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Zwischenwelten, Zwischenzeiten

Der Seefriedhof im bretonischen Douarnenez-Treboul

Von Ingeborg Waldinger

Klagende Schreie von Seemöwen begleiten das friedliche Branden der See. In unbestimmter Ferne

tuckert der Motor eines Fischkutters. Sonst kein Ton. In die jodschwere Salzluft mengt sich der zarte Duft frischen Heus. Nebel weicht die Konturen der Küste auf, filtert die Farben aus dem späten
Licht des Westhimmels.

„Nebel, wie gut!", meint Madame Le Joncour, pensionierte Professorin der Fächer Latein und Französisch, „das bedeutet Schönwetter!", und wendet sich der Pflege des Familiengrabes zu.

Friedhof am Meer: zur Linken die an Badebuchten des Hellas erinnernde Plage Saint-Jean; zur Rechten, keine Meile entfernt, das vom Conservatoire du Littoral erworbene Eiland „ile Tristan".
Treboul heißt der Flecken, den nur eine schmale Bucht von Douarnenez trennt. Drüben die Stadt der Sardinenfischer, herüben ein kleiner Freizeithafen, schmucke Einfamilienhäuser, und „alles Thalasso".
Nichts von dem geschäftigen Treiben dringt an den alten Seefriedhof. Die Hanglage gibt den Blick frei auf die Bucht von Douarnenez. Bei klarer Sicht leuchten in den sattgrünen Weiden des
gegenüberliegenden Ufers die weißen Fassaden versprengter Häuser. Heute Abend aber bleibt vieles diffus.

Das Klima des südbretonischen Landstriches „Cornouaille" ist mild. Indes hinterlassen das beharrliche Werk von Wind, Salz und Feuchtigkeit unübersehbare Spuren: bis zur Unkenntlichkeit verschliffene
Skulpturen, mit Flechten überzogener Stein, vom Rost besiegtes Eisen. Der Unterschied zu dem von Paul Valéry besungenen Cimetière Marin in Sète könnte größer nicht sein. Hier das kühle Imperium
des Atlantik, dort das gleißende Reich des Mittelmeers. Hier dunkle, schlichte Granitkreuze mit Christusfiguren, dort weiße, antikisierende Totentempel. Hier das Verharren in schön-schauriger
Melancholie, dort der Sieg des Lichtes.

Unzählige Menschen aus Treboul haben auf See ihr Leben gelassen. Ein Leben am „Ende der Welt" (Departement „Finistere"), vom Rhythmus und dem elementaren Walten des Ozeans bestimmt. Das Meer gibt,
das Meer nimmt. Wer sich dem ambivalenten Element anvertraut, zählt zu den besonders Kühnen: Schon Platon teilte die Menschen in Lebende, Tote und jene, „die zur See fahren". Sie treten eine
besondere Fahrt an, steuern zwischen den Welten dahin. „Der Held des Meeres ist der Held des Todes", heißt es in Gaston Bachelards philosophischen Betrachtungen der Elemente.

Der Tod auf See

Seit alters her ranken sich Mythen und Legenden um den Tod auf See, kämpfen Glaube und Aberglaube gegen das Unfassbare: das völlige Verschwinden im Reich des Dunkeln. Noch bis ins 18. Jahrhundert
prägen Bilder aus Bibel und Antike das europäische Meeresgefühl. Es ist eine negative, das Chaotisch-Abgründige abwehrende Bilderwelt. Die christliche Symbolik stilisiert den Matrosen gar zum
Sündenbock der Menschheit, der allen Zorn Gottes und der Natur auf sich lädt.

Ein Blick auf die Karte Frankreichs zeigt klar: die Bretagne weist die wildesten, gefährlichsten Küsten des Landes auf. Hier fordert das Meer die meisten Opfer, erweist sich der lokale Fundus an
einschlägigen Legenden als unerschöpflich. Der Schriftsteller und Literaturprofessor Anatole Le Braz hat eine Vielzahl mündlich überlieferter „Légendes de la mort en Basse-Bretagne" (1893)
zusammengetragen. Die Geschichten erzählen von verschollenen Ertrunkenen, deren Wehklagen in stürmischen Nächten weithin zu hören sind. Von Seevögeln, die den Tod eines Fischers melden, indem sie
sonderbarste Laute ausstoßen und mit den Flügeln gegen die Fensterscheiben seines Hauses schlagen. Von ertrunkenen Seemännern, deren Seelen erst nach mehrtägigem Bußaufenthalt in einer Seegrotte für
das Jenseits freigegeben werden.

Doch wehe dem, der den Rufen der Toten antworten, die büßenden Seelen stören wollte: ihm wäre großes Unheil, meist der Tod gewiss. Stets misstraut man den „noyés" (Ertrunkenen)! Und
interessanterweise auch ihren Witwen, welche man gerne im Bunde mit den Dämonen des Windes und Meeres wähnt. Etwa die Seemannswitwen der Insel Sein. Ein Tipp hinter vorgehaltener Hand: an sie
wende sich, wer einen uneinsichtigen Streithals loswerden will . . .

Und wer meint, die Parzen von Sein zu den auffallend winzigen Ausmaßen des Inselfriedhofs befragen zu müssen, sei folgenden Fingerzeigs gewärtig: „Etrè an Enez hac ar Beg/ Eman berred ar
gwazed." (Der „Friedhof" der Männer liegt zwischen der Insel und den Klippen der Pointe du Raz!). Den „Dames de la mer" stellt man an Frankreichs Küsten allgemein kein gutes Zeugnis aus. Die
Deutung des Bezugsfeldes Wasser-Tod-Frau überlassen wir indes der Psychoanalyse.

„Qui se fie à la mer se fie à la mort" liest man in den „Legenden vom Tod". Wer dem Meer traut, traut dem Tod. Der Seemannstod ist nach diesem Verständnis selbstverschuldet, die Seele des
Ertrunkenen zu ewiger Irrfahrt verdammt. „Anaon" nennen die Bretonen die tragische Gemeinde dieser Seelen in Not.

Das Bildpotential der Legenden ist mächtig, beständig. Mythische Motive wie das Totenschiff, der Totenfährmann oder der Fliegende Holländer vermengen sich mit christlicher Religion. Der „Fliegende
Holländer" in bretonischer Version ist ein besonders verwegener Gesell: Des kühnen Herausforderns der Elemente nicht genug, zielt der Frevler mit seiner Pistole auch noch auf den mahnend erschienenen
Allmächtigen. Natürlich trifft sich der Gotteslästerer dabei selbst. Zum „Teufel der See" verflucht, segelt er seither ruhe-und ziellos durch die stürmischen Meere und bringt anderen Seeleuten
großes Unheil.

Nachtbarke und Totenbarke

Die Verankerung der verschiedenen Motive im realen bretonischen Alltag garantiert, dass der Stoff auch plausibel wirkt und dem Volk entsprechend unter die Haut geht. So die Schauergeschichten von
der Nachtbarke (Bag-Noz) oder der Totenbarke (Lestr an Anaon). Kein Erlöser steuert solch Schiff, sondern der erste (oder letzte) Tote des Jahres. Die Bretonen nennen ihn · wie auch sein
Festlandpendant mit der Sense · den Ankou. Ein unfreiwilliger Charon, der seiner Ablöse harrt. Meist scheinen die unheilvollen Barken schwer beladen. Was wunder, haben sie doch die Seelen Ertrunkener
und diverser Bösewichter an Bord. Ihr Erscheinen kündigt schweres Wetter oder Schiffbruch an. Zurufe an den unheimlichen Steuermann verhallen im Nichts, haben nur das Verschwinden des Geisterschiffes
zur Folge.

Man muss es ja nur wissen: bisweilen gelingt es, den Spukwesen des Ozeans doch zu ewiger Ruhe zu verhelfen. Davon berichten zwei Seemänner aus Quimper. Sie verschiffen Cidre-Fässer an den Küstenort
Benodet. Ebbe verhindert die Weiterfahrt. Da erscheint ihnen nächtens ein weißes Schiff. An Bord fünf bekannte Gestalten, in weißen Seemannsjacken, über welche schwarze Tränen laufen. Die Ruhelosen
erflehen eine Totenmesse. Die guten Seeleute aus Quimper fassen sich ein Herz, bestellen das Seelenamt und erlösen die Verdammten von schwarzen Tränen und Irrfahrt.

Es sind schon seltsame Bilder, um noch einmal mit Gaston Bachelard zu sprechen: der Tote fürchtet den Tod, der Ertrunkene den Schiffbruch. Doch der Abschied von dieser Welt ist eine Reise ohne Ende.
Und Charons Barke? „Es gibt keinen Totenschiffer zum Glück." (Bachelard)

Dem typischen Erben europäischer Aufklärung vermag derlei bildstarker Volksglaube natürlich nichts anzuhaben. Transzendenzverlust? Und was, wenn ausgerechnet jetzt die alte „Chaloupe de Douarnenez"
am Horizont vorbeiglitte? Jener Sardinenfrachter des hiesigen Musee du bateau, den wir anderntags bestaunt haben? Ein dunkler Zweimaster aus längst vergangenen Zeiten, die rostroten Segel im
Abendwind schlagend . . .

Doch keine Wellung auf dem Meer. Schweigsam schreiten wir die dichten Steinkreuzformationen des Friedhofs ab. Noch speichert der Granit die Wärme des Tages.

Da holt uns Madame Le Joncours stolzer Hinweis auf das Grab des ersten Prix-Goncourt-Trägers (Literaturpreis) jäh auf den Boden der Realität zurück: John Antoine Nau fand hier 1918 seine letzte
Ruhestatt. Der Gekürte stammte aus San Francisco, war Matrose und Verfasser exotischer Romane. Neben seinem bescheidenen, gepflegten Grabkreuz verfällt die mächtige Gruft einer alten Dynastie von
Sardinenkonservierern. Und immer wieder „aufgeschlagene Bücher" auf den Grabplatten. Schaurige Chronik einer unersättlichen See.

Jedem sein Grab!

Eine Frage brennt uns auf der Seele: Wie hält man es heute mit den im Meer Verschollenen? Monsieur le Recteur (bretonisch: „An aotrou person"), der Gemeindepfarrer, versichert: ihnen allen
sei die letzte Ruhestätte auf dem Seefriedhof gewiss. Althergebrachte kompensatorische Bestattungsriten würden nicht mehr vollzogen. Solch Brauchtum habe sich lediglich an sehr exponierten Orten
erhalten: auf der vor Brest gelegenen Ile d'Ouessant · und vielleicht auf der Ile de Sein, draußen, vor der Pointe du Raz. · Welch Glaube im Innersten der ihm anvertrauten Schäfchen die Zeiten
überdauert habe, will der Seelenhirte von Treboul-Douarnenez nicht wirklich beurteilen . . . „Bei uns kann jeder glauben, was er will", schaltet sich rasch Madame le Joncour ein, und deutet auf
das Grabmal eines ortsbekannten Atheisten: „Voila! Jedem sein Grab!"

Schließlich bewegen wir uns auf altem, keltischen Boden. Solch Erbe erklärt das besondere Verhältnis der Bretonen zum Tod: Die alten Kelten begingen ihr „Neujahr" ausgerechnet zu Allerheiligen (
„Samhain"), zählten die Zeit nicht in Tagen, sondern in Nächten, fassten die Anderswelt als heiter-sorgloses Dasein und kannten zahlreiche Mythen von Boten zwischen den Welten.

Nun sind die Druiden längst Mythos ihrer selbst, ist die Bretagne seit Jahrhunderten christianisiert und romanisiert.

Dennoch: Unweit des Seefriedhofs hat man den im Meer Verschollenen ein Denkmal mit eindeutigen kulturellen Bezügen gesetzt: eine keltische Göttin wacht über den Seemann aus Douarnenez. Am Sockel die
bretonische Inschrift: „Sonjomp dezo da Viken". Das verstehen noch geschätzte 600.000 Bretonen. Sie gehören entweder der Generation der über Fünfzigjährigen an oder absolvieren zweisprachige
„Ecoles Diwan" (bretonisch-französische Schulen) und spezielle Universitätslehrgänge.

Es wird Nacht. Die Pastelltöne von Himmel und Meer weichen einem magischen Dunkelblau. Die Felsformationen in der Meerenge von Douarnenez sind kaum noch auszunehmen. In der Tat könnte man die
bizarren Konturen als Überreste der legendenumwobenen Stadt Ys deuten. Einer Stadt des Reichtums und des Hochmuts, die in den Fluten versank. Dazu wussten Fischer aus Douarnenez manches zu erzählen:
Sie fischten nächtens in der heimatlichen Bucht. Plötzlich ließ sich ihr Bootsanker nicht mehr lichten. So glitt der Beherzteste von ihnen entlang der Ankerkette in die nachtschwarze See hinab. Da
traute der wackere Mann seinen Augen nicht: · doch diese Unterweltschau ist eine andere Geschichte.

Freitag, 29. Oktober 1999

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