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Die Überlebensstange

Von Holger Rust

Nun werden die Tage kürzer und dadurch naturgemäß die Abende länger, und da es gleichzeitig kälter wird, verzieht man sich ins Haus. Es war ein heißer und turbulenter Sommer, wir alle waren viel draußen - Abenteuerurlaub im Schweizerhaus, Expeditionen in die Lobau, Symposien beim Heurigen, Ersteigung des Hermannskogels und Fahrt mit dem Mountainbike am Donaukanal entlang. Und Urlaub natürlich. Wäre fast untergegangen in der Erlebnisbreite des Sommers. Der Urlaub in Frankreich. Daran erinnert man sich jetzt wieder, weil 70 oder 80 Fotos irgendwo herumliegen, die noch zu ordnen sind. Und da wir noch nicht so recht geübt sind im Umgang mit kürzer werdenden Tagen und verlängerten Abenden, greifen wir zu den Erinnerungsstücken des Sommers, um sie zu sortieren und damit eine Brücke zu schlagen.

Das ist eine interessante und abwechslungsreiche Tätigkeit, sehr kurzweilig.

"Schau, das ,Beau Rivage' in Allerey sur Saône", sagt man arglos. Was beim Gegenüber einen rechthaberischen Lachanfall provoziert. "Das soll das ,Beau Rivage' in Allerey sur Saône sein? Du spinnst ja wohl. Das ist die ,Auberge du Ferme' in Saint Marceil!" "Saint Marceil? Ich glaube es geht los . . ."

Und so weiter.

Diesmal allerdings kommt alles anders, denn bevor man mit Sicherheit das "Beau Rivage" in Allerey sur Saône als "Beau Rivage" in Allerey sur Saône identifiziert, eben weil es eben das "Beau Rivage" in Allerey sur Saône ist und nicht die "Auberge auf Ferme" in Saint Marceil, das muß hier einmal unmißverständlich klargestellt werden, sagt ein unbeteiligter Betrachter, der einen beiläufigen Blick auf die Fotos wirft: "Komisch, auf jedem Bild ist ein Baguette!"

Es stimmt, auf jedem Bild ist ein Baguette. Unübersehbar. Es ist uns, die wir diese Fotos gemacht haben, gar nicht aufgefallen. Aber nun, in den trüben Abendstunden des Herbstes fällt es auf: Was immer sie tun, diese Gallier - ein Baguette ist dabei. Hier ragt eines über den Rand des Kinderwagens hinaus, was darauf schließlich läßt, daß sie gleich nach der Entwöhnung von der Mutterbrust zur Weißbrotstange übergehen. Da hat einer das Gerät quer über den Fahrradlenker gelegt, womit sich auch die längliche Form erklärt: Sie erleichtert die Transportlogistik. Auf dem Foto mit dem herzigen kleinen Buben, der eine Weinflasche trägt, grad so wie auf dem berühmten Bild von Cartier-Bresson, findet man plötzlich in der anderen Hand ein Baguette, an der Spitze, wie bei den Kindern Frankreichs wohl üblich, angeknabbert. Das ist der Wegzoll, den sie fürs Einkaufen einheben, so wie wir früher den Rahm aus der Milchflasche getrunken haben, als sie nur mit diesen Staniolpapierln verschlossen war und die arglosen Eltern noch an unsere Vertrauenswürdigkeit glaubten.

Auch das erklärt die Form des Baguettes. Denn wenn es aus der Einkaufstasche ragt, reichts den Kindern gerade bis zum Mund, und die Erwachsenen können auch ein wenig dran herumpolken. Last not least darf man nicht vergessen, daß auch dann noch genügend genießbare Meter übrigbleiben, wenn man niemand anderen zum Apportieren hat als den Hund. Immer ist also ein Imbiß griffbereit, was für den Franzosen als solchen das wichtigste im Leben ist. Es rangiert gleich hinter der Essensbeschaffung, die übrigens überall und immer stattfindet. Wo ein Gebüsch sich auftut, wo ein See sich hinstreckt, die Ebbe ein Stück Meer freigibt oder ein Wald sich öffnet: Franzosen pflücken, jagen, sammeln, angeln, graben unentwegt nach kulinarischen Preziosen über und unter Wasser und über- und unterirdisch. Selbstverständlich nie ohne ihr Baguette - die Überlebensstange.

Dienstag, 19. Mai 1998

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