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Letztes Bild und ewiges Antlitz

Toten- und Lebendmasken aus der Sammlung des Marbacher Schiller-Nationalmuseums

Von Oliver Bentz

Etwas unheimlich wird es dem Betrachter schon, wenn er den Ausstellungsraum betritt. Sie scheinen zu schlafen, diese Gestalten, denen er in Augenhöhe entgegenblickt.
Sind es Albträume, die manche Gesichter so verzerren, oder ist es etwa süßer Schlummer, der einigen gar einen lächelnden Gesichtsausdruck verleiht? Welche Spuren des Lebens waren es, die sich in
manche der Gesichter so tief eingegraben haben? Fragen, die sich aufdrängen, die aber unbeantwortet bleiben müssen, denn mit den Gegenübern in den Holzvitrinen gibt es keinen Dialog, sie sind
unbeweglich gewordene, sozusagen in Gips erstarrte Gesichter: Totenmasken.

„Totenmasken sind uns ein Gegenstand höchster Ehrfurcht, denn sie bewahren, im Sinnbild des Antlitzes, das letzte Geistige eines Menschen, den wir einstens gekannt oder der für alle Bedeutung
besessen." So beschreibt Ernst Benkard in seinem 1927 erschienenen Buch „Das ewige Antlitz" die Wirkung jener Abgüsse von den Gesichtern gerade Verstorbener, in denen sich das letzte große
Rätsel des menschlichen Daseins und Vergehens materialisiert. Im richtigen Moment abgenommen, erwecken Totenmasken eine Ahnung von der Grenzüberschreitung vom Diesseits ins Jenseits und geben den
letzten Eindruck und die Summe des verblichenen Lebens.

Das Marbacher Schiller-Nationalmuseum, das mit mehr als 250 Objekten die größte Sammlung von Toten- und Lebendmasken in Deutschland zusammengetragen hat, zeigt diesen bisher in einem Magazinraum
schlummernden Bestand nun zum ersten Mal der breiten Öffentlichkeit. Zu sehen sind etwa 120 Exponate, vorwiegend Dichtermasken, darunter die von Goethe, Schiller, Lessing, Mörike, Karl Kraus, Bertolt
Brecht und · aus jüngster Zeit · die Totenmaske des 1995 verstorbenen Dramatikers Heiner Müller. Daneben enthält die Schau aber auch zahlreiche Abdrücke von Politikern, Künstlern und Schauspielern.

Im römischen Altertum war die Totenmaske ein wichtiger Bestandteil des häuslichen Ahnenkults. Vom feudalen Mittelalter bis ins ausgehende 18. Jahrhundert wurden Totenmasken im Totenkult der Könige in
erster Linie ein notwendiges Nebenprodukt bei der Inszenierung offizieller Trauerfeiern. Sie dienten dabei als einfaches technisches Hilfsmittel bei der Herstellung von Schaupuppen aus Weidengeflecht
und Wachs, so genannter „Effigies", durch die die verstorbenen Würdenträger in größtmöglicher Lebensähnlichkeit repräsentiert werden sollten.

Am englischen und vor allem am französischen Königshof wurde dieses Bestattungszeremoniell lange gepflegt. Häufig nahmen Maler oder Bildhauer die Totenmasken · und oft noch Abdrücke der Hände · ab,
da man diese auch als Vorbild für Denkmäler und Portraitplastiken benötigte.

Das physiognomische Interesse der Spätaufklärung, der Freundschaftskult der Empfindsamkeit sowie der Geniebegriff in der Epoche des „Sturm und Drang" förderten die Konjunktur der Totenmaske. Aus
ihrer dienenden Hilfsfunktion wird sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts befreit und gilt seitdem als selbständiger Gegenstand. Die erste deutsche Dichtermaske soll, so heißt es, dem 1781 gestorbenen
Gotthold Ephraim Lessing abgenommen worden sein.

Geradezu massenhafte Verbreitung fanden die letzten Gesichtsausdrücke berühmter Verstorbener dann im 19. Jahrhundert, als es Mode wurde, sich die Masken als Raumschmuck in die Wohnung zu holen.

Der „stramme" Preuße nahm sich seinen Friedrich ins Haus, der patriotische Franzose seinen Napoleon, die Bildungsbürger hielten es bis weit in unser Jahrhundert mit den Abdrücken der Dichter und
Musiker und brachten die Goethe-, Schiller- oder Beethoven-Maskenfertigung in Schwung.

Totenmasken waren · und das wird in der Ausstellung sehr schön deutlich · auch immer Abbild der philosophischen und künstlerischen Entwicklung ihrer Zeit. So reicht die Art der gestaltenden
Bearbeitung von der bis ins „Unkenntliche" idealisierenden Darstellungsweise bis hin zur unveränderten naturalistischen Abbildung des „letzten Gesichts". Einigen vor der letzten Jahrhundertwende
abgenommenen Masken sieht man ihren Zug ins Jugendstilhafte deutlich an, während bei einigen der in den zwanziger und dreißiger Jahren hergestellten · etwa bei der Maske Arthur Schnitzlers · die
„Neue Sachlichkeit" Einzug hält.

Gleich zwei Totenmasken gibt es vom 1900 gestorbenen Philosophen Friedrich Nietzsche zu sehen. Die erste, „naturgetreue", zeigt ein von langjähriger Krankheit und schlimmem Leiden entstelltes,
geradezu zerstörtes Gesicht, das wohl kaum in die Konzeption der · die Werke des Philosophen verfälschenden und verstümmelnden · Schwester und Nachlassverwalterin Elisabeth Förster-Nietzsche passte.
Deshalb ließ sie flugs eine zweite Maske abnehmen und so lange „bearbeiten", dass dem Betrachter auch noch im Tod der „Wille zur Macht" martialisch entgegenblickt.

Die Maske Frank Wedekinds erwarb das Marbacher Museum erst vor wenigen Wochen. Es verdankt sie der großen Wirkung, die die Ausstellung auf ihrer ersten Station, dem Museum Schloss Moyland, erzielte.
Aus dem Nachlass Artur Kutschers wurde sie aus München an den Neckar vermittelt und wird hier zum ersten Mal öffentlich gezeigt.

Schillers eindrucksvolle Totenmaske diente dem Freund und Bildhauer Johann Heinrich Dannecker als Vorbild für seine Kolossalbüste des Dichters. Von Goethe hingegen, der sich die Anfertigung einer
Totenmaske verbat, da er ihrer Aussagekraft misstraute, finden sich in der Ausstellung zwei sehr unterschiedliche Lebendmasken, die er nur unter äußerstem Widerwillen abnehmen ließ. Vergleicht man
die beiden sehr unterschiedlichen Masken, so bekommt man einen Eindruck davon, welch unterschiedlich idealisierender Bearbeitung viele Masken wohl unterzogen worden sind.

Unter all den Masken berühmter Persönlichkeiten fällt eine besonders aus dem Rahmen. Es ist die Maske eines jungen anonymen Mädchens, die um die Jahrhundertwende in Paris Aufsehen erregte. Die
„Unbekannte aus der Seine", so wurde die angebliche junge Selbstmörderin genannt, deren Gesicht von allem irdischen Ballast befreit als ein glücklicher Ausdruck aus einem paradiesischen Jenseits
erschien. Ihre Maske erwies sich jedoch bald als Kunstfälschung, als Totenmaske ohne Tote.

Während im frühen 20. Jahrhundert Totenmasken noch relativ häufig abgenommen wurden, sind sie heute weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Da überrascht es den Betrachter dann
doch, dass im Osten Deutschlands diese Tradition bis in die jüngste Vergangenheit hinein gepflegt wurde. So finden sich in der Ausstellung die Masken Franz Fühmanns, Johannes Bobrowskis, Stephan
Hermlins und eben die Heiner Müllers.

Im wunderschön schlichten, dem Thema angemessenen Katalog · in dem alle Exponate abgebildet sind · führt ein kenntnisreicher Aufsatz in die Geschichte dieser für uns Heutige doch sehr fernen Relikte
längst vergangener Zeiten ein. Dort beschreibt zudem der Schriftsteller und Lyriker Durs Grünbein Wesen und Wirkung der Totenmasken. „Auffällig", so Grünbein, ist „ihre Einsamkeit, in der
jede Regung verdorrt ist. Sie haben gelacht und das Glas an den Lippen gehabt, sie waren lebendig und viel beachtet inmitten anderer Gesichter zu ihrer Zeit. Sie wurden geküsst und gestreichelt,
geohrfeigt, geschminkt und rasiert, aber nichts davon ist ihnen mehr abzulesen."

Archiv der Gesichter. Ausstellung in der Alexanderkirche in Marbach am Neckar. Bis 21. November 1999, geöffnet Mo. bis Sa. 14 bis 17, So. 11 bis 17 Uhr. Katalog, 391 Seiten, 345 Abbildungen.

Freitag, 29. Oktober 1999

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