Merseburger Zaubersprüche

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Merseburger Zaubersprüche – Merseburger Domstiftsbibliothek, Codex 136, f. 85r, 10. Jhdt  (digital colorierter Scan eines Photodrucks aus dem 19. Jahrhundert (Verlag v. F. Enneccerus, Frankfurt a. M. 1897), der nicht den heutigen Zustand des Originals wiedergibt)
Merseburger Zaubersprüche – Merseburger Domstiftsbibliothek, Codex 136, f. 85r, 10. Jhdt (digital colorierter Scan eines Photodrucks aus dem 19. Jahrhundert (Verlag v. F. Enneccerus, Frankfurt a. M. 1897), der nicht den heutigen Zustand des Originals wiedergibt)

Die Merseburger Zaubersprüche heißen so nach dem Ort ihrer Überlieferung: Sie wurden 1841 in der Bibliothek des Domkapitels Merseburg in einer aus Fulda stammenden theologischen Handschrift des 9./10. Jahrhunderts von Georg Waitz entdeckt (Handschrift: Merseburg Domkapitel Cod. 136 S. 85a) und erstmalig herausgegeben von Jakob Grimm (1842).

Die zwei Zauberformeln sind die einzigen erhaltenen Zeugen germanisch-heidnischer Religiosität in althochdeutscher Sprache.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Form

Beide Sprüche sind zweigliedrig. Einem episch-erzählenden Einleitungsteil, der ein früheres Ereignis schildert, folgt die eigentliche magische Beschwörung in Form eines Analogiezaubers (So wie damals … so soll auch jetzt …). In der Form ihrer Verse stellen die Zaubersprüche ein Übergangswerk dar – die Langzeilen zeigen teils Stabreime, teils schon den Endreim, der in der christlichen Dichtung des 9. Jhs. erfunden wurde.

[Bearbeiten] Geschichte

In der vorschriftlichen, heidnischen germanischen Frühzeit dienten Zaubersprüche dazu, „durch die Macht des gebundenen Wortes die magischen Kräfte, die sich der Mensch dienstbar machen will, nutzbar zu machen“ [1]. Zaubersprüche sind, speziell aus dem germanischen Sprachraum, in großer Zahl überliefert. Alle diese Sprüche stammen aber aus dem Mittelalter und sind daher christlich geprägt bzw. beeinflusst. Das Einzigartige an den Merseburger Zaubersprüchen ist, dass sie ihren vorchristlichen Ursprung (vor 750 n. Chr.) noch sehr rein reflektieren. Sie wurden im 10. Jh. von einem schriftkundigen Kleriker, vielleicht noch im Kloster Fulda, auf eine freigebliebene Seite eines liturgischen Buches eingetragen – zu welchem Zweck, ist unbekannt. So wurden uns die Zaubersprüche in karolingischen Minuskeln auf dem Vorsatzblatt eines lateinischen Sakramentars überliefert.

Berühmt wurden die Zaubersprüche in der Neuzeit durch die Bewertung der Brüder Grimm, die wie folgt heißt:

Gelegen zwischen Leipzig, Halle, Jena ist die reichhaltige Bibliothek des Domkapitels zu Merseburg von Gelehrten oft besucht und genutzt worden. Alle sind an einem Codex vorbeigegangen, der ihnen, falls sie ihn näher zur Hand nahmen, nur bekannte kirchliche Stücke zu gewähren schien, jetzt aber, nach seinem ganzen Inhalt gewürdigt, ein Kleinod bilden wird, welchem die berühmtesten Bibliotheken nichts an die Seite zu setzen haben…

Später wurden die Zaubersprüche dann von den Brüdern Grimm in der Ausgabe „Über zwei entdeckte Gedichte aus der Zeit des deutschen Heldenthums“ veröffentlicht (1842) und werden jetzt in der Merseburger Domstiftsbibliothek aufbewahrt.

[Bearbeiten] Spruch 1 – Befreiung von Gefangenen

Der erste Zauberspruch ist eine Art „Lösesegen“. Er beschreibt, wie eine Anzahl „Idisen“ (walkürenartige Frauen) auf dem Schlachtfeld gefangene Krieger von ihren Fesseln befreit. Den eigentlichen „magischen“ Spruch stellt die letzte Zeile mit „Entspring den Haftbanden, entfahr den Feinden!“ dar, der die Krieger erlösen soll.

Eiris sazun idisi
sazun hera duoder.
suma hapt heptidun,
suma heri lezidun,
suma clubodun
umbi cuoniouuidi:
insprinc haptbandun,
inuar uigandun.

     

Einst saßen Frauen (vgl. Disen),
setzten sich hierher [und] dorthin.
Einige (vgl. engl. „some“) banden (wörtl.: hefteten) Fesseln,
einige hielten das Heer auf,
einige lösten ringsumher
die (Todes)Fesseln:
Entspringe [dem] Fesselband,
entflieh den Feinden!

[Bearbeiten] Spruch 2 – Pferdeheilung

Balder (auch Phol) und Wodan reiten durch den Wald (holza), wobei sich Balders Pferd den Fuß verrenkt. Wodans Spruch daraufhin: „Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Glied, als ob sie geleimt seien“. So zeigen Darstellungen aus dem 5./6. Jahrhundert Wodan beim Heilen eines Pferdes. Leider können die anderen (Götter-)Namen nicht eindeutig identifiziert werden. Klar ist nur „Uuôdan“ (Wodan, Wotan, Odin) und „Frîia“ (Frigg, die Frau von Odin). Bei den anderen Namen ist nicht einmal sicher, ob es wirklich Namen von Göttern sind, da verschiedene Interpretationen ihrer Übersetzung zu finden sind.

Skandinavischer Brakteat aus der Völkerwanderungszeit. Dargestellt ist Odin als göttlicher Heiler eines Pferdes (gemäß K. Hauck)
Skandinavischer Brakteat aus der Völkerwanderungszeit. Dargestellt ist Odin als göttlicher Heiler eines Pferdes (gemäß K. Hauck)

Phol ende uuodan
uuorun zi holza.
du uuart demo balderes uolon
sin uuoz birenkit.
thu biguol en sinthgunt,
sunna era suister;
thu biguol en friia,
uolla era suister;
thu biguol en uuodan,
so he uuola conda:

sose benrenki,
sose bluotrenki,
sose lidirenki:
ben zi bena,
bluot zi bluoda,
lid zi geliden,
sose gelimida sin.

     

Phol und Wodan
ritten in den Wald.
Da wurde dem Pferd (vgl. Fohlen) Balders
der Fuß verrenkt.
Da besprach (vgl engl. to beguile) ihn Sinthgunt
und Sunna, ihre Schwester;
da besprach ihn Frija,
und Volla, ihre Schwester;
da besprach ihn Wodan,
wie nur er es verstand:

Sei es Knochenrenke,
sei es Blutrenke,
sei es Gliedrenke:
Knochen zu Knochen,
Blut zu Blut,
Glied zu Gliedern,
als ob geleimt sie seien.

[Bearbeiten] Interpretation

Die Interpretation und kulturhistorische Bedeutung dieser Texte sind umstritten, da beide Sprüche sich in der althochdeutschen Literatur in einem Vakuum befinden. Aus philologischer Sicht bieten beide Texte erhebliche Schwierigkeiten, z.B:

  • Wer sind die „idisi“ im 1. Spruch? Sind es walkürenartige Frauen? Walküren (altnordisch „diejenigen, die bestimmen, wer auf dem Kampfplatz fallen soll“ (wobei sie das Schicksal nur verwalten), in der germanischen Mythologie die Botinnen des obersten Gottes Wodan (Odin), die über die Schlachtfelder reiten, die gefallene Einherier durch ihren Kuss zu ewigem Leben erwecken und sie nach Asgard entrücken, um bei der Schlacht gegen Utgard zu kämpfen, bei der alles Leben erlöschen soll und Baldur die neue Welt einleiten soll. Eventuell identisch mit den Disen, weibliche Gottheiten aus der nordischen Mythologie. Eine Dise, altnordisch dís / dísir, altschwedisch dis, ist eine Art weibliche Fruchtbarkeitsgottheit, eventuell mit den angelsächsischen Idisi verwandt.
  • Ebenfalls als problematisch erweist sich das letzte Wort der ersten Langzeile, duoder, das man am häufigsten - so auch in diesem Artikel - mit dort oder dorthin übersetzt findet. Jedoch weist Gerhard Eis in seiner Essaysammlung "Altdeutsche Zaubersprüche" darauf hin, daß "diese Bedeutung von duoder nirgends bezeugt oder auch nur als wahrscheinlich erwiesen wird" [op. cit., S. 58]. Weiter argumentiert er, daß bei mittelalterlichen Kopisten häufig die - fehlerhafte - Vorwegnahme des Anlauts der zweiten Silbe in der ersten zu beobachten ist, und unter diesem Gesichtspunkt deutet er duoder in muoder, althochdeutsch für Mütter um. Davon ausgehend, versteht er das vorausgegangene Wort hera auch nicht als hier(hin), sondern als hehr bzw. ehrwürdig. Von hehren Müttern wäre somit die Rede. Diese wiederum bringt er in Zusammenhang mit den im ersten Halbvers benannten Idisen, indem er auf den zur mutmaßlichen Entstehungszeit der Zauberformel (erste Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrausends) unter den germanischen Stämmen weit verbreiteten Matronenkult verweist. Als hilfreiches Indiz hierfür benennt er unter anderem die für die stets gruppenweise auftretenden Matronen charakteristische Dreizahl, und tatsächlich sind die Idisen des Zauberspruchs in drei Gruppen aufgeteilt.*
  • Wie ist der Name „Phol“ im 2. Spruch zu lesen? In der Handschrift erscheint ein Großbuchstabe P, gefolgt von „ol.“ Ein h ist dem o über der Zeile überschrieben. Die Forschung hat darin oft den Namen eines uns weiter unbekannten Gottes „Phol“ gesehen. Es könnte aber auch eine Schreibung für nhd. Folen sein.
  • Balder: In der nordischen Mythologie der Gott des Lichtes. In den westgermanischen Sprachen ist dieses Wort als Name für eine Gottheit aber nicht bekannt. Dort wird es als ein abstraktes Nomen für „Gott“ verwendet.
  • Wodan: Der südgermanische Gott Wodan entspricht weitgehend dem nordischen Odin und war der Hauptgott.
  • Wie ist „Sinthgunt“ zu übersetzten? Es sei darauf aufmerksam gemacht, dass die Handschrift „Sinhtgunt“ liest.
  • Der Stabreim ist im 2. Spruch nicht konsequent durchgeführt. Es scheint, alsob der erste Teil nicht zum eigentlichen Spruch gehört, sondern als Einführung zum magischen Spruch gesehen werden soll.
  • Noch wesentlicher sind die Fragen, warum diese Sprüche in dieser Handschrift erscheinen, warum eine spätere Hand einen Auszug aus einem lateinischen, kirchlichen Gebet hinzugefügt hat, und—was Forschern wohl am meisten nervt—warum wir außer diesen zwei Texten keine weitere Überlieferung von vorchristlichem Paganentum besitzen. Die Interpretation der Texte wird durch die Abwesenheit von Vergleichsmaterial erheblich erschwert.[2].

[Bearbeiten] Indogermanische Vergleiche

Neben weiteren europäischen Überlieferungsvarianten jüngeren Datums findet sich zum zweiten Merseburger Zauberspruch kurioserweise eine Parallele in der altindischen Überlieferung Atharvaveda (Text IV 12 in der Saunaka-Version, IV 15 in der Paippalada-Version) wieder. Der indische Text besteht aus der Anrufung der in der Pflanze Arundhatî ruhenden Heilkräfte:

  1. Eine Wachsenlassende bist Du als Rohini [*Rote]
    die (Zusammen-)Wachsenlassende des gespaltenen Knochens,
    laß auch dies hier (zusammen-)wachsen, o Arundhatî!
  2. Was Dir versehrter, was Dir versengter
    Knochen oder Fleisch ist an Deinem Selbst,
    das soll (der Gott) Dhatr (=der [Zusammen-]Setzer) heilbringend wieder
    zusammensetzen, mit dem Gelenk das Gelenk.
  3. Zusammen werde Dir Mark mit Mark,
    und zusammen Dir mit Gelenk das Gelenk,
    zusammen wachse Dir das Auseinandergefallene des Fleisches,
    zusammen wachse der Knochen zu!
  4. Mark werde mit Mark zusammengefügt,
    mit Fell wachse Fell (zusammen),
    Blut und Knochen wachse Dir,
    Fleisch wachse mit Fleisch (zusammen)!
  5. Haar füge (oder: füge er) zusammen mit Haar,
    mit Haut füge (oder: füge er) zusammen Haut,
    Blut (und) Knochen wachse Dir,
    das Zerspaltene mache zusammen, o Pflanze!
  6. So steh auf, geh los, lauf fort (wie) ein Streitwagen mit guten Rädern, mit guten Radschienen, mit guten Naben, nimm aufrecht festen Stand ein!
  7. Ob er es sich durch den Sturz in eine Grube gebrochen hat,
    oder ob ein geschleuderter Stein es ihm zerschmettert hat,
    wie Rbhu die Teile des Streitwagens,
    so soll er (Dhatr?) zusammensetzen mit dem Glied das Glied. [3]

Übereinstimmungen zwischen diesem Text und MZ2 bestehen sowohl in der Rahmenhandlung (ein Gott greift ein) als auch in der Formel nach dem Schema X zu Y; wobei überdies in beiden Texten Blut, Knochen und Glieder in dieser Formel gebraucht werden.

Der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang zwischen beiden Texten ist bisher nicht geklärt, da viele altindische Überlieferungen erst nach und nach herausgegeben und damit der wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich werden. Klaus Mylius sieht in den Gemeinsamkeiten lediglich Parallelentwicklungen[4], während Heiner Eichner zumindest vorsichtig auf einen möglichen genetischen Zusammenhang verweist, der freilich erst durch weiterführende Forschungen zu festigen oder zu widerlegen ist[5].

[Bearbeiten] Spätere Bearbeitungen

Obwohl mit den Texten keine Melodie überliefert ist und noch nicht einmal sicher ist, ob sie ursprünglich Sangverse waren, wurden sie mehrfach vertont, u.a. von

  • Ougenweide, Merseburger Zauberspruch 1 auf der LP „All die weil ich mag“ (1974),
  • Corvus Corax, Merseburger Zauberspruch 1 auf der LP „Ante Casu Peccati“ (1989),
  • In Extremo, Merseburger Zauberspruch 1 auf der CD „Verehrt und angespien“ (1999), Merseburger Zauberspruch 2 auf der CD „Sünder ohne Zügel“ (2001).
  • Tanzwut, Merseburger Zauberspruch 1 auf der CD „Tanzwut“ im Lied „Auferstehung“ (1999)

[Bearbeiten] Quellen

  1. Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. 2. Auflage 1995. ISBN 3520368021
  2. Ein rezenter Artikel über die Forschungsprobleme bezüglich des 2. Spruchs ist von Ari Hoptman, “The Second Merseburg Charm: A Bibliographic Survey.“ In: Interdisciplinary Journal for Germanic Linguistics and Semiotic Analysis 1 (1999), S. 83-154. Dort auch eine neue Ausgabe des Textes mit neuer Interpretation.
  3. Übersetzung der Saunaka-Version übernommen und leicht vereinfacht aus Heiner Eichner, Kurze "indo"-"germanische" Betrachtungen über die atharvavedische Parallele zum Zweiten Merseburger Zauberspruch (mit Neubehandlung von AVS. IV 12). Die Sprache 42, Heft 1/2 (2000/2001), S. 214.
  4. Klaus Mylius (Hg.), Älteste indische Dichtung und Prosa. Vedische Hymnen, Legenden, Zauberlieder, philosophische und ritualistische Lehren. Leipzig 1981.
  5. H. Eichner, Die Sprache 42, Heft 1/2 (2000/2001), S. 230.

* Gerhard Eis, Altdeutsche Zaubersprüche, 1964, Walter de Gruyter & Co., Berlin (S. 58-66)

[Bearbeiten] Literatur

  • Heiner Eichner & Robert Nedoma, ‚insprinc haptbandun‘. Referate des Kolloquiums zu den Merseburger Zaubersprüchen auf der XI. Fachtagung der Indogermanischen Gesellschaft in Halle/Saale (17.-23. September 2000). Die Sprache 42, Heft 1/2 (2000/2001)

[Bearbeiten] Weblinks

s:
Wikisource
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