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Was entscheidet Kriege?

Erik C. Durschmied über Wendepunkte der Weltgeschichte

Von Robert Schediwy

„Wiener Zeitung": Herr Durschmied, Sie sind ein berühmter Mann, vor allem im angelsächsischen Bereich. Sie haben 1958 Fidel Castro als Rebellen in der Sierra
Maestra aufgestöbert und interviewt, sie waren ein vielfach ausgezeichneter Reporter in Vietnam, ihre CBS-Dokumentation „Hill 943" war für den Oscar nominiert und wurde zum Vorbild des Films
„Platoon". Ihr jüngstes, auf deutsch im Böhlau-Verlag erschienenes Buch über den von Ihnen so genannten „Hinge-Faktor" ist in etliche Sprachen übersetzt und steht auf der englischen Bestsellerliste.
„Hinge" heißt im Englischen Scharnier · es geht also um Angel-oder Wendepunkte . . .

Erik C. Durschmied: Die Idee zu diesem Buch kommt aus meiner persönlichen Erfahrung. Ich habe zahlreiche Kriege selbst miterlebt und ich habe dabei viele Dummheiten und Zufälle mit großer
Auswirkung gesehen. Eines Tages habe ich mit einem Freund, dem Rektor der geschichtlichen Abteilung der Militärakademie West Point, gesprochen. Und der hat gemeint, daß der amerikanische Bürgerkrieg
wegen drei Zigarren vier Jahre länger gedauert hat.

„W. Z.": Wie das?

Durschmied: Zu Beginn des Krieges waren die Südstaaten sehr erfolgreich. Sie hatten die Nordstaaten-Armee bei Manassas geschlagen und waren auf dem Marsch nach Washington. General Lee hätte sicher
Washington eingenommen. Den Marschbefehl Lees hatte dessen Untergebener, General Hill, aber um drei Zigarren herumgewickelt · und die sind ihm samt dem Marschbefehl aus der Tasche gefallen. Ein paar
Stunden später kommt eine Nordstaatenpatrouille vorbei, Analphabeten, doch sie mögen Zigarren · und während sie Feuer suchen, sieht ein Offizier diesen Befehl. Daraufhin hat man alles, was in den
Nordstaaten ein Gewehr hatte, vor Washington zusammengezogen und es kam zur blutigen Schlacht von Antietam oder Sharpesburg · viel blutiger als später Gettysburg. Da die Schlacht unentschieden
ausgegangen ist, hat der Bürgerkrieg dann noch vier Jahre länger gedauert. Es waren also drei Zigarren, die die Weltgeschichte verändert haben.

„W. Z.": Eine faszinierende Geschichte. Aber könnte man nicht sagen: das „Schlachtenglück" ist wechselhaft, und eine Schlacht entscheidet selten über den Ausgang des Krieges? Ich habe hier, aber
auch bei anderen Beispielen Ihres Buches ein Problem. Der amerikanische Bürgerkrieg hat sich doch jahrzehntelang angekündigt: schon in den „Federalist Papers" der Verfassungsväter Hamilton, Madison
und Jay gibt es solche Befürchtungen · und die Nordstaaten waren bevölkerungsreicher und wirtschaftlich dominant. 1861 steht dann das noch nicht entfaltete, aber weit überlegene Potential des Nordens
gegen die Südstaaten. Glauben Sie, daß der Norden wirklich die Sezession akzeptiert hätte, nur weil Washington, ein damals bis auf die Hauptstadtfunktion eher unbedeutendes Städtchen, zeitweilig
verlorengegangen wäre?

Durschmied: Ich glaube nicht, daß die Nordstaaten den Krieg verloren hätten, aber ich glaube, der Krieg wäre unentschieden ausgegangen, hätte Antietam nicht stattgefunden. Es hätte eine Union und
eine Konföderation gegeben, die vielleicht nach 100 Jahren wieder zusammengefunden hätten. Weder die Nordstaaten noch die Südstaaten wollten eigentlich den Krieg. Hätte der Süden Washington erobert,
wäre er außerdem wahrscheinlich von Frankreich anerkannt worden.

„W. Z.": Aber diese Anerkennung hätte nicht wesentlich ins wirtschaftliche und militärische Kräfteverhältnis der Kriegsparteien eingegriffen . . .

Durschmied: Außerdem hat Lincoln wenige Tage nach dem Unentschieden von Sharpesburg die Deklaration über die Sklavenemanzipation herausgegeben.

„W. Z.": . . . was man vielleicht auch als verzweifelten Akt des Versuchs der Mobilisierung der Sklaven gegen ihre allzu erfolgreichen Herren ansehen könnte, der bei einer weiteren Niederlage des
Nordens um so sinnvoller gewesen wäre. Ich könnte mir vorstellen, ihr Freund in West Point kommt aus dem Süden. Es sind ja oft die Verlierer, die verzweifelt auf den alles entscheidenden Zufall
warten · oder ihre Erben, die später zu erklären versuchen, daß alles ganz anders hätte kommen können.

Durschmied: Nein, er ist kein Südstaatler . . .

„W. Z.": Zu einem anderen Punkt, wo ich ähnliche Schwierigkeiten habe: Meinen Sie wirklich, daß der erste Weltkrieg gleich wieder zu Ende gewesen wäre, wenn der deutsche Vormarsch nicht an der
Marne gestoppt, sondern Paris gefallen wäre? Gut, Paris ist 1914 für Frankreich etwas anderes als Washington 1861 für die Nordstaaten. Aber die Sache scheint mir doch zweifelhaft.

Durschmied: Die Sache war so: Der französische Botschafter hat in St. Petersburg darum gebeten, Frankreich durch eine Offensive in Ostpreußen zu entlasten. Und als die Russen das taten, wurden
vier deutsche Armeekorps von der Marne abgezogen · etwa 250.000 Mann. Deshalb haben die Deutschen den Durchbruch nach Paris verfehlt.

„W. Z.": Das Beispiel erscheint mir überzeugender als jenes von Antietam · dennoch meine ich, daß die Kriegstechnologie des ersten Weltkrieges mit ihrer Begünstigung des Verteidigers im
Stacheldraht- und Grabenkrieg (jedenfalls bis zum Einsatz der ersten Tanks gegen Kriegsende) selbst bei einem Fall von Paris die potentiell überlegenen Kräfte der Entente begünstigt hätte. Sie nennen
im übrigen selbst ein Beispiel, wo sogar bei anderem Ausgang der „Entscheidungsschlacht" der Kriegsausgang festgestanden haben dürfte: Waterloo.

Durschmied: Ja, selbst wenn Napoleon Waterloo gewonnen hätte, er hätte auf alle Fälle die nächste Schlacht verloren. Allerdings: Waterloo hat er um vier Uhr nachmittag tatsächlich gewonnen gehabt.
Und dann, 30 Minuten später, hat er durch eine Dummheit verloren: niemand hatte jenes Paket Nägel mit, um die Zündvorrichtung der kurzfristig eroberten englischen Kanonen unbrauchbar zu machen · und
diese Kanonen haben zuletzt Napoleons Garde niederkartätscht. Aber selbst wenn Napoleon gesiegt hätte: In diesem Augenblick waren bereits 280.000 Österreicher und Russen im Anmarsch und Napoleon
hatte kaum mehr Reserven. Er hätte sein Waterloo dann eben bei Brüssel oder Aachen erlebt.

„W. Z.": Ich nenne noch ein weiteres Beispiel, das ich aus der Österreich-1-Sendung „Menschenbilder" habe: Sie haben dort von der kurzfristig erfolgreichen deutschen Ardennen-Offensive Ende 1944
gesprochen . . .

Durschmied: Das ist schon mein nächstes Buch · da geht es um den Einfluß des Wetters auf die Weltgeschichte.

„W. Z.": Diese Ardennen-Offensive ist zusammengebrochen, als plötzlich blauer Himmel gekommen ist und die Amerikaner ihre totale Luftüberlegenheit nutzen konnten. Grundsätzlich war Deutschland
aber doch damals schon besiegt . . .

Durschmied: Die Ardennen-Offensive nehme ich wirklich nur als Beispiel des Wettereinflusses und nicht als potentiellen historischen Wendepunkt. Der Wendepunkt lag davor: 1940. Da stoßen die
Deutschen auf Moskau vor und in Rußland herrscht Panik. Ganze Armeen werden gefangengenommen. Aber Hitler macht einen Fehler. Er will unbedingt noch einmal eineinhalb Millionen Gefangene und schickt
die Hälfte seiner Armee nach Kiew. Wäre er gerade nach Moskau gegangen, hätte er es erobert.

„W. Z.": Ist das nicht wieder eine Überschätzung des symbolträchtigen „Falls der Hauptstadt"? Napoleon hat die Eroberung Moskaus ja nicht geholfen . . .

Durschmied: Napoleon hat es nicht geholfen, Hitler hätte es vielleicht geholfen. Denn als Napoleon nach Moskau einzog, gab es Moskau ja nicht mehr, Moskau ist verbrannt worden.

Es gab da jedenfalls im Oktober 1940 dieses berühmte Telegramm von Dr. Richard Sorge, dem sowjetischen Meisterspion in Japan, und Kim Philby hat es aus London bestätigt. Auf dieses Telegramm hin, mit
der Bestätigung, Japan werde den Deutschen in Sibirien nicht zu Hilfe kommen, hat Stalin hasardiert und jene Million Soldaten aus Sibirien heranholen lassen, die Schukow zur Verteidigung
Moskaus brauchte. Das war der Wendepunkt. Nicht der Wintereinbruch vor Moskau, obwohl ich in meinem zweiten Buch auch darüber schreiben werde. Der Hinge-Factor war diese eine Million Mann.

„W. Z.": Ich finde Ihr Buch faszinierend, aber es scheint mir doch so, daß sich potentiell unterlegenen Mächte zwar manchmal mit „Blitzkriegen" und Überraschungsangriffen durchsetzen, daß aber
längere Kriege eher durch strukturelle Faktoren entschieden werden und nicht durch überraschende „Wendepunkte".

Das wäre mein erster grundsätzlicher Kritikpunkt an Ihrem Buch. Mein zweiter Kritikpunkt: In Ihrem Radiogespräch hat mich sehr beeindruckt, wie überzeugend Sie gesagt haben: „Ich HASSE den Krieg".
Trotzdem hatte ich den Eindruck: Der Krieg fasziniert Sie. Ihr Buch ist voll mit „Schlachtenpoesie". Ganz böse Zungen würden manche Passagen sogar „blutigen Kitsch" nennen. Ein paar Beispiele:
wenn bei Azzincourt die englischen Schützen ihre Bogen spannen und die Pfeile schießen, klingt das „wie ein Laut von einer Million Harfen". Sie sprechen von den Cuirassiers de l'Empereur,
„harten Männern, die voller Stolz ihre glänzenden Brustpanzer und griechischen Helme trugen". Sie beschreiben, wie „Fighting Joe Hooker", der Nordstaaten-General „wie ein Leuchtturm über einem
aufgewühlten Ozean" das Schlachtgetümmel überragt.

Durschmied: Heute gibt es solche Schlachten ja nicht mehr. Eine Schlacht hat historisch normalerweise drei oder vier Stunden gedauert, man muß den Lesern auch ein bißchen beschreiben, wie es dabei
zugegangen ist.

„W. Z.": Sie beschreiben das aber zum Teil sehr romantisch . . .

Durschmied: Ja, das schon, aber Hooker kommt ja wirklich auf seinem weißen Pferd. Da greifen 10.000 von Hookers Division mit dem Bajonett an und plötzlich taucht da ein Mann auf einem weißen Pferd
über ihnen auf. Oder bei Waterloo, diese 5.000 Reiter, die Kürassiere, die hatten ja alle polierte Brustpanzer und sie reiten in der Sonne auf diesen Hügel hinauf. Oder Azzincourt: alle diese
herrlichen französischen Ritter mit ihren Fahnen und Rüstungen · sie bleiben im Schlamm stecken. Man muß sich das vorstellen. Es ist einfacher zu sagen, das Flugzeug fliegt mit 2.000 Stundenkilometer
über Belgrad, als den Anblick von 5.000 Reitern gepanzerten Reitern begreiflich zu machen.

„W. Z.": Wird da nicht Krieg zu einer zwar tragischen, aber doch heroischen Beschäftigung von „richtigen Männern" romantisiert?

Durschmied: Man soll eines nicht vergessen: Schon Kinder spielen mit Maschinengewehren und Pistolen. Krieg war immer da und eine Lieblingsbeschäftigung nicht bloß der Männer, sondern der Völker.

„W. Z.": Glauben Sie das wirklich?

Durschmied: Ja. Warum gibt es nicht eine Periode in der ganzen Weltgeschichte, wo es keinen Krieg gegeben hat? Die Leute erschlagen sich doch immer irgendwo. Wenn nicht in Europa, so in Afrika,
Südamerika, Asien, im mittleren Osten . . .

„W. Z.": Für die Frauen glaube ich das absolut nicht · die spielen ja auch eine ganz marginale Rolle bei den Gewaltverbrechen. Und für die Männer? Es gibt vielleicht eine bestimmte Altersgruppe,
so zwischen 15 und 30, wo man besonders „streitlustig" ist . . .

Durschmied: Ich würde sagen, bis 40 mindestens . . .

„W. Z.": Noch so ein Romantisierungsbeispiel: Sie erwähnen das Schicksal des russischen Generals Samsonow, der sich nach der Katastrophe von Tannenberg vermutlich erschießt, nachdem er zuvor einen
Schwarm Wildgänse am tiefblauen Himmel gesehen hat . . .

Durschmied: Das ist dichterische Freiheit. Man weiß ja nicht, wie Samsonow gestorben ist . . .

„W. Z.": Kommen wir auf Vietnam, Sie waren dort 10 Jahre, sie haben wirklich auch mit den Soldaten im Feld gelebt, was Ihnen diese auch sehr hoch angerechnet haben. Sie sprechen in Ihrem Buch
davon, Vietnam war ein „Fernsehkrieg", und das würden die Militärs wohl nie wieder zulassen. Sie erwähnen auch als Hinge-factor die berüchtigte Fotografie, wie der Polizeichef von Saigon einen
Vietkong erschießt. Ich habe doch auch den Eindruck, daß Sie als Medienmensch die Rolle dieses Bildes ein bißchen überschätzt haben. Ich denke, daß es bei Vietnam eine größere Rolle gespielt hat, daß
amerikanische Rekruten nicht in fernen Dschungeln sterben wollten · und ihre Eltern und Verwandten, also Millionen von Wählern, wollten das auch nicht . . .

Durschmied: Ich habe damals für das amerikanische Fernsehen gearbeitet und mein ganzes Leben war drüben in Amerika. Und ich kann Ihnen zur Bedeutung dieses Bildes versichern: Präsident Johnson hat
dazu, die Journalisten betreffend, gesagt: „Who are those sons of a bitch · I thought they are on our side". Ich glaube, dieses eine Bild hat Amerika mehr schockiert als alles andere.

„W. Z.": Politiker und Medienleute überschätzen Politik und Medien.

Durschmied: Ich glaube nicht, daß das in diesem Fall zutrifft, denn erst nach diesem Bild kommen das Strawberry Statement, die Universitätskrawalle, Kent State, die verbrannten „draft cards". Man
muß sich vorstellen, die Amerikaner denken immer: „We are the good ones". Plötzlich hieß es: „We are the bad ones".

„W. Z.": Kommen wir kurz auf die traurige Aktualität Kosovo. Für mich ist eine historische Konstante der amerikanischen Politik und eine Konstante demokratisch legitimierter Kriegspolitik
überhaupt die Scheu vor eigenen Opfern. Daher war eigentlich der erste Weltkrieg, der die USA als Weltmacht etabliert hat, nicht populär in Amerika · und nachher kam es zur Isolationspolitik. Sie
wissen, der eher interventionshungrige Roosevelt ist 1940 mit einem Friedensversprechen wiedergewählt worden. Er hat Pearl Harbour gut brauchen können · ganz abgesehen von der wahnwitzigen
Kriegserklärung Hitlers an ihn, ohne die er es schwer gehabt hätte, sofort auch in den europäischen Krieg einzugreifen. Ich würde nun meinen, daß Clinton sehr genau wußte, warum er keine
Bodenkampftruppen in den Kosovo schicken wollte: weil nämlich ab dem Zeitpunkt, wo US-Soldaten in einem fernen Land in größerer Zahl bei Bodenkämpfen getötet werden, jeder amerikanische Präsident in
große Schwierigkeiten gerät.

Durschmied: Meine persönliche Antwort lautet: das ist der vertrottelste Krieg den ich je gesehen habe. Erstens, die Politiker haben das nicht durchgedacht. Metternich hat einmal vor 150 Jahren dem
jungen Kaiser Franz Josef gesagt: „Um Gottes Willen, Majestät, kein Ultimatum." Ein Ultimatum bedeutet, sie müssen entweder den Gegner vertraglich ganz eng binden oder ihn über den Schädel
hauen. Denn sonst verlieren Sie vollkommen Ihre Glaubwürdigkeit. Und das ist in Rambouillet passiert.

„W. Z.": Man stellt üblicherweise Ultimaten, wenn man in Wahrheit den Krieg will. Glauben Sie, daß das in Rambouillet so war, daß also die NATO angreifen wollte?

Durschmied: Nein, ich persönlich glaube, Albright hat sich da überschätzt. Ich glaube auch, sie hat ein wenig falsch gespielt. Der Rest der NATO war eigentlich nicht bereit, nach Kosovo
hineinzugehen. Sie hatten keine Truppen, und man kann nicht einen Krieg erklären mit 2.000 Mann an der Grenze. Die Jugoslawen hatten 150.000 oder so. Die Bereitwilligkeit des Westens zu einer vollen
Kriegführung war nie da.

„W. Z.": Und was ist Ihre Vorhersage?

Durschmied: Meine Vorhersage: die Sache wird nach dem Patton Principle gelöst werden: „Go in, make a lot of noise, declare victory and go home." Milosevic wird sich vermutlich halten, er ist
in 10 Jahren auch noch dort und man wird irgendeinen status quo finden.

„W. Z.": Nun zu persönlicherem: Sie sind berühmt geworden durch ein frühes Interview mit Fidel Castro und haben viele „historische Persönlichkeiten" getroffen. Wer hat Sie von diesen Leuten am
meisten überrascht, enttäuscht, beeindruckt?

Durschmied: In jeder Hinsicht Castro. Castro hat meine Karriere gemacht, das ist unvergeßlich, wie die erste Liebe, oder die erste Fahrt auf dem Rad. Castro hat auch weltgeschichtliches Format. Es
gibt ja sonst niemand mehr von seiner Statur. Aber er ist müde geworden. Seine Augen haben lange schon ihren Glanz verloren. Er steckt im „Herbst des Patriarchen". Castro ist der letzte der großen
Diktatoren.

„W. Z.": Und wer von den „Berühmtheiten" hat sie sonst beeindruckt?

Durschmied: Nehru. Ein sehr kluger Mann. Er hat mir einmal gesagt, da war ich noch bei der BBC: „Du kommst immer gerade lang genug nach Indien, um uns vollkommen zu mißverstehen".

„W. Z.": Aber langfristig war seine Politik, vor allem die Wirtschaftspolitik, nicht extrem erfolgreich.

Durschmied: Er hat schon große Politik betrieben. Ich meine, er hat China isoliert. Er war sehr klug.

„W. Z.": Vielleicht noch persönlicher gefragt: In ihrem Österreich-1-Interview haben Sie mich dadurch verblüfft, daß Sie viel diskreter als in dieser Sendung sonst üblich über ihre Kindheit
gesprochen haben. Aber hier dürfte doch sehr viel Prägendes geschehen sein: Sie sind Jahrgang 1930, gebürtiger Wiener. Ihr Vater war Berufsoffizier. Liegen hier manche Wurzeln ihrer ambivalenten
Faszination durch den Krieg? In Ihrer Pressemappe findet sich der Satz aus einem Interview mit dem „Guardian" vom 9. April 1990: „I was a little Nazi willing even to denounce my father. Then
suddenly I realised that I had been lied to, and that the war was obscene and horrible." Sie haben also offenbar einen großen Schock erlebt, und nach dem Krieg die Konsequenz gezogen · Sie sind
1948 nach Kanada ausgewandert.

Ich möchte auch offen sagen: Ihr Buch enthält für mich viele latente Echos auf die Zeit, in der Sie aufgewachsen sind. Eine Art von düsterer Romantik, „Wildgänse ziehen durch die Nacht", vielleicht
auch eine Überschätzung des Willenselements oder des Zufalls. In der NS-Zeit haben ja etwa manche an die kriegsentscheidende Wende durch die „Wunderwaffen" geglaubt oder gehofft, daß Roosevelts Tod
am Kriegsausgang etwas ändern würde . . .

Durschmied: Ich bin 1940 ins Theresianum und zwar nicht, weil ich wollte oder mein Vater wollte, aber damals hat man ganz einfach Knaben aus der Schule geholt, die gut waren, und ich war gut
damals in meiner Klasse und man hat mich in diese Offiziersschule gesteckt.

„W. Z.": Eine „Napola".

Durschmied: Ja. Mein Vater war im ersten Weltkrieg Offizier an der italienischen Front, Monfalcone und auf der Marmolata. Er hat auch sehr wenig darüber gesprochen. Und im zweiten Weltkrieg war er
dann eben in der Wehrmacht, bis er umgekommen ist.

Meine Eltern waren geschieden, und ich bin bei meinem Vater aufgewachsen · und bei einer Gouvernante. Er war selten daheim. Ich hatte aber ein sehr gutes Verhältnis zu ihm. 1941 oder 1942, da hat man
mir in der Schule gesagt: „Jeder, der gegen unseren Führer ist, den muß man anzeigen". Und ich hätte das bei meinem Vater · beinahe · getan. Man muß sich vorstellen, wie indoktriniert Kinder
sein können. Aber die „Stimme des Blutes" hat letztlich doch gesiegt, und ich habe ihn nicht preisgegeben. Das Problem meines Vaters war, daß er monarchistisch gesinnt war, katholisch und kaisertreu.

Das letzte Mal habe ich meinen Vater im Winter 1943 getroffen. Es war sehr kalt, ich kann mich noch an den Tag erinnern. Und er sagte: „Versprich mir eines, Du gehst nie in den Krieg. Der Krieg
ist verloren." Ich habe dann wirklich noch die Einberufung bekommen, im Jänner 1945. Es waren 32 in meiner Klasse, und davon sind dann 15 am Ende des Krieges übrig geblieben. Man hat Kindern eine
Panzerfaust gegeben, 100 Tanks sind gekommen und da ist ein 14jähriger Bub mit einer Panzerfaust gestanden. Ich dagegen bin in die Gasteiner Alpen gegangen und habe das Kriegsende oben in einer Hütte
verbracht. Wenn sie mich erwischt und die Einberufung nachgewiesen hätten, hätte man mich wohl aufgehängt . . .

„W. Z.": So sind Sie also dem Weltkrieg entgangen, aber der Krieg hat sie später nie ganz losgelassen · auch wenn Sie in Vietnam immer ein rotes Hemd mit der Aufschrift: „don't shoot · I
surrender" getragen haben . . .

Sie leben heute mit Ihrer Familie zwischen Paris, der Côte d'Azur, Dänemark und sind · immer häufiger · auch in ihrer alten Heimat. Sie sind jetzt auch · nach einiger Bemühung · wieder Österreicher,
leichter wäre es gegangen, wenn Sie Fußballer oder Eishockeyspieler gewesen wären, wie Ihnen ein Beamter erklärte. Gibt es etwas, was sie als „Alt-und Neuösterreicher" unseren Lesern zum Abschluß
sagen wollen?

Durschmied: Die Welt ist gewaltig groß, aber in der Mitte dieses Universums bleibt noch immer das Wiener Schnitzel. Zumindest bei mir.

Freitag, 09. Juli 1999

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