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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Endstation „Wagonie"

14 Stunden ohne Schilling in Wien · Protokoll eines

gescheiterten Experiments /
Von Uwe Mauch

Ich habe Hunger. Mir ist kalt. Ich friere. 23.15 Uhr, Wien Ostbahnhof. Längst steht dieses verdammte Experiment auf der Kippe: Alleine in einem dunklen
Eisenbahnwaggon, alleine in einem ausgekühlten Abteil. Wie schön wäre es jetzt, sich daheim ins warme Bett zu kuscheln. Mit vollem Bauch, geputzten Zähnen.

„Tschuldigung, ich hab' mein Geldbörsel und alle Ausweise verloren. Könnte ich heute ausnahmsweise ohne Fahrschein fahren?" Mit dieser schüchtern vorgetragenen Frage begann für mich ein
bitterkalter Wintertag. 9 Uhr vormittags, im Kundenzentrum der Wiener Linien. Sofort schaltet die junge Bedienstete beim Schalter „Tarifberatung und Information" von kundenfreundlich auf amtlich
verboten: „Tut mir Leid, aber für Beförderung muss bezahlt werden."

Also schwarz fahren. „101 Ausreden, die nichts nützen." Steht auf einem Anti-Schwarzfahrer-Plakat in der U-Bahn-Station Erdberg. Die 75. lautet: „Ich bin zur Zeit knapp bei Kasse, dafür zahl' ich
nächste Woche doppelt." Mir fällt eine 102. ein: „Ich bin von der Zeitung und wollte nur wissen, wie man in Wien einen Tag lang ohne Geld lebt." Kontrollore der Wiener Linien sind zumeist in
Zivil unterwegs, paarweise oder zu dritt. Manchmal kritzeln sie etwas in ihre Notizbücher, manchmal geben sie sich erst nach mehreren Stationen als Kontrollore zu erkennen. Immer mehr Menschen
steigen zu. Mir wird heiß: So viele potenzielle Ordnungsorgane. Ohne gültigen Fahrschein ist U-Bahn-Fahren nur halb so lustig.

Im Café Central ist noch ein Tisch frei. Ich schlage gerade die erste Zeitung auf, der Mensch will schließlich auch informiert sein, da fragt auch schon die junge Servierkraft mit dem ländlichen
Akzent, was es denn bitte sein darf. Meine Bitte um ein Glas Wasser scheint mir mehr Probleme zu bereiten als ihr. Hoffentlich bringt sie kein Mineralwasser. · Meine Sorge ist völlig umsonst.
Vielleicht klingt ihr „Sooo" beim Abstellen des Wasserglases etwas länger als sonst, dafür bedrängt sie mich danach nicht, ein zweites Glas Leitungswasser zu bestellen. Blättern, Blatt für Blatt. Von
Zeitung lesen kann keine Rede sein. Ständig fühle ich mich beobachtet, hinter meinem Rücken ausgerichtet: Seht nur den Schmarotzer dort, wärmt sich auf Kosten des Hauses auf.

Das schöne Gefühl, Geld zu haben, sei nicht so intensiv wie das Scheißgefühl, kein Geld zu haben. Soll Achternbusch einmal angemerkt haben. Das Scheißgefühl stellt sich sofort ein. Nach 60 Minuten
ist mein Wasserglas endgültig leer. In einem günstigen Moment stehle ich mich · wie ein Ladendieb · aus dem Central.

Bibliothek statt Museum

Die Kunst ist frei. Und das Kunsthistorische Museum ganz in der Nähe. Vielleicht bringen einen ja die alten Meisterwerke auf andere Gedanken. Geduldig warte ich, bis all die deutschen und
japanischen Touristen ihre Eintrittskarten gekauft haben. Pro Person sind immerhin 100 Schilling zu entrichten. Dann höre ich mich selbst sagen: „Zu blöd, aber ich habe mein Geld zu Hause
vergessen, dabei habe ich mir heute extra frei genommen." Der junge Kassier winkt sofort ab: „Damit kommen Sie an der Kontrolle nie vorbei."

Die „Kontrolle", ein stämmiger C-Beamter im dunkelblauen Pullunder, scheint auf mich gewartet zu haben: „Nein, nein. Sind S' mir ned bös, aber wie stellen Sie sich das eigentlich vor?" Der
Beamte weiß Recht und Ordnung auf seiner Seite: „Sie können doch auch nicht in ein Geschäft rein marschieren, das Einkaufswagerl voll räumen und dann an der Kassa sagen, dass Sie heute
ausnahmsweise kein Geld dabei haben."

Ich muss draußen bleiben.

Leichter zugänglich: der Hauptlesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek. Zwar muss man erst einen freundlichen Studenten oder Professor in der Garderobe finden, der einem einen Zehner für das
Schließfach überlässt, dafür genügt ein amtlicher Lichtbildausweis, um in den wohlig-warmen Studiersaal vorzudringen. Als besonders bequem erweist sich ein Sitzplatz an der lang gestreckten
Fensterfront · mit Blick auf den friedlichen Burggarten. Langsam tauen die Zehen auf. Klamm gefrorene Zehen sind nicht nur beim Ski fahren ein Jammer. Die meisten Leser lesen, einige dösen. Hier kann
man sich in aller Ruhe von den Strapazen der Straße erholen. Keine „Kontrolle" weit und breit.

Zu Mittag kommt der Hunger. Ganz von selbst. Doch zum Glück gibt es auch in Wien Dependancen der Nahrungsmittel-Konzerne. Nehmen wir zum Beispiel Nestlé: Hat man in der Österreich-Zentrale etwas für
hungrige Menschen übrig bzw. auf Lager? Wieder schwarz fahren. Nestlé findet man in einem dunklen Glasbau am Margaretener Gürtel. Auf meine Bitte um ein Stück Schokolade für einen gestern erst
Gepfändeten schiebt die adrett gekleidete Dame am Empfang sofort einen Riegel vor: „Darauf habe ich leider keinen Zugriff." Nach einer weiteren Schrecksekunde sagt sie: „Aber nehmen Sie sich
doch bitte ein Zuckerl aus dem Körberl da." Sie selbst nimmt schnell das nächste Telefongespräch entgegen. Ich nehme ein Firnzuckerl mit auf den Weg. Wieder auf der Straße sehe ich, dass im
Fenster der Empfangsdame ein netter Nestlé-Weihnachtsbaum leuchtet.

In den U-Bahn-Stationen riecht es nach frischen Backwaren. Stimmen fetzen hin und her. „Salamipizza, Spinatpizza, zweimal zum Mitnehmen." „Darf's sonst noch was sein?"

„Kardinalschnitte, Mohn-Pfirsich-Schnitte."

„Alles?"

In mir immer kürzer scheinenden Abständen werden Geldscheine über die Budel gereicht, Hunderter, Fünfziger, Zwanziger. Dazu all diese Münder, wie sie gierig in fetten Teig beißen! · Wie schnell man
sich benachteiligt fühlt. Hunger ist ein spitzer Reflex, der zwischen Magengrube und Gehirn hin und her zischt und sich auch nicht mit Vertröstungen abspeisen lässt. Wenn man nur mehr an das Eine
denkt, verdrängt man sogar die Angst, einem Fahrschein-Kontrollor in die Arme zu laufen.

Stimmen die Berechnungen der Evangelischen Diakonie, dann leben in Österreich mehr als eine Million Menschen an der Armutsgrenze. Mehr als 400.000 wissen, wie es ist, wenn man in einem der reichsten
Länder der Welt nicht satt wird. Meine Hoffnungen ruhen jetzt auf dem neu eröffneten Gourmet-Meinl in der Praterstraße. Doch der schöne Plan, schnell ein paar Weintrauben und eine Handvoll
Cocktailtomaten zu verkosten, muss gleich hinter dem Eingangsbereich wieder verworfen werden. Vor dem Obst- und Gemüseregal hat sich eine Verkäuferin mit ihrem Degustations-Tischchen aufgebaut.
Degustation! Während die Verkäuferin einer älteren Dame zuhört, die sich darüber beklagt, dass es in der Stadt nirgends mehr einen Meinl gibt, lange ich zu. Avocado-Aufstrich-Brötchen. Kurz kauen.
Sofort verdauen. Für den Zahnstocher, der in dem Probier-Brötchen steckt, ist ein eigenes Tellerchen vorgesehen.

Meine naive Frage, ob man vielleicht noch ein zweites Mal probieren dürfe, rächt sich bitter. Jetzt muss ich mir sagen lassen, dass Avocados sehr gesund sind, dass für einen Aufstrich möglichst
weiche Früchte verwendet werden sollten und dass die Avocados heute leider schon ausverkauft sind. Leider. Von zwei Avocado-Aufstrich-Brötchen kann kein Mensch satt werden. Und mehr wage ich mir nach
dem Redeschwall nicht heraus zu nehmen. Abnehmen spielt sich im Kopf ab. Erklären uns sogenannte Gewichtsmanager. Was für ein Zynismus für jene, die vor lauter Hunger gar nicht mehr zum Denken
kommen!

Wie gesagt: Mehr als eine Million an der Armutsgrenze. Jeder Vierte davon kann sich ein gesundes Leben nicht mehr leisten. Kein Geld haben hat seinen Preis. Auch in der Apotheke der Barmherzigen
Brüder in der Taborstraße gibt es Kopfweh-Pulverln nur gegen Cash. „Wir verschenken nichts", sagt die Frau Magister streng. Und weil ich nicht sofort von der Stelle trete: „Ich kann
doch nicht für ein Aspirin eine ganze Packung aufreißen."

„Und was ist mit den Barmherzigen Brüdern?"

„Die verschenken auch nichts, im Gegenteil, die bitten um Spenden."

Raus mit dem Schnorrer! Trost findet sich später bei Goethe: „Bringst Du Geld, so findest Du Gnade, sobald es Dir mangelt, schließen sich die Türen."

Beim Abgang aus einer öffentlichen Bedürfnisanstalt treffe ich endlich auf eine wohltuende Ausnahme: Auf meine Notlüge „Leider kein Kleingeld dabei" winkt der Klo-Mann mit der goldenen
Halskette freundlich ab: „Aber das macht doch nix."

U-Bahn als „Wärmeflasche"

Nachmittags, 15.30 Uhr. Um die Zeit irgendwie hinter mich zu bringen, vor allem aber, um im Warmen zu sitzen, fahre ich ein paar Runden mit der U-Bahn. Die Müdigkeit ist größer als die Angst vor
den Schwarzkapplern. Wird mich schon keiner erwischen. Zuerst geht es mit der U 1 nach Kagran, von dort zurück, in weniger als 20 Minuten bis nach Favoriten. Dann mit der U 3 nach Erdberg und auch
noch schnell einmal hinaus nach Ottakring. Nach der Station Herrengasse geben sich tatsächlich zwei Kontrollore mit Kontrollor-Plaketen zu erkennen. Und während ich noch im Gedanken um eine Erklärung
ringe, erweist sich ein älterer Herr im Trenchcoat als ausgefuchster Schwarzfahrer. Beim Stephansplatz steigt er aus und geht erhobenen Hauptes an den Amtspersonen vorbei, so als würde ihn sein
Verstoß gegen die Beförderungsrichtlinien nichts angehen. Verschwindet in der Masse. Wohl wissend, dass ihn die Kontrollore nichts anhaben können. Man muss also nicht unbedingt arm sein, um anderen
zur Last zu fallen.

Verhungern muss in Wien · einigen ehrenamtlichen Helfern sei Dank · niemand. Dort, wo man von der U-Bahn-Station Landstraße zum Busbahnhof hinauf geht, warten bereits einige Männer in ausgetragenen
Winterjacken. Auch eine junge Frau stellt sich zu ihnen. Sie tragen Billa-Sackerln mit sich, und die Schande, sie steht ihnen ins Gesicht geschrieben.

Zehn Minuten vor 21 Uhr, pünktlich auf die Minute, biegt der Canisius-Bus um die Ecke. Vier Ehrenamtliche springen aus dem Bus. Stellen im Handumdrehen ein Tischchen auf. Platzieren einen
Suppenkessel darauf, daneben den Brotsack, Plastikschüsseln und -löffel. Die Suppe, eine Gemüsesuppe mit einigen versprengten Nudeln drinnen, wurde am Nachmittag im Jugendhaus der Caritas gekocht.
Sie ist dünn, aber sie wärmt. 15 Hungrige löffeln schnell aus. So schnell sie aus dem Dunkel aufgetaucht sind, so schnell sind sie auch wieder dahin. Irgendwo soll es noch Frankfurter geben. Doch
wichtiger als Frankfurter ist jetzt die Beantwortung der Frage: Wo kann ich schlafen?

Das Zaunloch an der Arsenalstraße, gleich hinter der Tankstelle, gilt im Wiener Obdachlosen-Milieu als offenes Geheimnis. Entlang der Gleise des Ostbahnhofs geht man weiter Richtung Osten, in
Richtung der von Sandlern so genannten „Wagonie". Die vorne abgestellten Waggons. zum Beispiel jene des Intercity-Zuges nach Berlin, sind abgesperrt, ebenso der Nostalgiezug gegenüber. Man hat mich
vor den kahl geschorenen, nicht ganz zimperlichen Männern vom Wachdienst gewarnt. Ich bleibe im Dunklen.

Endlich! Ein nicht verriegelter Waggon. Seine Türen stehen einladend weit offen. Es gibt Obdachlose, wird erzählt, die sind am Abend in Wien eingeschlafen und in der Früh in Salzburg aufgewacht.
Andere wären von den Law-and-Order-Typen ordentlich aus dem Schlaf geprügelt oder von Dieben um ihr letztes Hab gebracht worden.

Kein Mensch im Wageninneren. Schiebt man in einem Coupé die Sitze zusammen, ist sogar genügend Platz für zwei Personen. Mit Decke oder Schlafsack müsste man hier auch nicht erfrieren. Allerdings
lassen sich die Waggontüren nicht verschließen. So klingt jedes noch so harmlose Geräusch sofort verdächtig. Wer sich tagsüber mit ausreichend Wein den notwendigen Abstand zur Realität verschafft
hat, schläft hier vielleicht ein. Nüchtern betrachtet, bieten die abgestellten Waggons Wärme, aber keine Sicherheit.

„So schnell fällt man, so tief fällt man." Hat Ursula von Arx in der „Neuen Zürcher Zeitung" nach einem ähnlichen Experiment notiert. Kein Kredit auf der Bank = Keine Würde als Mensch.
Die Gleichung geht tatsächlich auf. Schneller als man denkt.

23.15 Uhr. Ich habe Hunger. Mir reicht es. Nach 14 Stunden ohne Schilling hört sich der Spaß auf.

Zu Hause gibt es wen, der auf mich wartet. Die, die hier in der Endstation „Wagonie" angekommen sind, auf die wartet niemand mehr. Nicht diese eine Nacht wird sie umbringen, sondern die Wochen und
Monate ohne Geld, ohne Anerkennung.

Freitag, 18. Februar 2000

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