SANDMEYER-REAKTION - WER STEHT DAHINTER

Andreas Dutly, Laboratorium für technische Chemie
ETH Hönggerberg, 8093 Zürich


Jedem Chemiker oder Chemielaborantenlehrling ist heute die Sandmeyer-Reaktion aus der Theorie ein Begriff oder sie verlangt in der Praxis den nötigen Respekt ab. Hinter dieser Reaktion steht ein Schweizer Forscher mit einer einzigartigen Lebensgeschichte, der mit seinem Wirken viel zur Entwicklung der schweizerischen chemischen Industrie beigetragen hat.

Traugott Sandmeyer wurde weltbekannt durch die nach ihm benannte Reaktion, bei der ein aromatischer Stickstoffsubstituent nach der Diazotierung mit Nitrit in Mineralsäure durch Halogen oder Cyanid in Gegenwart der entsprechenden Kupfer-I-salze ausgetauscht wird:

Figur 1: Sandmeyer-Reaktion

Es mag erstaunen, dass der Entdecker dieser bis heute wichtigen Reaktion nie ein Chemiediplom erworben hat.

Traugott Sandmeyer wurde am 15. September 1854 als letztes von sieben Kindern in Wettingen geboren. Nach dem frühen Tod seines Vaters (einen Tag nach der Geburt des Sohnes) übersiedelte die Familie nach Aarau, wo Sandmeyer die Gemeinde- und Bezirksschule besuchte. Getrieben durch einen starken Drang nach manueller Tätigkeit absolvierte Sandmeyer anschliessend in Zürich eine Feinmechanikerlehre und baute für die analytische und technisch-chemische Abteilung des Polytechnikums mechanische Apparate und Geräte. Ein Freund aus Aarauer Schultagen studierte zu dieser Zeit in Zürich Chemie und weckte im jungen Traugott das Interesse an den Naturwissenschaften. Mit grossem Eifer und viel Freude baute sich Sandmeyer in seiner Küche ein privates Labor auf und begann zu experimentieren. In kurzer Zeit eignete er sich durch Selbststudium viel Wissen an und eine eigentliche Forscherkarriere begann. Seine Beobachtung, dass sich Furfurol mit Acetaldehyd und verdünnten Alkalien kondensieren lässt, teilte er seinem Aarauer Freund, dem Chemiestudenten J. Gustav Schmidt mit. Dieser machte daraus an der ETH eine Doktorarbeit mit dem Titel ¨Ueber die Einwirkung von Aldehyd auf Furfurol¨.

Dadurch wurde der damals am Polytechnikum tätige Professor Dr. Victor Meyer* auf den jungen Mechaniker und Forscher aufmerksam und stellte ihn 1882 als Vorlesungsassistent am technisch chemischen Institut an. In der Forschungsgruppe von V. Meyer herrschte ein gutes Arbeitsklima und Sandmeyer fühlte sich schnell sehr wohl. So stand auf dem Schreibtisch von Meyer eine Probe von Diphenylmethan, das bei 26°C schmilzt. War das Präparat morgens um 10 Uhr flüssig, so trieben Lehrer und Schüler Schwimmsport, um dann später um so fleissiger wieder im Laboratorium zu arbeiten. Im Verlauf dieser Arbeiten machte Sandmeyer einige Beobachtungen, die schon 1882 zur Entdeckung von Thiophen durch V. Meyer führte. Die Synthese von Thiophen durch Einleiten von Acetylen in siedenden Schwefel wurde von V. Meyer zusammen mit T. Sandmeyer veröffentlicht [1].

Im Jahre 1884 geht der Name Sandmeyer durch die Entdeckung und Veröffentlichung der nach ihm benannten Reaktion in die Chemiegeschichte ein [2]. Er fand eine Reaktion, bei der eine aromatische Aminogruppe durch Halogen oder Cyanid ersetzt wird. Eigentlich wollte Sandmeyer Phenylacetylen herstellen. Doch bei der Reaktion von Acetylenkupfer mit Diazobenzolchlorid konnte das gewünsche Produkt nicht erhalten werden, dafür aber ein Oel, das Sandmeyer schnell als Chlorbenzol identifizierte. Bald war klar, dass das Acetylen nicht direkt an der Reaktion beteiligt ist. Verantwortlich für die Reaktion war das sich bildende Kupfer-I-chlorid. Analog dem Chlorbenzol stellte Sandmeyer in kurzer Zeit eine ganze Anzahl weiterer Halogenaromaten her. Seiner Reaktion legte er damals die folgenden Formeln zugrunde:

Figur 2: Sandmeyers Formelschema nach Lit. [2]

Der genaue Mechanismus dieser Zersetzungsreaktion ist heute noch nicht genau bekannt, man nimmt aber an, dass er über radikalische Zwischenstufen verläuft.

Bei der Bromsubstitution verwendete Sandmeyer nicht die damals sehr teure Bromwasserstoffsäure - schon ein rein technischer Gedanke -, sondern arbeitete mit Kaliumbromid und Schwefelsäure. Bei der Herstellung der Nitrile freute sich Sandmeyer vor allem über die tiefen Temperaturen, die gegenüber allen anderen damals bekannten Darstellungsmethoden die Gefahr von Zersetzungen herabsetzen.

Die Sandmeyer-Reaktion wurde später durch seinen Freund Gattermann (Sulfinsäuren) und andere Forscher erweitert und abgewandelt.

Schon ein Jahr später wurde der damals erst 36 Jahre alte Victor Meyer nach Göttingen berufen und konnte Sandmeyer bewegen, ihn das erste Sommersemester als Assistent zu begleiten. Victor Meyer schreibt darüber: “Das war für mich geradezu eine Lebensfrage, oder zumindest eine Frage für meine Gesundheit.“

Nach seiner Rückkehr arbeitete Sandmeyer weitere drei Jahre an der ETH in Zürich unter Prof. A. Hantzsch.

Es dauerte nicht lange, und auch die Teerfarben-Industrie interessierte sich für Traugott Sandmeyer. Im Auftrage der Basler Chemiefirma Joh. Rud. Geigy gelang ihm 1888 die Strukturaufklärung des neu gefundenen Farbstoffs Primulin.

Dies ermöglichte es Geigy diesen neuen Farbstoff zu patentieren und die Produktion aufzunehmen. Für einen Monatslohn von Fr. 300.- wechselte Sandmeyer von Zürich nach Basel und entwickelte bis zu seinem Rücktritt eine grosse Zahl von neuen Verfahren. Viele seiner Reaktionen und Patente halfen mit den Weltruf der Firma Geigy und damit der Basler Chemie zu begründen. So entwickelte er im Jahre 1899 eine Synthesefolge, die ausgehend von Anilin zum Indigo führte [3].

Figur 3: Thiocarbanilid-Synthese

Während einiger Zeit stellte Geigy beachtliche Mengen (100 kg/Tag) von Indigo nach dieser als Sandmeyer‘s Thiocarbanilid-Synthese bekannten Methode her. Doch war diese Reaktionsfolge dem deutschen Heumann-Verfahren der BASF wirtschaftlich unterlegen und wurde nach einem Brand in der Produktionsanlage und dem Preissturz für Indigo nur noch zur Herstellung von speziellen Indigo-Derivaten verwendet. Ab dem 1.Januar 1901 war Sandmeyer bis zu seinem Ausscheiden bei der Geigy AG auch im Verwaltungsrat dieser Firma.

Eine weitere Synthese, die heute noch den Namen Sandmeyer trägt, ist das Isonitrosoacetanilid-Isatin-Verfahren, das 1919 veröffentlicht wurde [4]:

Figur 4: Isonitrosoacetaniid-Isatin-Synthese

Dabei lässt man Anilin mit 2,2,2-Trichlor-1-1-ethandiol (Cloralhydrat) und Hydroxylamin zu a-Isonitrosoacetanilid reagieren. In konzentrierter Schwefelsäure findet dann der Ringschluss zum Isatin-ß-imid statt, das anschliessend zum Isatin hydrolysiert wird. Bei der Verwendung von Homologen oder substituierter Amine an Stelle des Anilins lassen sich so auch leicht die entsprechenden Derivate des Isatins gewinnen, die zur Herstellung von unsymmetrischen Indigoderivaten verwendet werden.

Es ist nicht möglich, auf alle Arbeiten und Erfindungen von Sandmeyer näher einzugehen. So arbeitete er intensiv an Di- und Triphenyl-naphthyl-methanfarbstoffen. Viele Aldehyde verdanken ihre Entstehung der Tatsache, dass Sandmeyer sie haben wollte um neue Farbstoffe aufbauen zu können. Es ist bekannt, dass Sandmeyer sich nicht mit Vorliebe auf dem Gebiet der Azofarbstoffe betätigt hat. Nur wenn er infolge eines von ihm neu gefundenen Zwischenproduktes Neuland vor sich sah, diazotierte und kuppelte er. Total tragen 66 Patente den Namen Sandmeyer.

Im Jahre 1892 heiratete Sandmeyer seine Stiefnichte Mina Billeter aus Männedorf. Eigene Kinder blieben dem Paar versagt.

Im Laufe seiner Forschungsarbeiten wurde Sandmeyer zweimal mit dem Ehrendoktortitel ausgezeichnet (Heidelberg 1891 und ETH Zürich 1915). Nach 31 Jahren bei der Geigy AG in Basel zieht sich Sandmeyer 1919 aus dem Arbeitsleben zurück und verbrachte die folgenen Jahre in Zollikon bei Zürich. Traugott Sandmeyer verstarb am 9. April 1922 im Alter von 68 Jahren an einem Herzleiden.

Noch heute spricht man in Basel davon, dass die (zweite) Gründung der Basler Chemischen Gesellschaft (1924) erst nach dem Tod von Sandmeyer möglich war; der damals bekannteste Forscher in Basel soll sich vor Indiskretionen gefürchtet haben.

In Basel steht heute das Traugott Sandmeyer Studentenheim. Die Traugott Sandmeyer Stiftung möchte StudentInnen von der Universität Basel eine möglichst günstige Unterkunft bieten. Dabei unterstützt sie ganz besonders Chemie-StudentInnen, aber auch andere naturwissenschaftliche Richtungen, sowie Medizin-StudentInnen, die einen langen Anreiseweg hätten.

Die Schweizerische Chemische Gesellschaft (SCG) verleiht den Sandmeyer-Preis für hervorragende Arbeiten auf einem Gebiet der industriellen oder angewandten Chemie an ein Arbeitsteam oder einen Einzelnen. Die Arbeit soll in der Regel in der Schweiz oder im Ausland von einem Arbeitsteam mit Beteiligung von Schweizer Bürgern und Bürgerinnen ausgeführt worden sein.

Literatur:

[1] Ber. Dtsch. Chem. Ges. 16, 2176 (1885)

[2] Ber. Dtsch. Chem. Ges. 17, 1633, 2650 (1884)
Ber. Dtsch. Chem. Ges. 18, 1492 (1885)
Ber. Dtsch. Chem. Ges. 20 1494 (1887)

[3] D.R.P. 119 280; 18 Juli 1899, Verfahren zur Herstellung von reinem Indigo

[4] Helv. Chim. Acta 2, 234 (1919)


*Viktor Meyer: geboren am 8.9.1848 in Berlin. Studium der Chemie in Berlin und Heidelberg Mit 19 Jahren Abschluss mit summa cum laude. 1872 Berufung mit 24 Jahren als Professor der Chemie an die Polytechnische Hochschule in Zürich. Weitere Tätigkeiten in Göttingen und Heidelberg. V. Meyer scheidet am 8.8.1897 im Alter von 49 Jahren freiwillig aus dem Leben.





Update: 16.5.2002