Murat Kurnaz

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Murat Kurnaz (* 19. März 1982 in Bremen) ist ein in Deutschland aufgewachsener türkischer Staatsbürger. Bekannt wurde er, als er im August 2006 nach mehr als vier Jahren aus dem Gefängnis auf der US-amerikanischen Militärbasis Guantánamo Bay auf Kuba wieder freikam.

Im Sommer 2001 hatte Kurnaz in der Türkei geheiratet. Die Ehe wurde während seiner Gefangenschaft geschieden, wovon er Meldungen zufolge erst auf seiner Heimreise nach Deutschland erfuhr.[1]

Inhaltsverzeichnis

Leben

Kurnaz machte in Bremen seinen Hauptschulabschluss und begann daraufhin eine Ausbildung zum Schiffsbauer. Der Alltag war ziemlich trist: Kurnaz hatte Probleme mit Frauen, mit Alkohol und mit Drogen. Irgendwann reifte der Gedanke in ihm, einen Schlussstrich unter dieses relativ kümmerliche Dasein zu ziehen.[2]

Im Herbst 2001 beginnt er sich intensiv für den Islam zu interessieren, lässt sich einen Bart wachsen und besucht regelmäßig die Abu-Bakr-Moschee in Bremen-Mitte. Dort bekommt er Kontakt zur Organisation "Tablighi Jamaat". Die Bundesregierung bescheinigt der Vereinigung zwar, "nicht dem terroristischen Spektrum" zuzugehören, hegt aber den Verdacht, dass sie bei "Radikalisierungsprozessen eine wesentliche Rolle" spiele. Amnesty international beschreibt "Jama at al-Tabligi" als eine "große friedlich gesonnene religiöse Gruppierung". [3]

Kurnaz’ Flugticket von Frankfurt nach Karatschi (PIA 768) am 3.10. 2001 wurde mit einer EC-Karte bezahlt – sie gehörte seinem Freund Sofyen Ben Amor. Aus abgehörten Telefongesprächen wissen die Ermittler: Dieser Ben Amor hatte Kontakt zu den radikalen Taliban – und zum Vorbeter der Bremer Abu-Bakr-Moschee, Ali Miri. Der mehrfach vorbestrafte Miri hatte Kurnaz zum militanten Islam bekehrt. [4]

Verhaftung und Inhaftierung in Guantanamo Bay

Nur wenige Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001, am 3. Oktober 2001, flog Kurnaz nach Pakistan, um sich mit seinem Freund Selçuk Bilgin, der allerdings schon am Flughafen Köln festgenommen wurde, der sehr religiösen, aber angeblich nicht radikalen Gruppe "Tablighi Jamaat" anzuschließen und die von der Organisation angebotene Pilgerreise zu unternehmen. Mehrfach wurde Kurnaz vom Abgeordneten Thomas Oppermann danach befragt, ob er nicht aus politischen und weltanschaulichen Motiven nach Pakistan gereist sei. Der Ex-Häftling verneinte dies vehement. Er habe sich der Gruppe Tablighi Jamaat angeschlossen, "um mehr über den islamischen Glauben zu erfahren".

Er plante seine Rückkehr noch im Jahre 2002, nach der Pilgerreise von vier Monaten, da er seine türkische Ehefrau in Deutschland erwartete.

In Pakistan wurde er im November 2001 bei einer Routinekontrolle von pakistanischen Sicherheitskräften festgenommen und anschließend Ende November gegen Kopfgeld an die US-Streitkräfte in Afghanistan übergeben.[5] Er wurde als „feindlicher Kämpfer“ eingestuft und im Januar 2002 von einem US-Häftlingslager in Afghanistan zum Terroristengefangenenlager in die Guantánamo-Bucht auf Kuba verlegt. Der rechtliche Status der dort Inhaftierten ist umstritten und viele Menschenrechtsorganisationen sehen in dem Vorgehen der Vereinigten Staaten einen Verstoß gegen die Menschenrechte.

Nach der Entlassung aus mehr als vier Jahren Internierung traf er am 24. August 2006 wieder in Deutschland ein.[6] Kurnaz hat seitdem wiederholt in den Medien schwere Vorwürfe gegen die deutsche Bundesregierung erhoben. So behauptete er, er sei Ende 2001 in Afghanistan von Angehörigen des Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr misshandelt worden. Sein Anwalt warf der Bundesregierung vor, sie habe eine frühere Freilassung Kurnaz im Jahre 2002 vereitelt. Kurnaz berichtete zudem von schweren physischen und psychischen Misshandlungen durch US-Amerikaner in Afghanistan und auf Kuba. Er trägt auch nach seiner Freilassung langes Haar und einen sehr langen Bart, während frühere Fotos ihn stets glatt rasiert bzw. mit kurzem Bart zeigten.

Gründe für die Gefangennahme

Murat Kurnaz befand sich im direkten Umfeld von Selçuk Bilgin, dem seine eigenen Eltern vorgeworfen haben, in Afghanistan gegen die Vereinigten Staaten kämpfen zu wollen. Diese Tatsache führte zu einer Überprüfung seines gesamten Umfeldes, zu dem auch Kurnaz zählte. Beweise für seine Beteiligung an Gewalttaten wurden nicht erbracht.

Kurnaz wurde von den US-Kräften als „Ungesetzlicher Kombattant“ eingeordnet. Dieser Begriff - von George W. Bush im sogenannten „Krieg gegen den Terror“ eingeführt - taucht so allerdings nicht im Kriegsvölkerrecht bzw. im Genfer Abkommen III. über die Behandlung von Kriegsgefangenen auf, sondern ist vielmehr einer rechtlichen Grauzone zuzuordnen, in der die Rechte der Inhaftierten stark eingeschränkt werden: sie dürfen z.B. keinen Rechtsanwalt mit ihrer Verteidigung beauftragen, sich mit keinem Anwalt alleine unterhalten, ihre Angehörigen nicht sehen und sollen in derzeit noch nicht näher bezeichneter Zukunft vor einem US-Militärgericht angeklagt werden.[7]

Sein Anwalt Bernhard Docke klagte zusammen mit den Anwälten anderer freigelassener Guantánamo-Häftlinge dagegen vor einem US-amerikanischen Bundesgericht. Die zuständige Richterin Green stellte am 31. Januar 2005 fest, dass die Einstufung Murat Kurnaz' als „ungesetzlicher Kombattant“ unbegründet und somit seine Inhaftierung rechtswidrig gewesen sei. Am 9. Februar legte die ][Bundesregierung (Vereinigte Staaten)|US-Regierung]] Berufung gegen dieses Urteil ein, deren Verhandlung bis dato noch aussteht.

Die Karlsruher Generalbundesanwaltschaft stellte im Frühjahr 2002 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen Kurnaz vorläufig ein, da er nicht die Möglichkeit gehabt habe, sich persönlich zu äußern. Die Staatsanwaltschaft in Bremen hatte das Ermittlungsverfahren Ende August 2006 nach der Rückkehr Kurnaz' zunächst wieder aufgenommen und am 17. Oktober 2006 mitgeteilt, dass es mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden sei.[8]

Die Rolle der deutschen und türkischen Regierungen

Die deutsche Bundesregierung fühlte sich anfangs für den Inhaftierten nicht zuständig, da Kurnaz türkischer Staatsbürger ist und die Vereinigten Staaten Verhandlungen über die Gefangenen nur mit dem jeweiligen Mutterland führen wollten. Die türkische Regierung intervenierte jedoch nicht, da sie Kurnaz als islamistischen Extremisten einordnete. Die Vereinigten Staaten gestatteten es im September 2002 deutschen Behörden, Kurnaz zu befragen, da gegen ihn in Deutschland Ermittlungsverfahren wegen Terrorverdachts anhängig waren. Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) vernahmen daraufhin - auch im Auftrag des Bundeskriminalamtes (BKA) - Kurnaz in Guantánamo. Dabei wurde er den Deutschen, laut Regierungsbericht, mit den Füßen in „einem Eisenring am Boden befestigt“ vorgeführt.[9]

Nach Auffassung der deutschen vernehmenden Beamten war Kurnaz nie terroristisch tätig, sondern nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Da die US-Stellen im Grunde diese Auffassung teilten, sollen die Vereinigten Staaten kurz darauf Kurnaz' Rückkehr nach Deutschland angeboten haben. Die deutschen Behörden hätten jedoch eine Abschiebung in die Türkei, nicht aber nach Deutschland befürwortet. Daraufhin hätten die Vereinigten Staaten ihr Angebot zurückgezogen, obwohl Außenminister Joschka Fischer persönlich im US-Außenministerium für seine Freilassung intervenierte.[10][9] Der Innensenator Bremens, Thomas Röwekamp, kündigte 2004 an, dass Kurnaz nach seiner Freilassung nicht wieder nach Deutschland einreisen dürfe, da seine unbefristete Aufenthaltserlaubnis wegen eines mehr als sechsmonatigen Auslandsaufenthalts erloschen sei. Kurnaz habe versäumt, die in solchen Fällen vorgeschriebene Verlängerung der Wiedereinreisefrist zu beantragen. Das Bremer Verwaltungsgericht entschied im November 2005, dass die Aufenthaltserlaubnis weiterhin gültig sei, da Kurnaz keine Gelegenheit hatte sie zu verlängern.

Nach erneuten Interventionen durch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier in den Vereinigten Staaten Anfang 2006 zeichnete sich schließlich eine Lösung des Falles ab, die mit der Freilassung Kurnaz' im August 2006 endete.[11]

Untersuchungsausschüsse

Der Fall Murat Kurnaz beschäftigt derzeit zwei Untersuchungsausschüsse des Bundestages. Der Verteidigungsausschuss untersucht, ob Angehörige des Kommandos Spezialkräfte Kurnaz in Afghanistan misshandelt haben. Der sogenannte BND-Untersuchungsausschuss prüft, ob Kurnaz nicht bereits 2002 hätte freikommen können. Im nunmehr erweiterten Untersuchungsauftrag heißt es u.a.: Der Ausschuss soll klären, welche Bemühungen im Fall Murat Kurnaz von der Bundesregierung unternommen wurden, um Murat Kurnaz Hilfe zu leisten und seine Freilassung zu erreichen. Insbesondere soll geklärt werden, ob und welche Angebote es von US-amerikanischen Stellen für seine Freilassung gegeben hat, ob sie von deutscher Seite abgelehnt wurden oder ungenutzt blieben, wenn ja, aus welchen Gründen. Geklärt werden soll in diesem Zusammenhang, welche deutschen Stellen des Bundes an einer solchen Entscheidung beteiligt waren und wer die Verantwortung dafür trägt.[12]

In einem Berichtsentwurf[13] des CIA-Sonderausschusses des Europäischen Parlaments wird behauptet, die deutsche Bundesregierung habe 2002 ein Angebot der Vereinigten Staaten, Kurnaz freizulassen, ausgeschlagen. Dies sei geschehen, obwohl die Nachrichtendienste beider Staaten von seiner Unschuld überzeugt waren. Die politische Verantwortung für den Fall soll nach Presseberichten[14] der damalige Chef des Bundeskanzleramtes und Beauftragter für die Nachrichtendienste Frank-Walter Steinmeier tragen. Steinmeier bestreitet diese Vorwürfe: Es habe kein offizielles belastbares Angebot der Vereinigten Staaten gegeben und es bestehe kein Zusammenhang zwischen der Entscheidung, Kurnaz wegen Terrorismusverdachts nicht in die Bundesrepublik einreisen zu lassen und seiner langen Haft in Guantánamo.[15]

Literatur

  • Murat Kurnaz: Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo. Rowohlt, Berlin April 2007, ISBN 3-87134-589-X.

Quellen

  1. Ermittlungen gegen Kurnaz eingestellt (heute.de vom 17. Oktober 2006)
  2. http://www.welt.de/data/2007/01/18/1180307.html
  3. http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID6321606_REF1_NAV_BAB,00.html
  4. http://www.bild.t-online.de/BTO/news/2007/01/24/kurnaz-murat-ausschuss/taliban-kurnaz-steinmeier.html
  5. Zurück aus Guantanamo (zeit.de vom 24. August 2006)
  6. Bremer Türke Kurnaz aus Guantanamo entlassen (ORF, ohne Datum)
  7. Fünf Jahre Guanánamo: eine Chronologie (Amnesty international vom Januar 2007)
  8. Staatsanwaltschaft stellt Verfahren gegen Murat Kurnaz ein (Die Welt vom 18. Oktober 2006)
  9. a b Freilassung verhindert - Ein Geheimdossier illustriert die beschämende Rolle der Regierung (Die Zeit vom 27. April 2006)
  10. US-Regierung wollte "Bremer Taliban" 2002 freilassen - deutsche Stellen blockierten (Spiegel online vom 25. März 2006)
  11. Angebot abgelehnt (Die Zeit vom 23. Janaur 2007)
  12. [Untersuchungsauftrag auf den Seiten des Bundestages (PDF)
  13. Entwurf des Abschlußberichts des CIA-Sonderausschusses des Europäischen Parlaments, endgültige Fassung ist online noch nicht abrufbar
  14. Berlin lehnte Kurnaz-Freilassung ab (Deutschlandfunk vom 23.1.2007)
  15. Interview mit Steinmeier (BILD vom 25. Januar 2007)

Weblinks

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