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Das dunkle Herz von Paris

Im Stadtteil Barbès zeigt die französische Hauptstadt ihre multikulturellen Seiten
Die Kirche Sacré-Cæur taucht in Barbès häufig im Hintergrund auf.

Die Kirche Sacré-Cæur taucht in Barbès häufig im Hintergrund auf.

Von Georg Renöckl (Text und Foto)

Barbès bei Nacht: eine Freihandelszone. Viermal fragt mich jemand, ob ich Feuer habe, viermal verneine ich höflich. Erst dann fällt der Groschen. "Verkauft ihr alle Gras?" "Nein, auch wirkliche Drogen, oder Mädchen, was du willst." Der Kunde ist König, und was kann ein einsamer Fußgänger im nächtlichen Barbès anderes sein als ein potenzieller Kunde? Das Lokal, neben dem sich die Szene abspielt, heißt "Au palais de Schengen".

Barbès bei Tag: der einzige Ort auf der Welt, von dem der Blick auf die Kirche Sacré-Cœur nicht kitschig ist, sondern tröstlich. Immer wieder tauchen die Kuppeln überraschend im Sichtfeld auf, als perfektes Hintergrundbild für exotische Straßenszenen. Der Blick von der Kreuzung Rue de Chartres/Rue de la Charbonnière macht süchtig.

Mythos eines Stadtteils

Gleich neben dem Touristenmagneten auf dem Montmartre schlägt das dunkle Herz von Paris. Das Viertel gilt als finsterer arabischer Souk, als afrikanisches Drogen- und Hurenquartier, als letztes Pariser Ghetto – aber auch als das Dorf in der Stadt, in dem die Leute auf der Straße einander noch grüßen. Barbès wird es nach der Metrostation am Boulevard de la Chapelle genannt, eigentlich heißt der Bezirk Goutte d‘Or, goldener Tropfen, zur Erinnerung an die Weingärten früherer Jahrhunderte. Diese wurden 1840 in Bauland umgewidmet, der langsam entstehende Stadtteil sollte zugewanderten Arbeitern Unterkunft bieten: Franzosen aus der Provinz, Süd- und Osteuropäer siedelten sich hier zuerst an, ab der Mitte des 20. Jahrhunderts dann Maghrebiner, Schwarzafrikaner und Asiaten. 40 Nationalitäten, bzw. Ethnien sind unter den etwa 22.000 Bewohnern in Barbès vertreten.

Barbès ist ein Mythos, "eine Projektionsfläche für Traumwelten und Ängste aller Art", wie Florence Ehret in seinem Buch "Salut Barbès" schrieb. Das war in den achtziger Jahren, als die "sanfte" Erneuerung des heruntergekommenen Viertels geplant wurde und man allerorts das Verschwinden der alten Atmosphäre befürchtete. Auch dieses Verschwinden ist inzwischen zum Mythos geworden. Noch heute preisen Internetseiten einen Spaziergang in der Goutte d‘Or als Geheimtipp an, nach dem Motto "Schnell noch hin, bevor es zu spät ist. Die Bagger sind schon dort." Das sind sie aber schon lang, und werden es auch noch eine Weile bleiben. Das Viertel, in dem sich einst Èmile Zolas Proletarier ins Verderben soffen, ist dennoch nicht verschwunden.

Was ist Barbès, abseits des Mythos? Ein idyllisches Dorf in der Stadt oder ein multikultureller Menschenzoo, in dem – nur noch kurze Zeit! – die letzten Reste von Elend im Paris "intra muros" besichtigt werden können? Beides nicht, und von beidem etwas. Die Faszination dieses besonderen Winkels von Paris lässt sich am besten durch die unvermeidlichen Missverständnisse und Aha-Erlebnisse erklären, die er für den Spaziergänger bereithält.

Der Stadtteil, der in den 60er Jahren als Pariser Hochburg der algerischen Unabhängigkeitsbewegung galt, hat eindeutig seinen maghrebinischen Lokalcharakter bewahrt. Heute manifestiert sich dieser weniger kämpferisch: nordafrikanische Patisserien duften nach Orangenblüten und Pistazien, die vielen kleinen Lebensmittelgeschäfte mit ihren Gewürzen und Tajine-Geschirren sehen hier nicht anders aus als in Marokko oder Algerien. Maghrebinisch ist auch der Arbeiterstrich in der Rue de la Charbonnière, wo dutzende Männer Tag für Tag auf Gelegenheitsjobs warten. Elend und Traum sind nur wenige Schritte voneinander entfernt: Vor einem schmalen Laden in der Rue Jessant, der nur drei Waren führt – frische Minze, frische Petersilie und frischen Koriander – wird der Passant unversehens von einer Duftwolke wie aus tausendundeiner Nacht eingehüllt.

Ein paar Blöcke weiter riecht es etwas strenger. In der Rue Myrha, gleich neben der Nazarenerkirche, gibt es lebende Hühner zu kaufen. Die Straße im Zentrum der Goutte d'Or stellt die Quintessenz des Viertels dar: Afrikanische Friseure und Call-Shops liegen neben maghrebinischen Epicerien und koscheren Restaurants, in einem alten Kino ist eine methodistische Kirche untergebracht, die Moschee ist nicht weit entfernt. Als Hauptstraße der Goutte d‘Or kann die Rue Myrha aber auch hinsichtlich der Probleme gelten, mit denen der ganze Stadtteil zu kämpfen hat. Drogen bekommt man hier zu jeder Tages- und Nachtzeit, Süchtige streiten lautstark auf der Straße, zwischen den geparkten Autos warten rund um die Uhr Prostituierte auf Kunden.

Hier beginnt das afrikanischste Eck von Paris. "Le goût de l'Afrique", "der Geschmack Afrikas", steht über der Eingangstür eines der vielen Fischgeschäfte in der Rue de Suez. Von den Wänden glotzen Hammerhai- und Schwertfischköpfe, die meterlangen Fische in den Tiefkühltruhen tragen seltsame Namen: Thiouf, Tilapia oder Capitaine. Aus den Geschäften dringt der Lärm von Kreissägen, doch darf man nicht glauben, dass hier umgebaut wird: Hinter den Verkaufsräumen können sich die Kunden ihren im Ganzen gekauften gefrorenen Fisch mit großen Stichsägen in Scheiben schneiden lassen. "Le goût de l'Afrique" steht über dem Ladeneingang, der Fisch jedoch kommt aus Thailand.

Die Rue de Suez führt direkt zur Rue des Poissonniers, der Fischhändlerstraße, über die bis zum Bau der Eisenbahn der Fang aus der Nordsee auf Maultierrücken in die Hauptstadt transportiert wurde. Von Fischen ist hier und in der benachbarten Rue Dejean nicht mehr viel zu sehen, muslimische Fleischhauer und ihr "halal" geschlachtetes Fleisch prägen das Straßenbild. Vor afrikanisch aussehenden, von Asiaten betriebenen Gemischtwarenhandlungen sind Yams- und Ingwerwurzeln, bunte Chile-Sträuße, Kochbananen und Süßkartoffeln aufgehäuft, in den Regalen dahinter Konservendosen mit asiatischen Aufschriften und "Fade Creams" zum Bleichen der Haut. Da und dort finden sich auch Wurzeln und Pulver "for men". Auf den Packungen sind geschwollene Bizepse zu sehen, aber gemeint ist etwas anderes.

Geschäfte aller Art

Biegt man hinter dem bunten Markt in der Rue Dejean um die Ecke, kann einen ein mulmiges Gefühl beschleichen: die Leute bilden ein Spalier, blicken die Passanten erwartungsvoll an. Was wie ein Spießrutenlauf beginnt, endet mit einem gelösten Rätsel: In dieser Straße werden gefälschte oder gestohlene Markenartikel verscherbelt, von links und rechts versperren D&G-G;ürtelschnallen, Ray Ban-Brillenfassungen und Rolex-Armbanduhren einem den Weg.

Häufig sieht man hier Auslagen, die mit Stoffballen angefüllt sind. Im Ladeninneren arbeiten ältere Männer an Nähmaschinen. In diesen Geschäften kaufen traditionell gekleidete Frauen gemusterte Stoffe, die zwar afrikanisch aussehen, größtenteils aber wohl in Ostasien erzeugt werden. Auch Europäer sorgen für Konkurrenz auf dem Textil-Sektor: In der Rue de Garde haben sich Designer angesiedelt.

Aber selbst bei den schicken Läden kann der erste Eindruck täuschen. "Art Mode" etwa unterscheidet sich äußerlich nicht von den anderen Boutiquen in der Nachbarschaft. Nur die Chefin ist älter: Madame Caron, die früher ihre eigene Textilfirma mit 150 Angestellten führte, ist jetzt 80 und im Ruhestand – und hat einen Verein gegründet, der "Menschen in Schwierigkeiten" eine neue Chance bietet. Langzeitarbeitslose, Menschen, die nach längeren Krankheiten am Arbeitsmarkt nicht mehr Fuß fassen können, oder Jugendliche ohne Aussicht auf einen Ausbildungsplatz gehören zu ihren sechs Lehrlingen. Das Design für ihre T-Shirts, Kleider und Taschen machen junge Künstler, die froh sind, Aufträge zu bekommen. Sie selbst arbeitet ehrenamtlich. Subventionen bekommt der Verein nicht: dafür bräuchte er zehn Lehrlinge. Madame Caron kämpft dennoch energisch für ihr Projekt und liegt im Dauerclinch mit dem Bezirksvorsteher, weil er ihr ein größeres Geschäftslokal bisher verweigert.

Beispiele wie dieses findet man in der Goutte d‘Or häufiger als anderswo. Zahlreiche gemeinnützige Vereine bieten Hausaufgabenbetreuung, Französisch- und Alphabetisierungskurse an, aber auch Rechtsberatung und Schreibdienste, wenn jemand beim Ausfüllen von Formularen Schwierigkeiten hat.

Alte Häuser werden, wo es möglich ist, nicht abgerissen, sondern saniert. Diese Prozedur dauert, und noch immer entsprechen 20 Prozent der Wohnungen nicht modernen Komfort- und Hygienestandards, informiert einer der hier ansässigen Vereine. Monat für Monat deckt die Stadtteilzeitung "Le 18e du mois" Fälle von Familien auf, die in winzige Wohnungen gepfercht werden, oft ohne WC und Warmwasser, oder in einsturzgefährdeten Gebäuden. Seit im Sommer 2005 in Pariser Hotels, die als Notquartiere dienten, zahlreiche Menschen durch Brände umgekommen sind, herrscht unter den Bewohnern der Substandardwohnungen die Angst, delogiert zu werden, bevor sie etwas Neues gefunden haben. Dabei wird rundherum fieberhaft gearbeitet: 451 Sozialwohnungen sollen in den nächsten beiden Jahren entstehen. 2004 sind 88 Wohnungen und fünf Künstler-Ateliers fertiggestellt worden. Auch ein Studentenheim wurde gebaut – in der Rue Myrha.

Diese Straße mit ihren Dealern, Süchtigen, Prostituierten und neuerdings auch Studenten ist wohl die schillerndste Blüte eines Konzepts, das als "Convivialité urbaine" überall in Barbès angepriesen wird. "Convivialité" kann man mit "Gastlichkeit" oder "Gemütlichkeit" übersetzen, hier ist aber wohl eher ein halbwegs funktionierendes Zusammenleben gemeint. Eine Worthülse? Die vielen Stadtteilinitiativen zeugen vom Gegenteil. Auch wenn die Goutte d‘Or für viele, die sich hier ansiedeln, eher einen Zwischenstopp ihrer Reise bietet als die ersehnte Endstation, so ist sie sicherlich kein Abstellgleis. Ein Beweis dafür waren die Unruhen in den Pariser Vorstädten im Herbst 2005: In Barbès ist niemand auf die Idee gekommen, Autos anzuzünden. Trotz hoher Arbeitslosigkeit und Wohnungsmisere ist die berechtigte Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage stärker als die Frustration.

Licht und Schatten

Beispielhaft für funktionierendes Miteinander ist auch die Grätzel-Homepage. Unter der Adresse http://www.lagouttedor.net tauschen Eltern Kindergartentipps aus, Anrainer diskutieren über den Stand der Renovierungsarbeiten, junge Bands suchen nach neuen Musikern, andere nur eine Wohnung oder beschweren sich über den Lärm in ihrer Straße. Auch hier ist wie so oft von Idylle keine Spur, von Engagement dafür sehr viel zu bemerken. Kein Wunder, dass das Arrondissement als Talenteschmiede für Jungpolitiker der französischen Sozialdemokraten gilt.

Leider nicht nur für diese. Gerade, als ich den Begriff "convivialité urbaine" von einem Plakat an einem Baustellenzaun abschreibe, traben drei CRS-Polizisten im blauen Overall an mir vorbei, das Käppi in der einen Hand, die andere am Schlagstock. Ob sie ihr Ziel finden, ist ungewiss, da die Jugendlichen auf der Straße sie in möglichst verschiedene Richtungen gleichzeitig locken. Wahrscheinlich werden sie bald, das blaue Schiffchen wieder auf dem Kopf, die Hand noch immer am Schlagstock, lässig zu ihren Mannschaftswägen zurückschlendern, die jeden Samstag ausgerechnet die Kreuzung Rue de Chartres/ Rue de la Charbonnière zuparken. Das ist genau die Stelle, von der aus der Blick auf das Sacré-Cœur am späten Nachmittag am schönsten ist.

Georg Renöckl , geboren 1976, arbeitet als Lektor für Germanistik an der Universität Straßburg.

Freitag, 20. Jänner 2006

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