Cempasúchil übersät, in orange Blüten gehüllt, sind sie alle, auch wenn die einzelnen Darstellungsformen
voneinander abweichen. Der Totenkult hält eine offene Grenze zum privaten Bereich. Wer sich nicht bis zum Friedhof begeben will, errichtet den Totenaltar zu Hause.

Calaveras, das sind auch gereimte groteske Gedichte, die auf eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens oder wichtige Zeitereignisse anspielen. Die Zeitungen dieses Tages sind voll davon. Auch
an den Schulen und Universitäten schenkt man sich gereimte Groteskgedichte, je nach Inspiration und Wortkunst. Der Spott, das Lächerliche rückt in den Mittelpunkt, der karnevaleske Charakter kehrt
sich hervor. Zu den Eckpunkten einer Allerseelenfeier gehört eine Aufführung des „Verführers von Sevilla" von Tirso de Molina. Auch in katholischen Gebieten Europas war diese Aufführung zu
Allerseelen ein Pflichttermin. Doch das ist schon lange her.

Vergänglichkeit und Eitelkeit

Mit seinen Totendarstellungen hat sich der mexikanische Lithograf José Guadalupe Posada nachhaltig in die Kunstgeschichte eingeschrieben. Seine calaveras, Gerippe, die Leben und Tod
repräsentieren und dabei höchst aktiv wirken, haben nicht nur die großen Wandmaler wie Diego Rivera oder José Clemente Orozco beeinflusst. Heute werden Scherenschnitte mit seinen Motiven in allen
Größen verkauft. Drahtfiguren, die unterschiedlichste Berufsgruppen bei ihrer Arbeit darstellen, Schuhmacher und Zahnärzte, vornehme Damen, Totenköpfe mit Dutt. Posadas berühmtestes Motiv ist die
calavera catrina, ein weiblicher Totenkopf mit bombastischem Hut und ausstaffiertem, wallendem Kleid. Die Verbindung von Vergänglichkeit und Eitelkeit ist wohl nirgends treffender dargestellt
worden als von José Guadalupe Posada aus Aguascalientes, dem Spezialisten für Knochenmenschen.

Posada ist nicht der Erfinder und einzige Schöpfer der calaveras, aber mit ihm haben sie zu ihrer anschaulichsten Form gefunden. Fritz Ostermayer, der passionierte Trauermarsch- und
Totenliedersammler, hat nicht ohne Grund seine beiden CD-Anthologien mit Posadas Gerippen und Totenköpfen verziert. Der Tod als Trinkkumpan, als Musiker, als Tänzer, als Straßenkehrer, als schallend
Lachender, als erhängter Tod. In einem Interview äußerte Ostermayer die Ansicht, der Tod müsse ein Mexikaner sein. Zwei Einwände sind dieser ehrenwerten Meinung entgegenzuhalten. Erstens ist der Tod
im Spanischen weiblich, la muerte, und es kann daraus nur eine Mexikanerin werden. Zweitens läuft diese Vermutung auch unter Berücksichtigung geschlechtlicher Besonderheiten der Ansicht eines
anderen Experten auf diesem Gebiet, Georg Kreisler, zuwider, für den der Tod ein Wiener sein muss. Mit Sicherheit lässt sich so viel sagen, dass kein Totengerippe Posadas mit Namen und
Herkunftsbezeichnung an der großen Zehe herumspringt.

Literatur:

Der Tod in der mexikanischen Kultur. Hg. vom Institut für Auslandsbeziehungen. München: Trickster 1993

Paul Westheim: La calavera. Trad. de Mariana Frenk. México, D. F.: FCE 1985 (=Lecturas Mexicanas. 91.)

José Guadalupe Posada. Ilustrador de la vida mexicana. México, D. F.: Fondo Editorial de la plástica mexicana 1992

The Works of/Das Werk von José Guadalupe Posada. Hg. und mit einer Einleitung von Hans Jähn. 3. Aufl. Frankfurt/Main: Zweitausendeins 1997

Die beiden CD-Anthologien „Trauermärsche · Funeral Marches" und „Totenlieder · Songs of Death" erschienen 1997 bei Trikont

Freitag, 29. Oktober 1999

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