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Schokohülle mit feiner Fülle

Belgische Luxuspralinen machen der Mozartkugel Konkurrenz
Von Johanna Di Blasi

Sie sind ungewöhnlich groß, sündteuer und hierzulande eine Rarität - belgische Pralinen. Ihre Schokohüllen sind meist etwas zarter als bei uns und zurückhaltender gesüßt, die Inhalte sind üppiger: Crème fraîche oder Füllungen mit reichlich Butter. Die Belgier genießen Pralinen als nachmittägliche Stärkung und als Dessert. Außerdem sind sie ein beliebtes Gastgeschenk bei Dîners. Trotz ihrer Größe soll man die Naschereien ganz in den Mund nehmen - beschwören jedenfalls Insider wie der Brüsseler Maître-pralinier Christian Vanderkerken. Nur wer es mit der ganzen Praline auf einmal aufnimmt, spürt und schmeckt, wie die Schokolade - exakt bei Körpertemperatur - auf dem Gaumen schmilzt und die Aromen der Füllung sich nach und nach zur Geltung bringen.

In der Kärntner Straße und in den Ringstraßengalerien der Wiener Innenstadt gibt es belgische Pralinen zu kaufen. Ansonsten fassen die belgischen Créateurs chocolatiers in den Hochburgen der Sachertorte und Mozartkugel nur allmählich Fuß. In Deutschland hingegen unterhalten sie zahlreiche Geschäfte und sind mit eigenen Abteilungen in Ketten wie Karstadt oder Kaufhof präsent. Zur Zeit erforschen belgische Trend Scouts die Geschmacksgewohnheiten der Österreicher, um auch hier nachzuziehen. Ein interessanter Markt, denn die Österreicher verdrücken um die 10 Kilogramm pro Kopf und Jahr an Schokolade und sind in dieser Hinsicht gemeinsam mit den Schweizern und Deutschen Weltmeister.

Süße Botschafter

Der Erfolg des in 50 Länder der Erde exportierten "süßen Botschafters Österreichs", genannt Mozartkugel, bildet allerdings eine Schokobarriere, die ausländischen Anbietern das Product-Placement schwer macht, wie der Neuhaus-Verkaufsmanager Björn Brandt bestätigt. Geschmacklich würde der Belgier Neuhaus-Pralinen und Mozartkugeln niemals vergleichen. Brandt verzieht sogar ein wenig das Gesicht. Belgische Pralinen sind natürlich unvergleichlich und spielen von Haus aus in einer höheren Liga. Der smarte Export-Experte, zuständig für die Expansion der belgischen Praline auf deutschem, österreichischem und schweizerischem Boden, erläutert vor Pralinen naschenden Journalisten die "Mission" seiner Firma. Das Nobelhotel Plaza in der Brüsseler Innenstadt ist als Ambiente gerade recht. Aus Anhängern der schreibenden Zunft werden, bildlich gesprochen, Pralinenschachteln, die abgefüllt werden und die Botschaft weitertragen.

Die Chocolatiers aus den flämischen und wallonischen Hochburgen beanspruchen für sich immer selbstbewusster, Weltspitze zu sein, jedenfalls auf dem Sektor der Edelpralinen. Sehr zum Verdruss der Schweizer, die zu ignorieren versuchen, dass es überhaupt so etwas wie belgische Pralinen gibt. Da ist es wenig Trost, dass der angebliche Erfinder der Praline, der Apotheker Jean Neuhaus (auf ihn geht das gleichnamige Unternehmen zurück), Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Schweiz eingewandert ist. 1912 hat er laut Firmenwerbung im Kellergeschoss des bis heute in der prachtvollen St. Hubertusgalerie im Zentrum Brüssels unverändert existierenden Geschäfts den schokoumhüllten Kassenschlager geboren. Die Salzburger Mozartkugel hat allerdings bereits 1890 das Licht der Welt erblickt, und da es sich dabei um eine Schokohülle mit Fülle handelt, ist es ebenfalls eine Praline. Laut Brandt ist sie aber keine solche, sondern eine Sache für sich. Eine Definitionssache also, wie vieles bei Schokolade.

Die belgische "Urpraline" von 1912 fand bei einer Kundschaft, die den nährstoffreichen Inhalt der tropischen Kakaobohne noch als Heilmittel gegen Allerweltswehwehchen schätzte, leidenschaftliche Anhänger. Aus der pharmazeutischen Süßwarenhandlung für medizinische Lakritze und Hustenbonbons wurde ein Eldorado für Schokolade-Connaisseure, die gleich dem distinguierten Darjeeling-Genießer kleine Differenzen als große Unterschiede wahrzunehmen verstehen. Mit dem verspielten Interieur aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert kommt das Geschäft der magischen Chocolaterie in Lasse Hallströms Film "Chocolat" recht nahe. Hinter dem Tresen mit den duftenden Köstlichkeiten steht bei Neuhaus allerdings keine charmante Juliette Binoche, die mit einem kreisenden Pralinenteller die geheimsten Schokowünsche ihrer Kunden ergründet. Den Verkäuferinnen ist vielmehr der Stress anzumerken, japanische Touristen und verwöhnte Damen der Brüsseler Oberschicht gleichermaßen zufrieden zu stellen.

Mitunter lässt sich die belgische Königin blicken. "Ihr macht mich dick", soll Paola jüngst zum Entzücken der Belegschaft, besonders der Werbemanager, geseufzt haben. Das Attribut "Hoflieferant" gilt im monarchistischen Belgien bis heute viel. Die Ehre teilt sich Neuhaus mit Godiva und Mary, einer kleinen Brüsseler Manufaktur in der Rue Royale. Die Neuhaus-Klassiker sind die gute fünf Zentimeter langen "Caprice" und "Tentation" und die "Manons" mit schokoummantelter Buttercreme und einer halbreifen Nuss. Gute Kunden bekommen Gelegenheit, Neuhaus-Chocolatiers beim Krokantformen und Dekorieren zuzusehen. Den frischen Schlagrahm der zirka drei Monate haltbaren Sahnepralinen verteilen sie Stück für Stück mit Spritztüten wie man sie auch zu Hause bei der Weihnachtsbäckerei verwendet.

Die meisten Pralinen entstehen aber auch in diesem Traditionshaus längst maschinell. Verpackt werden sie lose in Schachteln, den ebenfalls von Neuhaus erfundenen "Ballotins". Die international expandierende Marke Godiva ist unter anderem für milde Milchschokoladeherzen bekannt. Mary ist hingegen auf dunkle Schokolade mit einem Kakaogehalt bis zu 97 Prozent spezialisiert. Ein Genuss für Geschmacks- hardliner: Solch hochprozentige Schokolade ist nicht nur arg bitter, sondern brennt auf der Zunge. Leonidas - mit dem Kopf des Königs von Sparta als Logo - gilt als belgische "Volkspraline". Produkte aus der Schokodynastie des Griechen Leonidas Kestekides - der bei der Brüsseler Weltausstellung von 1910 auf sich aufmerksam machen konnte - liegen preislich um mehr als die Hälfte unter den genannten Schokoaristokraten: Statt 9,50 Euro für 250 Gramm gemischte Pralinen bei Neuhaus zahlt man bei Leonidas 3,40 Euro.

"Personalisierte Schokolade"

Preisgünstig, aber handgemacht und mit erstklassigen Zutaten sind belgische Pralinen aus Hunderten kleiner Handwerksbetriebe, die im Fahrwasser der Großen mitschwimmen. Sie verkaufen ihre Kreationen unterhalb der werbekostenintensiven Supermarktsvertriebsebene in Souvenirläden. Typisch sind Vier-Mann-Betriebe wie Goossens in Antwerpen oder Duval in Brüssel. Deren Spezialität ist so genannte "personalisierte Schokolade", etwa mit dem Logo einer bestimmten Firma oder ausgefallene Sorten wie biergefüllte Pralinen oder Schokolade mit Lavendelgeschmack. Außerdem verdienen sie an Touristengruppen, die begierig sind, bei der Produktion dabei zu sein.

In der Chocolaterie Duval kann man Monsieur José über die Schulter blicken, wie er mit künstlerischer Hingabe exakt temperierte Flüssigschokolade in selbst geprägten Kunststoffformen verteilt. Er schöpft sie mit der Palette aus drei Wasserbadkesseln - eine für dunkle, eine für helle und eine für weiße Schokolade. Zur Überraschung der Besucher schüttet er die Schokolade sogleich wieder aus. Es soll nur ein dünner Film in den Formen erstarren. Die Pralinen werden dann gefüllt und mit flüssiger Schokolade verschlossen. Komplizierter ist die Herstellung von Hohlfiguren - Weihnachtsmänner und Osterhasen. Die Modeln bestehen hier aus Kunststoffhälften, die gefüllt und zusammengesteckt werden. Robotterartige Maschinen drehen und wenden die Figuren so lange, bis die Schokolade ringsum einen dünnen, gleichmäßigen Film bildet. Es ist wie mit der Suppe, die ebenfalls zuerst an den Rändern der Schüssel erkaltet.

Die Schokolade kaufen kleinere Betriebe pastillen- oder blockförmig, große wie Neuhaus lassen sie sich täglich tonnenweise in flüssiger Form in Tanklastern vom weltführenden Rohschokoladeproduzenten, dem belgisch-französischen Konzern Barry Callebaut, heranschaffen. An der Schokolade kann der feine Unterschied also nicht liegen, denn der Rohschokoladenmulti liefert weltweit. Freilich braucht es einiges Gespür, um unter den hunderten Variationen, die "beste" Schokolade auszuwählen, wie es alle Hersteller für sich reklamieren. Varianten des Schokobaumes gibt es streng genommen nur zwei: der edle Criollo und der gemeine Forastero. Hinzu kommt die Kreuzung Trinitario. Allen gemeinsam ist die "Diva"haftigkeit. Diese Bäume aus den immergrünen Regenwäldern am Äquator, die zu jenen seltsamen Arten zählen, die sämtliche Stadien ihres Fruchtkreislaufes auf einmal tragen, sind empfindliche Geschöpfe.

Mit den kakaotypischen Bitterstoffen wehren sie sich gegen Fressfeinde. Was bei kleinen Insekten als Nervengift wirkt, empfindet der Mensch anregend, ja aphrodisierend. Die unzähligen Geschmacksvarianten ergeben sich durch die Bedingungen der Verarbeitung: fermentieren, trocknen, rösten, mahlen, alkalisieren. Der letzte Arbeitsgang ist das Conchieren, ein Rührverfahren, das bei edler Schokolade bis zu 24 Stunden dauert. Einfluss auf den Geschmack haben auch die unterschiedlichen Anbauregionen in Mittel- und Südamerika, Afrika und Asien. Aus Zentralamerika - der Wiege des Kakaos - kommen nach wie vor die hochwertigen Sorten, aus Afrika der Großteil der Rohmasse für unsere Konsumschokolade.

Für Afrika spricht, dass die Bohnen überwiegend aus kleinen Farmen stammen, die keine Insektizide und Herbizide verwenden, beziehungsweise sich diese nicht leisten können. Hier ist das Ungleichgewicht gegenüber den einflussreichen Mulits natürlich am größten. Sie sorgen am Weltmarkt für Dumpingpreise, die Bauern verkaufen zu Spottpreisen. Laut Studien von "Fair Trade" wirkt sich außerdem eine Richtlinie der EU bedenklich auf die Situation der Kakaofarmer aus. Um den europäischen Schokolademarkt zu "harmonisieren", erlaubt die EU seit dem Jahr 2000 den Ersatz der hochwertigen Kakaobutter durch billigere Fette im Ausmaß von 5 Prozent. Ein Sieg für die Lobbyisten der Schoko- und Ölkonzerne.

Auf die Ambivalenz hinter dem

süßen Mythos macht zur Zeit eine bemerkenswerte Ausstellung des um Political Correctness unbekümmerten Künstlers Michael Ray Charles direkt auf der Brüsseler Grand Place aufmerksam. Der Afro-Amerikaner zeigt in der nur wenige Schritte neben dem kleinen Schokolademuseum neu eröffneten Cotthem Gallery faszinierend-gespenstische Püppchen aus duftender belgischer Schokolade. Die Schoko-Menneken haben die netten Gesichter des Meinl-Mohrs, stecken indessen in Blumentöpfen fest oder liegen geborsten am Boden. Eine Kritik gleichermaßen an der (neo-)kolonialistischen Ausbeutung wie an postkolonialer Schicksalsergebenheit.

Genuss oder Überdruss?

Dass einstige Göttergeschenk der Indianer und spätere Kolonialgut Kakao ist in der kapitalistischen Welt ein Massenartikel geworden. Er ist so reichhaltig vorhanden, das er etwa in Form von Nikolausbataillonen mehr Überdruss als Genuss bereitet. Dass der schwierig zu gewinnende Rohstoff bis heute zu Konditionen gehandelt wird, bei denen in der Regel der ärmere Teil der Weltbevölkerung das Nachsehen hat, ist in den schokoseligen Industrienationen kein Thema. Eher ist man besorgt, dass man sich überessen könnte. Im Internet suchen anonyme Chocoholics Rat und Trost.

Der neuseeländische "Schokoladentherapeut" Murray Langham wendet sich in seinem 2002 erschienenen Ratgeber "Süße Lust" an Schokoladeesser, die das schlechte Gewissen plagt. Sie sollen lernen, ohne Reue zu genießen. Recht amüsierlich ist seine These, dass die Art des Schokoladekonsums etwas über die Persönlichkeit eines Menschen verraten kann. Milchschokoladegenießer leben seiner Ansicht noch in der Vergangenheit, während Freunde weißer Schokolade "alle Kräfte des Universums hinter sich haben". Wer das Silberpapier zu einer Kugel rollt, führt wahrscheinlich ein langweiliges Sexualleben. Figürchenformer sind im Bett dagegen "wie Dynamit". Langhams Schokoladentest sollte man nicht unbedingt mit belgischen Pralinen machen, denn die sind meistens unverpackt.

Wer sich einmal durch die exquisite Palette der Chocolatiers aus dem Zweivölkerstaat durchgekostet hat, dessen Gaumen ist nachher verwöhnter. Für trübe Wintertage empfiehlt sich süße Vorratshaltung. Dabei gilt es einen Rat des Maître Vanderkeuken zu beherzigen: Pralinen niemals in den Kühlschrank geben! Sie bekommen sonst Kondens- und Geruchsprobleme - und "Chocolat au Camembert" kann es wohl nicht sein.

Die Ausstellung von Michael Ray Charles ist bis 15. Februar 2003 in der Cotthem Gallery, Grand Place 16, Brüssel, zu sehen. Murray Langhams Buch "Süße Lust" ist im Mana-Verlag erschienen.

Freitag, 20. Dezember 2002

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