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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Chatwins Asche

Auf der Suche nach der letzten Ruhestätte eines

englischen Schriftstellers und Fotografen

Von Hans Anderwald

„Michali!", schrie der Tankstellenbesitzer ins Telefon, „Michali, kennst du einen Bruce? Einen Schriftsteller aus England. Ja, Bruce! Der soll hier begraben sein, hier in
Kardamyli." Sein Zeigefinger zeichnete unruhig Kreise auf der Glasplatte eines niedrigen braunen Metallschreibtisches, unter der sich ein vergilbtes, viel beschriebenes Kalenderblatt, ein paar
Ansichtskarten und etliche Visitenkarten befanden. Hinter und neben ihm, an der Wand des hohen und ansonsten kahlen Raumes, ein paar alte Fotografien, ein in die Wand geschlagener Nagel, an dem eine
Unmenge beschriebener Zettel hing, ein darüber befestigtes Holzbrett, auf dem der alte, schwere Telefonapparat stand, und ein Strauß zusammengebundener getrockneter Blumen, von einer feinen Schicht
Staub bedeckt. Angespannt lauschte er dem, was ihm Michalis über Bruce zu erzählen schien. Ab und zu blickte er auf, sah zu uns rüber und nickte uns kurz zu. Zwischen sechzig und siebzig, vielleicht
auch schon älter, musste er sein, ein schönes, ausdrucksvolles Gesicht, ein stolzer, offener Blick, der sein Gegenüber abzuschätzen wusste, sein Körper ungebeugt von den Jahren, hatte er sich eine
kindliche Neugier bewahrt, die uns jetzt zugute kommen sollte.

Peter Levi, der zusammen mit Bruce Chatwin auf den Spuren eines anderen, bei uns kaum bekannten englischen Reiseschriftstellers, Robert Byron, durch Afghanistan gereist war, Universitätsdozent in
Oxford und Archäologe, früherer Jesuit und Gefängnispriester, Autor vieler Werke über die griechische Kultur und mehrerer ausgezeichneter Biographien, hatte in seinem letzten Buch „A Bottle in the
Shade", das hauptsächlich den griechischen Dichtern Georgis Pavlopoulos und Nikos Gatsos gewidmet ist, berichtet, dass die Asche Bruce Chatwins in einem kleinen, abgelegenen Kloster in der Nähe
von Exochori, in den Bergen oberhalb von Kardamyli beigesetzt worden war.

Kardamyli liegt, umgeben von Olivengärten, ungefähr 50 km südöstlich der Hafenstadt Kalamata auf der Halbinsel Peloponnes. Eingebettet zwischen Ausläufern des Taygetosgebirges liegt es in einer
kleinen Bucht des Messinischen Golfs und bildet so etwas wie das Tor zur Mani, jenem früher abgelegenen und einsamen Gebiet der Peloponnes, wo · in diesem Jahrhundert noch · in Wehrtürmen wohnende
Familienclans nur ihr eigenes Recht anerkannten, die Blutrache noch lange überlebte und die im Bürgerkrieg zwischen Königstreuen und Linken begangenen Gräueltaten noch heute die nächtliche Erinnerung
und die Geschichten der Alten in den Kaffeehäusern beherrschen.

Bruce Chatwin hatte zumindest große Teile seines berühmtesten Werks „Songlines" in Kardamyli geschrieben, wo er ein Jahr lang gelebt hatte und wo er auch, schon aidskrank, einen Teil seines
letzten Lebensjahres verbrachte. Er hatte begonnen, sich für die Griechisch-Orthodoxe Kirche zu interessieren, hatte · wiederum durch Robert Byron inspiriert · den Heiligen Berg Athos besucht, und
eine seiner letzten Fantasien, die er verwirklichen wollte, war, ein kaik, ein griechisches Fischerboot, zu mieten, um mit Mönchen nach Patmos zu fahren, und am Ostertag, rechtzeitig zur
Auferstehungsfeier, auf der Insel des Johannes der Apokalypse einzutreffen. Als eine dieser weichen, bunt gescheckten Katzen mit den langen Lemurenschwänzen, die faul hingestreckt im Schatten der
weißgekalkten Klostermauern die heißen Sommernachmittage verbringen, wollte er, so hatte er Freunden lächelnd erzählt, wieder geboren werden, und seine Frau Elizabeth, so schreibt Peter Levi, habe
Chatwins Wunsch erfüllt, seine Asche nach seinem Tod in ein Kloster oberhalb von Kardamyli zu bringen.

Einsamkeit des Blicks

Mit Levis Buch in der Tasche waren wir in Kalamata angekommen und nahmen ein Taxi nach Kardamyli. Die Straße, die bei unserem letzten Besuch vor vielen Jahren noch ein schmales Staubband gewesen
war, das sich durch die Einsamkeit der Berge wand, war asphaltiert und gesäumt von neu erbauten Häusern, die vom wachsenden Wohlstand, aber leider nicht immer auch vom guten Geschmack ihrer Besitzer
zeugten. Weiter oben in den Bergen dann aber doch noch die Einsamkeit des Blicks hinaus auf das silbern glänzende Meer, die Stille, wenn der Fahrer den Motor abstellte, die großen Vögel, die vom
Gebirge her kommend, lautlos über uns kreisten. Kaum Verkehr, nur hie und da ein mit Baumaterial beladener Lastwagen, der laut ratternd sich die Serpentinen hinauf plagte. Es war ein schöner Mittag
im März, die Sonne stach bereits auf die Haut und ein leichter Wind vom Meer her bewegte die silbriggrünen Blätter der Olivenbäume, als wir Kardamyli nach ungefähr einer Dreiviertelstunde Fahrt vor
uns sahen.

Auch hier Asphalt und Neubauten, die vom Ortskern hinaus drängten, den Strand entlang nach Norden, hinauf in die Hügel oberhalb des Ortes und den Kurven der Straße nach hinunter in den Süden.
Schönere Häuser aber doch zumeist, Steinhäuser im alten Stil der Türme der Mani, die die Hitze des Sommers nicht eindringen lassen, hohe großzügige Zimmer mit riesigen dunklen Dachbalken an der
Decke, mit Holztüren und hölzernen, meist ungefärbten Fensterläden. Geschlossene Hotels und Pensionen, die vielen Schilder mit „Rent Rooms" und überall aufgeklebte deutsch- und englischsprachige
Plakate verschiedener Immobilienmakler, die die Erfüllung aller Träume und juristische Betreuung in der eigenen Sprache versprachen, ließen ahnen, wie der jetzt so ruhig und verschlafen daliegende
Ort sich wohl zu Beginn der touristischen Saison im Sommer verändern würde.

Nun aber war es erst März und Mittag, der griechische Mittag, der bis fünf oder sechs, im Sommer manchmal bis sieben dauert, die Zeit, in der die Straße den Hunden gehört und den Katzen, die sich
dann bedenkenlos auch auf der Hauptstraße ausstrecken, den Hunden und den Katzen und den bedauernswerten Fremden, die nicht wissen, dass Gäste nicht um diese Zeit erscheinen. Nachdem wir uns ein
Zimmer gesucht hatten, ein einfaches, sauberes Zimmer mit Blick in den Garten und Einladung zu Kuchen und Kaffee am Nachmittag, begannen wir unsre Suche nach jenem Kloster, wo Chatwin begraben sein
sollte. Aber wen immer wir auch fragten, niemand hatte den Namen gehört, Nachfragen und dann verlegenes Kopfschütteln, Tuscheln mit den Freunden am Kaffeehaustisch, Hochziehen der Schultern und des
Kinns und ein Öffnen der Hände, das leider sagte, manchmal fast ein verletzter Stolz, wenn wir darauf hinwiesen, er sei sehr berühmt gewesen, ein verletzter Stolz, der fragte, warum wissen wir das
nicht. Warum wissen wir das nicht, wenn so ein berühmter Schriftsteller von so weit weg sich unser Dorf aussucht, wie sollen wir ihm dann unsere Ehre erweisen? Aber so viel wir auch fragten, niemand
wusste eine Antwort, bis endlich einer, ein alter Mann mit dicker Brille, meinte: „Frag doch den Tankstellenbesitzer oben im Ort. Wenn's einer weiß, dann ist er es."

Und so waren wir zu der Tankstelle gekommen, die mitten im Ort an der Hauptstraße lag, und hatten auch ihn gefragt. Aber auch er hatte nichts von Bruce Chatwin gehört gehabt, und auch er war gleich
voller Interesse. „Auch Österreicher?" fragte er, da ich ihm gesagt hatte, dass ich aus Wien komme. „Nein, Engländer", antwortete ich ihm und seine Augen hellten sich auf.
„Engländer", wiederholte er, „da werde ich Michalis fragen!" Er hatte das Telefon genommen, eine Nummer auf der alten Drehscheibe gewählt und mit lauter, kräftiger Stimme „Michali, ich
bin's" fast ins Telefon gebrüllt und ihm unsere Geschichte erzählt. Still hörte er zu, was ihm erzählt wurde, und seine Augen lachten, als er schließlich einhängte.

„Michalis kennt ihn", erzählte er, „er war ein sehr guter Freund von ihm."

Herr Michalis

Michalis war Patrick Leigh Fermor, der englische Kriegsheld im Kampf gegen die Besetzung Griechenlands durch Nazideutschland, einer der besten englischen Prosaschriftsteller, der wundervolle
Reiseberichte über seine Wanderung von England nach Konstantinopel in den dreißiger Jahren geschrieben hatte, Bücher über die Anden und Westindien und zwei Werke über Griechenland: „Mani" und
„Roumeli", die noch heute, 40 Jahre nach ihrem Erscheinen, immer wieder aufgelegt werden.

Michalis war sein Partisanenname gewesen, den man ihm auf den Bergen Kretas gegeben hatte, und für alle seine griechischen Freunde ist er immer Michalis oder eben „Kyr Michali", Herr Michalis,
geblieben. Mit seiner Frau Joan lebt er schon seit Ende der fünfziger Jahre in Kardamyli, wo er sich außerhalb des Ortes, in der Kalamitsi-Bucht, in Österreich auch manchen durch die Bilder Herbert
Breiters bekannt, ein Haus gebaut und einen riesigen Garten angelegt hat. Seit dem 18. Jahrhundert, schreibt Peter Levi, hatte kein englischer Schriftsteller mehr auf eine solche Art eine
Wirklichkeit aus einer Idee heraus geschaffen, ein Haus, ein Garten und eine Umgebung, die sich in die Natur mit solcher Bescheidenheit und überzeugender Harmonie einfügen, wie es vielleicht auch
einmal das Twickenham Alexander Popes tat.

„Beim Agios Nikolas", sagte stirnrunzelnd der Tankstellenbesitzer. „In Exochori?" fragten wir nach. „Ja, Exochori" antwortete er zweifelnd, „aber ich habe noch nie von einem
Agios Nikolas in Exochori gehört. Michalis ist ja schon über achtzig. Er vergisst schon vieles. Wahrscheinlich meint er den Agios Nikolas in Proastio. Am besten, ihr geht dorthin und fragt im Ort."
Wir bedankten uns herzlich bei ihm, versprachen ihm über unsere Suche zu berichten und waren ab dann im ganzen Dorf die beiden, „die Bruce suchten, von dem wir nichts wussten".

Am nächsten Morgen brachen wir zu Fuß auf nach Proastio, zuerst die Hauptstraße nach Süden entlang, vorbei an der Kalamitsi-Bucht mit dem Anwesen Patrick Leigh Fermors, dann links eine schmale
Bergstraße hinauf, die sich den Bergrücken hinaufwand und einmal den Blick nach Norden, hinunter nach Kardamyli, einmal den Blick nach Süden hinaus nach Stoupa, einem früher winzigen Ort am Meer
freigab, der jetzt wild und anarchisch in die Landschaft hineinwuchs und zu dem im Vergleich wahrscheinlich selbst das touristische Kardamyli des Sommers eine Oase der Ruhe und der Schönheit war.
Immer weiter hinauf zog sich die Straße, auch hier hinter jeder Kurve Neubauten, hier ein Arzt aus Athen, dort ein Architekt aus Kalamata, aber auch hier fast alles erträglich, Steinbauten, die zwar
protziger waren als ihre alten Vorbilder, vielleicht aber auch bequemer, und die goldene Farbe, die ihre Mauern später im Abendlicht annahmen, ließ den Unterschied zwischen neu und alt im warmen
Glanz verschmelzen.

Kaum ein Wagen fuhr an uns vorbei und wenn es doch der Fall war, dann war es einer dieser kleinen Lieferwagen, die Eis selbst in die Kühlschränke der kleinsten Läden der Bergdörfer brachten.

Als wir auf die Hochfläche kamen: immer wieder Olivenbäume, bunt gefärbte niedrige Bienenstöcke auf den noch von den Winterregen grünen Feldern, die von aufgeschichteten Steinmauern begrenzt wurden,
winzige, uralte weiße Kirchen mit wunderbaren Wandmalereien im Inneren, die schmalen, asketischen Gesichter der Heiligen, der Geruch der brennenden Wachskerzen, die im feinen Sand steckten, die
zerfallenden Sitzbänke an den Wänden und draußen das Summen der Bienen, das Rauschen eines kleinen Baches und überall das dunkle Rot der Anemonen, das millionenfach das ganze Land in Brand zu setzen
schien.

Anemonen und Chatwin

Unwillkürlich erinnerte ich mich an zwei Fotografien Chatwins in seinem Bildband „Auf Reisen", die er in Kardamyli aufgenommen hatte und die mir nun wie zwei präzise, auf des Essentielle
reduzierte Abstraktionen der Natur bzw. der Kultur hier erschienen: die eine zeigt rote Anemonen im satten Grün einer Frühjahrswiese, im Hintergrund das glänzende, teilweise von Moos bewachsene Grau
zerfurchter Felsen, die andere Chatwin selbst, von hinten aufgenommen, auf einem dieser alten Wege, gebildet aus Felsplatten und Steinen, dazu die Mauern aus losen Kalksteinbrocken, die die Grenzen
zwischen den Feldern bilden und manchmal auch um besonders schützenswerte Bäume herum aufgeschichtet werden, einen Olivenbaum und dazwischen wieder im Frühjahrsgrün die roten, leuchtenden Flecken der
Anemonen.

Bald erreichten wir Proastio. Es war später Vormittag, ein alter Mann putzte die Straße vor seinem Haus, eine weiße Ziege lagerte ungefähr einen Meter über uns auf der Mauer zwischen zwei Häusern und
blickte erstaunt auf die Eindringlinge herab, ein großer Platz öffnete sich mit einer Unmenge von Brunnen, die aus der Wand kamen und sich in große Steinbecken ergossen, ein alter, wunderschöner
Waschplatz, vollendet in seiner Geometrie, der nun verlassen dalag, Schilder „Kein Trinkwasser" und zwei etwa zehnjährige Burschen, die Kunststücke mit ihren Fahrrädern aufführten und uns verrieten,
dass die Kirche Agios Nikolas weiter oben im Dorf, direkt bei der Bushaltestelle liege.

Als wir die Kirche sahen, wussten wir sofort, dass dies nicht die Kirche sein konnte, die wir suchten. Direkt neben der Straße, im Zentrum des Ortes schien der Platz nicht sehr geeignet für eine
letzte Ruhestätte, besonders nicht für Bruce Chatwin, und vielleicht war Michalis' Gedächtnis doch besser als der Tankstellenbesitzer vermutet hatte.

Wir wanderten weiter durch die engen Gassen des Ortes, überall alte Kirchen, Stimmen hinter den Mauern der Häuser, ein Kaffeehaus, das geöffnet hatte, eine schwarz gekleidete Witwe, die bediente, im
Dunkel des Raumes drei Tische, ein Ladentisch mit Dosensuppen und Kaffee, drei alte Männer und der Pope, deren Gespräch verstummte, als ich bestellte, ein Ofen, dessen Rohr sich kühn und verrußt
durch die ganze Länge des Raums schwang und den oberen Teil des Fensterglases durchbrach, der Junge, der plötzlich von hinten kam, einen Metalltisch und zwei Sessel in die Sonne vor das Lokal
hinaustrug, sein Lächeln und die Geste seiner Hand, die uns einlud, uns zu setzen. „Nach Exochori ist es nicht mehr weit", meinte er und zeigte uns den Weg, den wir einschlagen mussten.

Nach ungefähr einer Stunde erreichten wir Exochori. Weit ausgedehnt liegt es hingestreckt auf einem Bergrücken zu beiden Seiten einer tief eingeschnittenen Schlucht, durch die ein alter Steig
hinunter nach Kardamyli führt. Mittägliche Stille auch hier, enge Gassen, von deren Wänden der Verputz bröckelt, Rauch aus manchen Schornsteinen, das Zuschlagen einer Autotür und ein alter, halb
blinder Mann mit freundlichem Gesicht, der in der Sonne saß, draußen vor dem Haus. Wohin wir wollen, fragte er und wies uns den Weg, die Straße rauf, dann links beim alten Friedhof, und er erzählte
die Geschichten der Toten, seiner Toten, vom Krieg und den Morden, vom Verrat und von den Geistern, die des Nachts erscheinen in den Träumen der Schuldigen und sie wahnsinnig machen, vom Schweigen,
das die Seele tötet. Ein Stück weiter das einzige Straßenschild weit und breit: „Straße des Nationalen Widerstandes", dann der verwucherte Friedhof neben einer Kapelle, die heute viel zu große Schule
und der schmale, steinige Weg, der hinunterführt zum Agios Nikolas. Hinaus führte der Weg aus dem Ort, den Hang hinunter zwischen Olivenbäumen und immer höher werdendem Gras.

Chatwins Platz?

Lange dürfte hier schon niemand mehr gegangen sein und plötzlich die Kirche von Agios Nikolas von hinten, ein Steinbau mit schöner Kuppel auf einem Plateau, das den Blick freigibt über Berge und
Meer hinaus ins Unendliche, ein Bau des 11. oder 12. Jahrhunderts wahrscheinlich, das Innere verlassen und kaum mehr benützt, byzantinische Fresken, die noch in voller Farbe erstrahlen, Reste antiker
Säulen, die umgestürzt im Raum liegen, vor der Kirche, neben den Stufen zum Eingang ein aufgeschütteter Steinhaufen. Vielleicht ist dies hier der Platz Bruce Chatwins. Wir wussten es nicht und es ist
auch nicht so wichtig. Der Ort jedenfalls würde ihm gefallen, der Blick, die Weite, die Stille, die hier herrschte, die nur vom Summen der Bienen, dem Rascheln der Blätter im Wind und manchmal vom
fernen Klang der Glocken einer Schafherde gebrochen wurde, die Kirche, die kunstvoll ist und schlicht und Kultur und Natur in ihrem Verfall verbindet, sichtbar gewordene Zeit in der Unendlichkeit des
Raums.

Es war heiß geworden und wir gingen zurück, hinauf ins Dorf. Eine Tür öffnete sich, eine alte Frau trat heraus, mit einem wunderschönen, fast jugendlichen Gesicht, die langen grauen Haare offen über
ihre Schultern fallend. Sie begrüßte uns und bat uns hinein in ihr Haus, in einen alten turmartigen Bau mit einer großen Terrasse hinaus auf die Schlucht. „Es ist sehr heiß heute", meinte sie
und brachte zwei Gläser mit kaltem Wasser. Es gab es also doch noch, das Glas Wasser, das früher selbst der Ärmste jedem Fremden anbot, das Glas Wasser, das von allen Tischen leuchtete und den
Fremden zum Gast machte. Zufrieden genossen wir die Kühle des Raums und erzählten von unserer Suche. Die alte Frau hörte aufmerksam zu, schmunzelte und sagte: „Ihr wart schon richtig. Der
Engländer aus Kardamyli und eine Frau aus England und noch zwei andere, die waren damals bei mir mit der Urne. Er war ein Freund meines Sohnes. Sie haben bei uns etwas getrunken und dann die Urne
runtergebracht zur Kirche."

Die schöne alte Frau mit den leuchtenden Augen war die Mutter des früh verstorbenen griechischen Dichters Dimitris Nikolitsas, eines Freundes von Patrick Leigh Fermor, welcher auch das Vorwort zu
einem seiner Lyrikbände geschrieben hatte. Sie erzählte von ihrem Sohn und ihrem Schmerz, brachte süßen griechischen Kaffee und schenkte uns zum Abschied, „gegen den Durst am Weg", drei
Orangen, die später lange noch zuhause im Korb beim Spiegel lagen, in der Frühlingssonne leuchteten und uns an die Suche nach Chatwins Asche erinnerten.

Freitag, 29. Oktober 1999

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