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Arbeit schützt vor Armut nicht

In Österreich gelten mehr als 400.000 Menschen als „arm"

Von Heike Hausensteiner

Auf Urlaub fahren zumindest einmal im Jahr drei Viertel der Österreicher. Bereits 52 Prozent telefonieren mit einem Handy. Bei der Internet-Nutzung liegt
Österreich beinahe gleich auf mit dem europäischen Spitzenreiter Finnland: Rund 120 Internet-Zugänge gibt es pro 1.000 Einwohner. Österreich zählt zu den reichsten Nationen der Welt. Dennoch gibt es
hierzulande 420.000 Menschen, die an oder unter der Armutsgrenze leben, rund 1,1 Millionen sind von Armut bedroht. Wiewohl es in Österreich schwierig ist, an genaue Daten zum Thema Armut heran zu
kommen, beklagt Gudrun Biffl vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) eine „statistische Stille". „Armut" sei eben immer noch ein „schmutziges Wort", entsprechend tabuisiert und von
der öffentlichen Diskussion ausgespart. „Wenn man nicht über Sex spricht, kann man auch sexuelle Probleme nicht lösen", argumentiert Biffl. Was nicht heißt, dass einer notwendige Debatte nicht
auch Taten, sprich: Maßnahmen, folgen sollten. Zumal sich des Randthemas Armut in der Praxis vor allem karitative Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) annehmen.

Mitte der 90-er Jahre haben sich in Österreich mehr als 20 Wohlfahrtsverbände, Sozialinitiativen, kirchliche und gewerkschaftliche Organisationen sowie Bildungs- und Forschungseinrichtungen zum
„Netzwerk gegen Armut und soziale Ausgrenzung" zusammengeschlossen. Armutsbekämpfung und soziale Gerechtigkeit heißt das Ziel, drei Armutskonferenzen, ein Optionenbericht und die verhallte Forderung
nach einem Nationalen Aktionsplan gegen Armut waren bis dato der Weg.

Was heißt „arm"?

Als „arm" gelten Personen, die monatlich weniger als 7.700 Schilling zur Verfügung haben, in einer Substandard-Wohnung leben und die Grundbedürfnisse wie Nahrung und Kleidung nicht mehr
finanzieren können. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Im Vergleich dazu: Das durchschnittliche gewichtete Pro-Kopf-Einkommen in Österreichs Haushalten beträgt derzeit 15.000 Schilling (12-mal
jährlich); in den rund 150.000 Wohnungen der Kategorie D (ohne WC und Duschmöglichkeit, das sind 5 Prozent aller Wohnungen) leben zu zwei Drittel Pensionisten und Gastarbeiterfamilien. Zudem gibt es
österreichweit 10.000 Menschen ohne Wohnung, wovon etwa vier Fünftel in Obdachlosenunterkünften oder betreuten Wohnungen leben. Zur monetären Einkommensgrenze kommt hinzu, dass die von Armut
Betroffenen kaum die Möglichkeit haben, in einem Mindestausmaß am gesellschaftlichen Leben durch soziale Beziehungen teilzuhaben. Je wohlhabender eine Gesellschaft insgesamt ist, desto fragwürdiger
ist es also, Armutsbekämpfung mit der Zurverfügungstellung von materiellen Mindeststandards gleichzusetzen.

Die am häufigsten betroffenen Gruppen sind Kinder, Frauen sowie am Rande der Gesellschaft lebende Personen wie Zuwanderer, Arbeitslose und Behinderte, aber auch Pensionisten und Studenten (bei
letzteren ist die Armut allenfalls temporär, also von begrenzter Dauer). Ursachen für die soziale Ausgrenzung sind zumeist eine mangelnde Schul- oder Ausbildung (nur einen Pflichtschulabschluss haben
Frauen häufiger als Männer), unzureichende Erwerbschancen aus Gesundheitsgründen, aufgrund einer regionalen strukturschwachen Situation oder aufgrund von fehlenden Betreuungseinrichtungen für Kinder
und pflegebedürftige Verwandte.

Ist genug für alle da, oder nehmen uns „die Ausländer" etwas weg ? Nein, Arbeit sei genug vorhanden, produktive und unproduktive Tätigkeiten müssen nur gerecht aufgeteilt werden, heißt es.
Denn Arbeit schützt vor Armut nicht. Nach Angaben von Martin Schenk, Sprecher der Armutskonferenz und Sozialexperte der evangelischen Diakonie, haben in Österreich 219.000 Menschen trotz Arbeit nicht
genug zum Leben und gelten als so genannte „Working Poor". Davon sind auch 93.000 Kinder betroffen. Bei Verlust ihres Jobs würden rund 24 Prozent der Erwerbstätigen unter die Armutsgrenze
fallen.

Die Anzahl der Erwerbstätigen in Österreich ist im vergangenen Jahr zwar auf mehr als drei Millionen gestiegen. Dieser positive Trend muss aber um die vor allem im Niedriglohnbereich gestiegenen
Jobmöglichkeiten relativiert werden: „Atypische" Arbeitsverhältnisse (ca. 15 Prozent der insgesamten Erwerbsarbeit) wie Teilzeit- oder geringfügige Beschäftigung, Leih- oder Heimarbeit, befristete
oder „scheinselbstständige" Beschäftigung entwickeln sich zu einer „gesellschaftspolitischen Zeitbombe", warnt der Politikwissenschaftler Emmerich Tálos. Das Verarmungsrisiko könnte sich
zuspitzen. Mit der Zunahme von unsicheren Beschäftigungsverhältnissen seit den frühen 90-er Jahren drohe „ein gespaltener Arbeitsmarkt",warnt Arbeitsmarktexpertin Biffl.

Teilzeitarbeiten werden insbesondere von Frauen übernommen · in der Annahme, solcherart Haushalt, Beruf und Familie besser unter einen Hut zu bringen, als ob die Verantwortung für das Familienleben
immer noch reine Frauensache wäre. Andererseits verdienen in vielen Branchen Männer immer noch mehr als Frauen. Frauen stehen also nach wie vor in ökonomischer Abhängigkeit vom Partner.

Welche sind die unmittelbaren Konsequenzen, die der Armutssituation erwachsen? „Armut ist nicht Entbehrung, sondern Demütigung. Vor allem bietet sie eines nicht mehr: den Aspekt des Aussteigens"
, halten Michaela Moser und Martin Schenk im Optionenbericht der Armutskonferenz fest. „Die am meisten Ausgeschlossenen sind die am meisten Eingeschlossenen." Soll heißen: Betroffene werden
leichter kriminalisiert, der Zugang zu „reservierten" Räumen (Beispiel Gemeindewohnungen) wird ihnen verweigert, einzelne Gruppen (vor allem so genannte „Gastarbeiter" und deren Familien ·
die keineswegs „Gäste" sind, sondern billige Arbeitskräfte) werden in bestimmte Räume/Bezirke abgedrängt, etwa in Form städtischer Ghettobildung.

Verdrängung aus dem öffentlichen Raum ist die Strategie. Sozial Ausgegrenzte haben daher entsprechend wenig Möglichkeiten, sich zu artikulieren. Außer sie werden selbst initiativ. Dann schreiben sich
beispielsweise Obdachlose ihr Alltagsleben von der Seele · in „Boulevard-(Straßen)-Zeitungen wie im „Augustin" (Wien), „Megaphon" (Graz), „Asfalter" (Salzburg), „20er"
(Innsbruck) oder in der „Kupfermuck'n" (Linz). Oder nicht in Österreich geborene Musiker treten als „Tschuschenkapelle" auf.

Was unternimmt Österreichs bisher bewährter Wohlfahrtsstaat gegen die Situation? Es gibt Sozialhilfe, Notstandshilfe, Arbeitslosenunterstützung, Heim-, Wohnungs-, Schulbeihilfen usw., die
einen im Bedarfsfall nicht in Stich lassen. Laut jüngstem Regierungsprogramm könnte es im Sozialbereich allerdings zu Verschärfungen kommen: Langzeitarbeitslose (solche, die länger als ein Jahr ohne
Job sind) können beispielsweise gezwungen werden, für ein maximal 20-prozentiges „Bürgergeld" zusätzlich zur Notstandshilfe gemeinnützige Tätigkeiten (im Sozial-, Umwelt- und Denkmalschutzbereich) zu
übernehmen. Die Etablierung eines dritten Arbeitsmarktes mit geringer Durchlässigkeit „nach oben", Lohndumping für Niedriglohngruppen und somit negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt befürchten
Arbeitnehmervertreter.

Das Karenzgeld soll auf 6.000 Schillling erhöht und der Bezieher(innen)kreis ausgeweitet werden, so dass künftig auch Selbstständige und Bäuerinnen ein Karenzgeld bekommen. Aber für
Alleinerzieherinnen seien keine Maßnahmen vorgesehen, „um die gestiegene Armutsgefährdung auszugleichen", kritisiert der Wifo-Experte Alois Guger. Bei den Haushalten von Alleinerzieherinnen (in
der Tat fast ausschließlich Frauen) liegt die Armutsquote bei rund 20 Prozent. Die zweitgrößte Risikogruppe sind Haushalte mit drei Kindern (10 Prozent). „Durch zusätzliche Geldleistungen an
Familien werden wir die Geburtenzahlen nicht erhöhen, dazu brauchen wir für junge Eltern sichere Zukunfts-, sprich Beschäftigungsperspektiven und verbesserte Möglichkeiten, Familie und Beruf in
Einklang zu bringen", meint Guger. Schließlich müsse auch der geänderten Familiensituation („Erosion der Normalfamilie"), der zunehmenden Individualisierung (mehr Single-Haushalte) und der
damit einhergehenden Neupositionierung vor allem der Frauen in der Gesellschaft (weg vom Patriarchat) Rechnung getragen werden.

Ein weiterer Kritikpunkt im Regierungsprogramm ist der maximal 20-prozentige Selbstbehalt bei Krankenbehandlungen in den Ordinationen und Ambulatorien, den die defizitären Krankenkassen werden
einführen dürfen. Dieser Selbstbehalt werde, so die Kritik, in erster Linie weniger gut Verdienende treffen, da die Krankheitshäufigkeit bzw. die Lebenserwartung laut Experten mit der Einkommens- und
Bildungsschicht korreliert.

Lob für Sozialsystem

Generell zollen Wirtschaftsforscher dem österreichischen Wohlfahrtstaat aber Lob. „Das Sozialhilfesystem in Österreich ist einzigartig, verglichen mit anderen Industrieländern", findet
Gudrun Biffl. Wenn jemand gar nichts mehr hat, springt der Staat ein. Als „Falle" bezeichnet sie aber die fehlende Arbeitsmarktschiene. Diese „Ausgrenzungsinstrumente" als Indikatoren
vermisst sie auch in den Beschäftigungsprogrammen der EU. Eine hohe Erwerbsbeteiligung sei die wichtigste Voraussetzung zur Stabilisierung der Finanzierung des gesamten Sozial- und Pensionssystems,
unterstreicht ihr Kollege Alois Guger. Da das österreichische Wohlfahrtssystem eher Personen mit durchgehenden Beschäftigungskarrieren und die traditionelle Aufteilung in der Familie fördert, bedürfe
es einiger Adaptationen, so Biffl, anstatt undifferenzierter Streichungen von Sozialleistungen.

In ihrem Optionenbericht fordert die Armutskonferenz einen „nationalen Aktionsplan gegen Armut und Ausgrenzung" (nach dem Beispiel des NAP, des Nationalen Aktionsplans für Beschäftigung)
und schlägt konkret die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 15.000 Schilling vor. Bezahlte und unbezahlte Arbeit müssten umgeschichtet und der Budgetanteil für Maßnahmen der aktiven
Arbeitsmarktpolitik angehoben werden. Für eine bedarfsorientierte Grundsicherung (Grundarbeitslosengeld) in der Höhe von rund 8.000 Schilling pro Monat und für eine Grundpension für alle spricht sich
der Politikwissenschaftler Emmerich Tálos aus.

Fragen müssen aufgeworfen werden, so Gudrun Biffl, „um die Komplexität des Themas zu verdeutlichen, damit nicht mit Schlagworten einfache Lösungen für komplexe Probleme propagiert werden".
Armutsbekämpfung ist nicht ausschließlich eine Angelegenheit des Sozialministeriums.

Freitag, 18. Februar 2000

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