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Der Name der Nelke

Von Manfred A. Schmid

Einst, als die Sozialisten sich noch Sozialisten nannten, stand die Nelke hoch im Kurs. Rot und stolz prangte sie am Revers der Parteimitglieder und signalisierte die
Zugehörigkeit zu einer selbstbewußten Massenbewegung. Sie gehörte zum 1. Mai wie das Gulasch und die Eisenbahnerkapelle.

Inzwischen heißen die Sozialisten Sozialdemokraten, die „Arbeiterzeitung" heißt nicht einmal mehr „AZ", und die Nelke hat ebenso ausgedient wie der Solidaritätsgruß „Freundschaft", der
der unverbindlichen Begrüßungsformel „Grüß' Sie" oder dem saloppen „Servus" weichen mußte.

Mir ist es in diesem Zusammenhang vor allem leid um die Nelke. Sie hat sich nämlich als Symbol der friedlichen Gesellschaftsveränderung bestens bewährt. So ist die unblutig verlaufene portugiesische
Demokratisierung zum Beispiel als „Revolution der Nelken" in die Geschichtsbücher eingegangen. Und natürlich ist die rote Farbe der Blume auch eine Erinnerung daran, daß der politische Kampf immer
wieder auch mit Opfern verbunden war.

Daß auch großbürgerliche Bonvivants und Charmeure wie Maurice Chevalier und Willy Forst gerne · meist weiße · Nelken im Knopfloch zu tragen pflegten, mag nun die Strategen vielleicht dazu bewogen
haben, der Nelke als botanische Variante des Nadelstreifs den Garaus zu machen. Und so haben sie der Sozialdemokratischen Partei Österreichs beim kürzlich abgehaltenen Parteitag neben einem neuen
Parteiprogramm auch eine neue Corporate Identity verpaßt. Die Nelke raus · und das Radieschen rein.

Bei den Floristen werden sie sich mit dieser Aktion wohl wenig neue Freunde geschaffen haben. Und das in Zeiten, wo jede Stimme zählt. Anderseits steckt dahinter genaues Kalkül. Das Radieschen ist
gewissermaßen die größtmögliche Annäherung der roten Nelke an die grüne Gurke und verkörpert den ideologischen Spagat zwischen Klassenkampf und ökosozialer Marktwirtschaft.

Das Radieschen ist damit so etwas wie ein kompatibles groß- und ampelkoalitionäres Verkündigungssymbol geworden, die Partei wird dadurch · ja!natürlich · auch für Biobauern und kratzpullovertragende
Latzhosen wählbar. Und die Basis? Die wird wohl in das Radieschen hineinbeißen müssen wie in den sprichwörtlich sauren Apfel.

Aus der Kulturgeschichte erfährt man, daß sich der Name der Nelke vom nagelähnlichen Aussehen der Gewürznelke · mittelhochdeutsch negelkin herleitet. Die Nelke wurde im islamischen Orient als
Kulturpflanze entwickelt und gelangte im 13. Jahrhundert durch Kreuzfahrer nach Europa. Im Mittelalter galten die Nelken übrigens als Mariensymbol. Erst im 20. Jahrhundert wurde die rote Nelke
zunächst zur Symbolblume des 1. Mai und schließlich zum Symbol des Sozialismus und der sozialdemokratischen Parteien überhaupt.

Nun, am Ende dieses Jahrhunderts und zur Jahrtausendwende, hat die Nelke als politisches Symbol einer visionären Gesinnung offenbar ausgedient. Das Radieschen ist ja auch um einiges pragmatischer. Es
läßt sich verspeisen, ist gesund und hat einen hohen Vitamingehalt. An einer Nelke hingegen kann man sich nur erfreuen, an ihr riechen und sich von ihr inspirieren lassen.

Und noch etwas fällt einem beim genaueren Betrachten eines Radieschens auf: Es ist außen rot · und innen weiß.

Freitag, 27. November 1998

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