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„Alles von der Seele schütteln"

In Berlin erscheint die einzige Zeitschrift von Straßenkindern

Von Rebecca Hillauer

Was Jennifer ausstrahlt, ist vor allem Energie. Als sie ins Zimmer stürmt und eine vorwitzige Bemerkung in die Runde wirft, scheint sie den Raum auszufüllen. Eine
Sekunde später kuschelt sie bei der Projektleiterin Claudia Rey im gepolsterten Bürodrehstuhl. Am frühen Nachmittag ist es noch ruhig in der Redaktion. Sonnenschein fällt in die Fenster und lässt die
orangefarbenen Wände erstrahlen. Hier, in den handtuchschmalen Räumen eines Hauses in Berlin-Friedrichshain wird das einzige „Straßenmagazin von jungen Ein- und Aussteigern" in Deutschland gemacht.
Im „Zeitdruck"-Magazin schreiben Straßenkinder Geschichten, die meistens ihre eigenen sind. So können sie sich „alles von der Seele schütteln", wie ein Mädchen es beschreibt.

Berichte, Gedichte und Interviews füllen die Seiten, daneben Fotos, Strichzeichnungen, Collagen. Jede Ausgabe hat ein Thema. Etwa: Leben oder Tod. Krise = Chance? Lüge & Wahrheit. In handlichem DIN-A-
4-Format, 30 bis 40 Seiten stark, kommt „Zeitdruck" eher dezent denn hip daher. Auf Farbe und bunte Fotos wird teils aus Kostengründen, teils mit Absicht verzichtet. „Das wirkt ein Stückchen
herb und abgehoben, was gut zum Leben der Kinder auf der Straße passt", meint Hannelore Fischer, die Redakteurin und Sozialarbeiterin in Personalunion ist. Nur die Ausgabe zum fünfjährigen
Jubiläum im vergangenen Sommer war farbig.

Dreckig, stinkig, bettelnd · und nachmittags schon besoffen? „Nein, dieses gängige Bild von Straßenkindern wollen wir nicht bedienen", sagt Hannelore Fischer. „Wir nehmen die Kids ernst und
zeigen, was in ihnen steckt." Die Kunstpädagogin, die 24 Jahre lang in einem Kinderbuchverlag der DDR arbeitete, ist immer wieder „überrascht und beeindruckt" von den Ideen und Fantasien, die die
Straßenkinder haben. Sie seien expressiv, leicht · „und sie sind in der Lage, ihren Schmerz auszudrücken." Auf der Straße lebten die Jugendlichen außerhalb der gesellschaftlichen Norm. So
einfach dies auf den ersten Blick aussähe, so heftig seien die Probleme, die den Kindern dort begegneten. Ebenso heftig schrieben sie dann drauflos.

„Ein Straßenkind bin ich eigentlich nie gewesen", beginnt Jennifer von sich zu erzählen. Was, wie vieles, das sie anfangs von sich preisgibt, den Kern ihrer Wahrheit eher verbirgt. Nichts
scheint der Rede Wert zu sein, alles cool eben und keine Probleme. Ein bisschen Kiffen, naja. Aber sonst? Lust auf Schule hat die 17-Jährige schon lange nicht mehr. In die „Zeitdruck"-
Redaktion kommt sie allerdings jeden Tag. Schreiben, dichten und malen · dafür besitzt Jennifer ein natürliches Talent. „Alle in meiner Familie sind irgendwie Künstler", meint sie. Am liebsten
malt sie leuchtend bunte Fische. Sie sei auch Fisch, sagt Jennifer etwas rätselhaft. Als Tierkreiszeichen. So wie ihre Mutter, die einen Tag vor ihr Geburtstag hat.

Nestwärme finden

In der Stadtmission am Bahnhof Zoo bot „Zeitdruck" vor einigen Jahren Straßenkindern eine Schreibwerkstatt an. Hannelore Fischer erinnert sich gut daran. Während die Sozialarbeiter noch
überlegten, wie sie die Kinder zum Schreiben motivieren sollten, schritt ein Grafiker, der sie begleitete, zur Tat. „Er hat einfach seinen Zeichenblock aufgeschlagen, Farben auf den Tisch gepackt
· und dann haben alle gemalt." Wie ein Schauspiel sei das gewesen: Als die Kinder anfingen, sich wohl zu fühlen, legten sie die Ketten und Rasseln, die sie um Hals und Arme trugen, Stück für Stück
ab; sie störten beim Zeichnen. Mit den Ketten legten die Kinder auch ihr Misstrauen ab. Aus Blickkontakten ergaben sich erste Worte. „Und dann erzählten alle ihre Geschichten."

„Zeitdruck" ist Sozialarbeit im Sinn von Kontakte machen, ankommen, quatschen, sich annähern und austauschen, Nestwärme finden, betont Mitarbeiter Frank Wängeler alias „Frekkel". Das Schreiben sei
Mittel zum Zweck. Unter den Texten stehen nur Vornamen, „anonym" oder ein Kürzel. Dies geschieht, um die Familien der Kinder zu schützen. Oft fragen Eltern in der Redaktion an, ob ihre Kinder dort
sind. In diesem Fall versuchen die Mitarbeiter, „die beiden Enden wieder zu verknüpfen". Dazu passt, dass „Zeitdruck" Teil einer Hilfepalette ist, die der freie Trägerverein „Karuna e.V."
für suchtgefährdete und suchtkranke Kinder und Jugendliche anbietet. Dazu gehört das Karuna-Mobil, das die Szenetreffpunkte der Straßenkinder anfährt, ein Kontaktcafé, zwei Wohnprojekte sowie ein
Bioladen, in dem Jugendliche lernen, ihr eigenes Geld zu verdienen. Karuna unterstützt auch eine Eltern-Selbsthilfegruppe, vor fünf Jahren initiierte der Verein ein Projekt für Straßenkinder in der
Mongolei.

Keine Einstiche an den Armen, kein Schmuddelkind, ein wacher Geist · Jennifer hat dennoch viele „Stationen" eines Straßenkindes durchlebt. Wegen Schuleschwänzens brach sie das Gymnasium ab, wechselte
zur Realschule. An einer alternativen Schule, in der praxisnahes Lernen im Mittelpunkt steht, kam sie ein bisschen zur Ruhe. Ihr erstes Praktikum machte Jennifer am Theater, das zweite im
Buddhistischen Haus in Frohnau. Sie hätte auch gerne beim Rocksender „Radio Eins" hospitiert. Doch „die stellten sich ganz komisch an, als ich dort auftauchte. Und ich habe auch nie wieder was
von ihnen gehört." Während sie erzählt, dreht sich Jennifer Zigarette um Zigarette. Zwischen den schwarz gefärbten Haaren, die sie wie eine Sioux-Squaw in zwei Zöpfen trägt, wirkt ihr Gesicht sehr
blass. Ihre Augen sind graugrün.

„Alle Straßenkinder fliehen von zu Hause, weil sie Probleme mit ihren Eltern haben, aber nicht alle sind sexuell missbraucht oder von einem alkoholkranken Vater verprügelt worden", rückt Jörg
Richert die Tendenz von Medienberichten zurecht. In 60 bis 70 Prozent der Fälle seien die Störungen in den Familien subtiler. „Viele Eltern sind schlicht überfordert, wenn ihre Kinder Liebe
,abfordern`. Sie können die Liebe der Kinder nicht an sich heranlassen, weil sie selbst als Kind Liebe nicht erfahren haben." In den neuen Bundesländern und dem früheren Ost-Berlin kommt hinzu,
dass nach der Wende viele Eltern beruflich und privat aus dem Gleis geworfen wurden.

Stiller Protest

Von zu Hause abhauen, Drogen nehmen und auf der Straße leben ist für Hannelore Fischer „die gleiche Reaktion auf Pubertätsprobleme wie zum linken oder rechten Politextremisten zu werden".
Straßenkinder richteten ihre Wut und Enttäuschung aber nach innen. Sie schlucken das in sich rein, drücken es weg, machen sich zu", um nicht mehr zu sehen und zu fühlen. „Sie rebellieren
nicht wie früher die Hippies und Punks laut und schrill. Ihr Protest ist stiller. Sie gehen einfach." Und da sie nicht durch ausgeflippte Klamotten auffallen, sondern wie andere Jugendliche auch
Markenkleidung tragen, „verschwinden sie fast". Die Nestwärme, die die Eltern nicht geben können, suchen die Kinder bei Gleichaltrigen auf der Straße. „Doch während Jugendliche früher durch
die Solidarität der Gruppe eine starke Stimme fanden, überwiegt heute Vereinzelung."

„Zeitdruck" ist ein Angebot für Straßenkinder, die sich langsam von der Straßenszene lösen wollen. „Clean" muss hier niemand sein, doch Drogen konsumieren ist in den Redaktionsräumen verboten.
„Die Kids wollen das selber auch so", bekräftigt Frekkel. „Sie wünschen sich einen geschützten Raum, in dem sie üben können, Verantwortung zu übernehmen und ihren Alltag neu zu
organisieren." Schreibpflicht besteht nicht. Wer schreiben will, schreibt. Die anderen sitzen herum und quatschen. Dann gibt es noch die Kinder, die akut auf Drogen sind. „Die kommen zu uns,
weil sie jemanden brauchen, um sich anzulehnen und auszusprechen", sagt Claudia Rey. „An manchen Tagen wird keine einzige Zeile fertig." Stattdessen sind Zuhören, Kontakt machen und
Vertrauen aufbauen angesagt.

Die „Zeitdruck"-Redaktion war Jennifers dritte Praktikumsstelle. „Eine Bedingung war zu erfüllen: ein Märchen zu schreiben." Jennifer schrieb das Märchen im Sommer, der Bedingung wegen ·
und wegen des Buches, das der „Zeitdruck"-Verlag plante. Ein Sammelband aus Wünschen, Träumen und Fantasien sollte es werden. Jennifer erfand eine kleine Hexe mit drei Beinen. Als das Buch
erschien, war Jennifer sehr stolz. Die Medien interessierten sich auch dafür · Presse, Fernsehen, Radio. „Das und die Lesungen waren das Schönste, denn all das hat riesigen Spaß gemacht."
Schlecht zu sprechen ist Jennifer auf einige Journalisten, die sich nur ihre Vorurteile über Straßenkinder bestätigen wollten. Die seien sehr enttäuscht gewesen.

Alle drei Monate ist Redaktionssitzung bei „Zeitdruck", um die nächste Ausgabe zu planen. Es geht stürmisch zu. Was soll das Thema des Heftes sein? Ein dicker Ordner wird auf den Tisch gelegt.
Aus diesem Sammelsurium werden die Beiträge ausgewählt. Abgestimmt wird per Fingerzeig. „Wir Mitarbeiter haben dabei nicht viel zu sagen", scherzt Frekkel. Die Kids bestimmen. Die Redaktion ist
erst kürzlich umgezogen, der Szene hinterher. Der Bezirk Friedrichshain (ehemals Ost) gehört mit Kreuzberg (West) zu den sozial schwächsten Bezirken Berlins. Die Mieten sind niedrig. Alle einst
besetzten Häuser sind zwar längst geräumt, doch die besetzten Wohnungen, die es noch gibt, sind ein idealer Unterschlupf für die Straßenkinder.

Jennifer wohnt wieder zu Hause. „Meine Mutter ist schwer krank", sagt sie leise. Jennifer spielt nun auch wieder Klavier. Nicht wie früher nach Noten, sondern nach ihrem Gefühl. Als sie von zu
Hause fortlief, suchten die Eltern nach ihr. „Manchmal wussten sie monatelang nicht, wo ich war." Jennifer kam eine Zeit lang bei ihrem Freund unter. Wenn die Eltern an die Tür klopften,
öffnete sie nicht. Damals hörte Jennifer auf, zur Schule zu gehen. Ein Freund starb an einem „Goldenen Schuss". „Als ich eine Weile bei ,Zeitdruck` war, habe ich versucht, nicht mehr zu kiffen."
Heute raucht sie nur noch selten.

Die Tür zur Redaktion geht auf, Axel kommt zurück von seiner Verkaufstour beim Grips-Theater. Er knallt eine Reisetasche voller „Zeitdruck"-Hefte auf den Tisch. Frekkel erklärt: „Weil die
Berliner es einfach satt haben, Ablass zu leisten, wird ,Zeitdruck` nicht mehr wie die anderen Obachlosenzeitungen auf der Straße und in U- und S-Bahn verkauft." Nun spricht man gezielt
Multiplikatoren wie Lehrer, Erzieher und Jugendbetreuer an. Pro Ausgabe werden 3.000 bis 5.000 Exemplare verkauft. 500 Abonnements gibt es bundesweit. „Zeitdruck" scheint eine gelungene
Synthese von Ossis und Wessis zu sein. Während die meisten Mitarbeiter aus der ehemaligen DDR stammen, kommen die Straßenkinder aus allen Bundesländern. Jennifer stammt aus Lichtenberg im Osten
Berlins. Warum sie von zu Hause fortlief? „Ganz normale Dinge" seien es gewesen · und sie zählt auf: Nicht jeden Tag zur Schule gehen müssen. Das Zimmer nicht aufräumen. Abends so lange
ausbleiben dürfen wie die Freundinnen.

Versöhnung mit Mutter

Die ersehnte Freiheit hat Jennifer auf der Straße nicht gefunden. Statt zur Schule gehen und Zimmer aufräumen, musste sie jeden Tag ihr Essen und einen Schlafplatz suchen. Nicht nur für sie war
diese Zeit eine wichtige Erfahrung: „Meine Eltern haben ganz viel dadurch gelernt, dass ich abgehauen bin. Meine Mutter hat sogar gesagt, sie sei durch mich erwachsen geworden." Die beiden
haben die Liebe zueinander wieder gefunden. „Verwandlung" heißen denn auch ein Gedicht und ein Bild, die Jennifer ihrer Mutter gewidmet hat. Das Mädchen plant zurzeit nicht weit voraus.
„Zeitdruck" gibt ihr Raum und Halt, um weiterzugehen.

„Zeitdruck" spannt Brücken · auch zu „normalen" Jugendlichen. Manchmal flattert ein Brief in die Redaktion für eine der jungen Autoren: „Ich habe deine Geschichte gelesen. Mir ist es ganz
genauso gegangen wie dir." Aus einem solchen ersten Kontakt entstehen mitunter richtige Freundschaften, per Brief oder E-Mail. Manchmal kommen auch Jugendliche von außerhalb zu Besuch, einmal
sogar eine Gruppe aus Großbritannien. „Verlässliches Planen und eine regelmäßige Zusammenarbeit mit Straßenkindern ist sehr schwer", räumt Frekkel ein: Sie leben zu ungesichert und unruhig, um
Absprachen immer einzuhalten. Trotzdem haben sie noch jedes Vierteljahr ein neues „Zeitdruck"-Heft herausgebracht. Mittlerweile schreiben auch „normale" Jugendliche für das Magazin. „Ihre
Geschichten zeigen", sagt Hannelore Fischer, „dass Straßenkinder nicht so anders sind. Alle haben die gleichen Probleme und die gleiche Wut. Der einzige Unterschied ist, dass die einen zu Hause
bleiben und die anderen auf der Straße leben."

Im „Zeitdruck"-Verlag sind bisher drei Sammelbände entstanden:

„Suchen tut mich keiner": autobiografische Texte von Straßenkindern.

„Wenn das Leben uns scheidet": Interviews mit Eltern von Straßenkindern.

„Herr Alp und die Träume": ein Märchenbuch, „in dem die Kinder symbolhaft erzählen, was sie sich von uns, den Erwachsenen, wünschen." (Jörg Richert)

In der Reihe „Bücher von der Bordsteinkante" erscheinen einzelne Bücher von Kindern und Jugendlichen. Dafür sucht der Verlag noch Sponsoren, die eine Patenschaft für junge Autorinnen und Autoren
übernehmen.

Karuna-Zeitdruck-Verlag, Pettenkofer Str. 32, D-10247 Berlin. Im Internet: http://www.karuna.de

Freitag, 18. Februar 2000

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