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Das Hirn als Überlebensvorteil

Ernst Mayr erklärt die verwirrende Evolution des Menschen
Von Peter Markl

In einem gewissen Sinn ist es natürlich die größte Geschichte, die man erzählen kann: die Evolutionsgeschichte der Menschen. Aber jeder, der sich darauf einlässt, muss mit erheblichen Risiken rechnen: Es gibt kein zweites Wissensgebiet, auf dem die Ansichten weiter auseinander klaffen und mit größerer Emphase vertreten werden. Gelegentlich wünscht man sich, ein informierter und kenntnisreicher Außenseiter würde sich der Sache annehmen und nach einer kritischen Sichtung der vorliegenden Belege einmal mehr zu der großen Erzählung ansetzen.

Genau das ist nun geschehen: Ernst Mayr, der große, alte und streitbare Mann unter den Evolutionstheoretikern der Generation, welche die moderne synthetische Evolutionstheorie schufen, hat ein weiteres Buch geschrieben - einen schmalen Band, der für die Außenseiter zusammenfasst, was man bisher über Evolutionstheorie herausgefunden hat.

Mit einer Ausnahme kommt darin die Geschichte der Evolution des Lebens auf der Erde nur am Rand vor. In Kapitel 11 aber bietet Ernst Mayr seinen Versuch einer Zwischenbilanz des heutigen Wissens von der Evolutionsgeschichte der Menschen an. Selbst er macht das nicht ohne seine Leser zu warnen: "Was ich getan habe und mir sicher Kritik von vielen Seiten eintragen wird, ist, dass ich unter den zahlreichen Interpretationen diejenige ausgewählt habe, die mir die größte Wahrscheinlichkeit zu haben scheint. Der Leser muss sich immer der Tatsache bewusst sein, dass die Zuordnung jedes einzelnen der Fossilien vorläufig ist. Jeder neue Fund kann die Situation drastisch verändern".

Ursache der Unsicherheit ist nicht allein die Lückenhaftigkeit der fossilen Belege, sondern auch die Tatsache, dass die meisten Hominiden-Funde sehr unvollständig sind: manchmal nur ein Kiefer, oder der obere Teil eines Schädels ohne Gesicht und Zähne oder nur ein Teil einer der Extremitäten. Der erste Schritt zur Einordnung des Fundes ist dann eine Ergänzung der fehlenden Teile und die muss - trotz aller Forschritte, die man dabei gerade in der letzten Zeit gemacht hat - subjektiv bleiben.

Die Interpretation der Fossilien spiegelt während der ganzen Geschichte der Paläoanthropologie immer auch die berufliche Herkunft der Interpreten. Die Ersten, welche versuchten, menschliche Fossilien zu interpretieren, waren gelernte Anatomen, hochqualifiziert darin, die anatomischen Unterschiede zwischen Affen und Menschen zu beschreiben. Bei ihrer Rekonstruktion des zeitlichen Ablaufes der Entwicklung verglichen sie jedes Detail eines Fossils mit der Anatomie heutiger Menschen und gewannen so den Eindruck, dass die Evolution der Hominiden "mosaikartig" ablief, so dass wenig wirklich zusammenpasste: da findet man Zähne, die denen heutiger Menschen schon sehr ähnlich sind, neben Extremitäten, die viel eher denen von Affen gleichen.

Ernst Mayr, der große Kritiker des typologischen Denkens in der Biologie, merkt nicht ohne Sarkasmus an: "Anthropologen, die, von der Anatomie kommend, darangehen, Hominiden zu klassifizieren, sollten sich daran erinnern, dass die Namen taxonomischer Spezies wie afarensis oder erectus oder habilis nicht für Typen stehen, sondern ein Sammelname sind für ziemlich variable Populationen oder Gruppen von Populationen. Wie unvollständig unser Wissen von den fossilen Hominiden ist, wird sofort klar, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass man seit 1994 nicht weniger als sechs neue Spezies fossiler Hominiden beschrieben hat. Bisher aber hat niemand versucht, ihnen in

einem neuen phylogenetischen Stammbaum der Hominiden den richtigen Platz zuzuweisen. Wie viel von den Unterschieden zwischen den verschiedenen Fossilien auf geographische Variation zurückgeht, kann man ja auf Grund einiger weniger bunt zusammengewürfelter Knochenbruchstücke auch nicht bestimmen".

Wie sehr außerwissenschaftliche Wertungen die Deutungen der Paläontologen beeinflussen können, demonstriert nichts schlagender als die Geschichte der Vorstellungen darüber, wann sich die Entwicklungslinien zwischen den Menschen und den afrikanischen Affen getrennt haben.

Als man im Menschen noch die unbezweifelbare Krone der Schöpfung sah, aber eben doch schon eingestehen musste, dass er mit den Affen gemeinsame Vorfahren gehabt haben muss, verlegte man diesen Verzweigungspunkt möglichst weit zurück in die Geschichte - bis an den Beginn des Tertiärs vor etwa 50 Millionen Jahren. Dann aber sammelten sich die Belege für die Ähnlichkeit zwischen Menschen und afrikanischen Affen sowie indirekte Indizien für das Alter der Fossilien in so beeindruckender Weise, dass viele sich lange darauf geeinigt hatten, dass der entscheidende Verzweigungspunkt vielleicht schon vor 16 Millionen Jahren gewesen sein könnte.

Die "molekulare Uhr"

Dann aber kamen die Datierungstechniken, welche die Molekulargenetik möglich gemacht haben und lieferten neue Daten: die "molekulare Uhr", ablesbar aus der Bausteinfolge der Protein- oder DNA Moleküle, zeigte, dass der Verzweigungspunkt nicht weiter als 5 bis 8 Millionen Jahre zurückliegt. Man hat natürlich gehofft, dass man aus der Zeit um diesen Verzweigungspunkt fossile Belege finden würde, aber da klafft eine ärgerliche Lücke: bisher hat man kein hominides Fossil gefunden, das vor 6 bis 13 Millionen Jahren gelebt haben muss.

Die molekulargenetischen Daten zeigen aber noch mehr: die Entwicklungslinie, die zu den Gorillas führt, zweigte von der allen afrikanischen Affen und Menschen gemeinsamen Linie bereits ab, als Schimpansen und Menschen noch gemeinsame Vorfahren hatten. Alle verfügbaren Belege sprechen heute jedenfalls dafür, dass die Schimpansen unsere nächsten Verwandten sind, den Menschen jedenfalls näher verwandt als den Gorillas.

Von da an wird es allerdings viel komplizierter, denn man hat nicht gefunden, was man sich sehr gewünscht hätte: fossile Belege für einen "gleitenden" Übergang zwischen zeitlich aufeinander folgenden Stadien der Evolution. Die Hauptursache ist natürlich die schon von Darwin so beklagte Unvollständigkeit der fossilen Funde, aber auch etwas noch Irritierenderes. Selbst dort, wo man über relativ viele Belege verfügt, zeigen sich kaum gleitende Übergänge: die Fossilien belegten Diskontinuitäten zu ganz in der Nähe gefundenen Fossilien aus der gleichen Zeit oder denjenigen, die nach ihnen kamen. Für Ernst Mayr, der sich bei der Rekonstruktion des weiteren Ablaufs vor allem auf Arbeiten von Steven Staney und Richard Wrangham stützt, ist bei allen Unsicherheiten doch eines klar geworden: die Entwicklung der Menschen ist das Endprodukt zweier einschneidender ökologischer Veränderungen, welche die Hominiden dazu zwangen, ihr bevorzugtes Habitat zu ändern. Das scheint zu drei unterscheidbaren Stadien der Menschwerdung geführt zu haben, die in verschiedenen Umwelten abliefen.

Das erste Stadium spielt im Regenwald vor sechs bis acht Millionen Jahren, wo die den Schimpansen nicht unähnlichen gemeinsamen Vorfahren in den Bäumen lebten, sich von Blättern und weichen Früchten ernährten. Sie hatten ein kleines Hirn, Männchen und Weibchen waren stark unterschieden. Selbst wenn sie zu Vorstufen des aufrechten Ganges fähig gewesen wären, hätte ihnen das wenig eingetragen: es gab keinen Selektionsdruck in Richtung aufrechter Gang.

Das zweite Stadium ist das Stadium der Australopithecinen, das sich vor etwa sechs bis drei Millionen Jahren an den Rändern der Regenwälder und in der angrenzenden baumbestandenen Savanne abgespielt haben könnte. Sie sind aus Gründerpopulationen an den Rändern des Regenwaldes hervorgegangen, vor allem weil der aufrechte Gang in der ebenen, baumbestandenen Savanne einigen Vorteil brachte. Der Selektionsdruck war allerdings nicht so stark, dass er es den Affen nicht erlaubt hätte, sich im Körperbau in kleinen Schritten an den aufrechten Gang besser anzupassen. Der nächste Baum scheint in den Savannen damals nicht zu weit weg gewesen zu sein, und es gab nur wenige Löwen oder Leoparden oder andere schnell jagende, fleischfressende Räuber.

Im Wesentlichen scheinen die Australopithecinen noch in den Bäumen gelebt und geschlafen zu haben, so dass es wenig Selektionsdruck in Richtung auf eine Änderung der für Affen charakteristischen Körpermerkmale gab: die Australopithecinen waren klein, lebten im Wesentlichen vegetarisch, die Männchen waren bis zu 50 Prozent größer als die Weibchen. Sie hatten ein kleines Hirn, kurze Beine und lange Arme, die sie zum Klettern brauchten, so dass die Jungen sich wie Affenjunge an die Mutter klammern mussten und wesentlich weiter entwickelt geboren wurden als menschliche Kinder.

Viele sehen in den Australopithecinen wegen ihrer Fähigkeit zu zweibeinigem, aufrechtem Gang die ersten Menschen.

Ernst Mayr gehört entschieden nicht zu ihnen. Er findet die für eine solche Sicht sprechenden Argumente nicht länger überzeugend: "Die Australopithecinen waren mehr als zwei Millionen Jahre lang imstande aufrecht zu gehen, aber ihr Hirn hat sich in dieser Zeit nicht vergrößert. In ähnlicher Weise misst man dem Gebrauch von Werkzeugen heute weniger Bedeutung zu, seit man weiß, wie weit verbreitet der Werkzeuggebrauch unter Schimpansen ist und dass man Ansätze dazu auch bei Kolkraben und anderen Tieren findet. Wenn man einmal von der Zweibeinigkeit und manchen Merkmalen ihrer Zähne absieht, teilen die Australopithecinen doch fast alle ihre anderen Merkmale mit den Schimpansen. Es ist daher wahrscheinlich richtiger zu behaupten, dass die Australopithecinen im großen und Ganzen den Schimpansen näher sind, als der darauffolgenden Entwicklungsstufe Homo."

Entwicklungsstadium Homo

Ernst Mayr sieht daher in dem Übergang vom affenähnlichen Entwicklungsstadium der Australopithecinen zum Entwicklungsstadium Homo das wichtigste Ereignis der Menschwerdung.

Den Anstoß dazu gab eine Klimaänderung: während im Norden vor etwa zwei Millionen Jahren die Eiszeiten hereinbrachen, wurde das afrikanische Klima immer trockener, die Bäume in der Savanne verschwanden, wodurch aus den Baumsavannen von Raubtieren durchstreifte Buschsavannen entstanden. Es sind diese Buschsavannen, in denen sich die entscheidende Evolution zum Homo abgespielt haben muss.

Der Übergang dauerte Hunderttausende von Jahren, die nur sehr wenige der Populationen der Australopithecinen überlebt haben: jetzt fehlten die Bäume, auf die sich diese Affen hätten retten können, und die Geschwindigkeit jener Art von aufrechtem Gang, zu der sie befähigt waren, machte sie zur leichten Beute für die fleischfressenden Raubtiere. Es scheint aber, dass einige dieser Populationen Erfindungen machten, die ihnen entscheidende Überlebensvorteile verschafften: sie lernten, ihr Hirn dazu einzusetzen, sich gegen die Raubtiere zu wehren und lernten, mit Hilfe neu erfundener Werkzeuge aus Holz primitive Waffen herzustellen. Vor allem aber: sie lernten, das Feuer zu zähmen, das für sie den Schutz bot, welche vorher die Baumnester geboren hatten.

In dieser Phase ist der Selektionsdruck so intensiv geworden, wie später nur mehr in der Periode nach der Erfindung der Sprache. Die intensive Bedrohung hat zu einem sehr schnellen Wachstum des Gehirns geführt: während das Hirnvolumen der Australopithecinen bei etwa 450 Kubikzentimeter lag, findet das Hirnvolumen des vor etwa 1,9 Millionen Jahren lebenden Homo rudolfensis bei etwa 700 bis 900 Kubikzentimeter.

Dieser Vergrößerung muss eine anatomische Veränderung vorhergegangen sein, da Schädel mit so großen Hirnen nicht von Weibchen geboren werden konnten, die aufrecht auf zwei Beinen gingen. Wenn sich Kinder mit zu großem Schädel entwickelt hätten, wären Mutter und Kind bei der Geburt gestorben. Die Kinder konnten die Geburt nur überstehen, wenn sie etwas vorzeitig geboren wurden und der Großteil der Vergrößerung des Hirns erst nach der Geburt ablief. (Heute brauchen menschliche Kinder etwa 17 Monate, bis sie ein ähnliches Entwicklungsstadium erreichen, wie es junge Schimpansen bei der Geburt haben).

Vor etwa zwei Millionen Jahren taucht dann in Ostafrika relativ plötzlich eine neue Art von Hominiden auf: Homo rudolfensis, von der man heute nicht mehr weiß, als dass sie von keiner der bisher bekannten Arten von in Ost- oder Südafrika lebenden Australopithecinen abzustammen scheinen. Man nimmt heute an, dass ihre Evolution sehr wahrscheinlich irgendwo anders in Afrika begonnen hat.

Ähnliches ist auch alles, was man heute von der zweiten Gruppe von Homo zu sagen weiß, welche etwa zur gleichen Zeit in Afrika auftauchte: eine Gruppe von Populationen des Homo erectus. Aus diesen Populationen scheinen die Homo erectus descendans-Populationen hervorgegangen zu sein, die vor etwa 1 Million Jahren nach Ost- und Südasien aufgebrochen sein könnten, wo man Fossilien gefunden hat, die an die 600.000 Jahre alt sind.

In Afrika hat aus derselben Gruppe von Homo erectus-Populationen eine weitere Entwicklungslinie zu Populationen von Homo ergaster geführt, von dem wiederum zwei Entwicklungslinien ausgehen. Die eine führt zu den Neandertalern, die vor 250.000 - 30.000 Jahren ihre größte Blüte erlebt zu haben scheinen. Die zweite Entwicklungslinie führt zu Populationen von Homo sapiens. Sie, die sich vor 150.000 bis 200.000 Jahren aus den afrikanischen Populationen von Homo erectus entwickelt haben könnten, begannen vor etwa 100.000 Jahren die Neandertaler-Bevölkerung in Wellen zu überrollen. Ob sie sich mit den Neandertalern vermischt haben oder der für ihr Aussterben entscheidende Faktor waren, ist ebenso umstritten wie so viele andere Details dieser Evolutionsperiode, die sich bisher nur in einem verschränkten Geflecht von Fakten und Theorien widerspiegelt, das sich nur mit einem Großaufgebot an Konjunktiven umreißen ließe.

Ernst Mayr: What evolution is. Weidenfeld & Nicholson, London 2001, 318 Seiten.

Freitag, 05. Juli 2002

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