Die Berliner Charité
Über die unhaltbaren Zustände nicht nur in der Charité,
sondern
auch in dem zur Universität gehörendem alten anatomischen
Institut, das noch um 1869 in der ehemaligen Garnisionsschule
untergebracht war, lesen wir in einem zeitgenössischen Bericht von Isidor Kastan:
Neue Bauten für die Medizin des 20. Jahrhunderts
" Aus den zu ebener Erde gelegenen Schulzimmern wurde ein großer Raum geschaffen; ein in der Mitte aufgestellter grüner Kachelofen sorgte für die erforderliche Wärme. Eine Anzahl Holztische und Schemel wurde aufgestellt - und der Seziersaal für die Studenten war fix und fertig. Keinerlei Vorrichtung für Lufterneuerung, keinerlei Wasserspüleinrichtung, nichts. In diesem Zustande hat sich diese jeder Beschreibung spottende Anatomie fast ein Dreivierteljahrhundert erhalten ... Es war eine Stätte des Grauens. Man sah sich in Dantes Hölle versetzt. Auf schmutzigen Tischen lagen für die Sezierübungen bereitgehaltene Leichen oder einzelne Stücke; Blut klebte an allen Ecken und Enden; die Wände, der Fußboden starrten von allerhand widerlichen Abfällen. Zwischen neunzig und hundert Menschen bewegten sich täglich in diesem unbeschreiblichen Raume ... Es war fürchterlich mit anzusehen, und der alte Reichert, ewig aufgeregt, rannte von einem Seziertisch zum anderen rief dann in höchster Verzweiflung, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend. `Diese Anatomie ist der Nagel zu meinem Sarge'."Die anhaltenden Proteste hatten Erfolg. Im Jahre 1865 konnte endlich das im Garten der Tierarzneischule in der Nähe der Charité gelegene schöne und großzügig ausgeführte neue Institut für Anatomie bezogen werden.
Das 1885 gegründete Hygiene-Institut der Universität,
das damals noch in der Klosterstraße 36 untergebracht war, leitete zunächst der mit der Entdeckung des Tuberkulose-Bazillus weltbekannt gewordene Robert Koch (1843-1910). Jedoch übernahm er bereits 1891 das für ihn geschaffene Institut für Infektionskrankheiten.
Kochs Nachfolger wurde der aus Marburg berufene und durch bedeutsame ernährungsphysiologische Entdeckungen (Kalorimetrie) bekannt
gewordene Max Rubner (1854-1932), der allerdings später wieder
zur Physiologie wechselte. Im Jahre 1909 übernahm er das Lehramt des Physiologen Theodor Wilhelm Engelmanns (1843-1909).
Übrigens befand sich das Kochsche Institut für
Infektionskrankheiten anfangs auch in unmittelbarer Nähe
der
Charité. Es nahm die südwestliche Ecke des Charitégeländes,
den
sogenannten Triangel, ein und mußte, wie auch die Baracken
der
klinischen Forschungsabteilung, dem Neubau der Kinderklinik im
Jahre 1900 weichen.
Wie die Hygiene und die Anatomie verfügten inzwischen auch
die
Physiologie, Gerichtliche Medizin und Pharmakologie über eigene
Universitätsinstitute.
Schließlich bewilligte im Jahre 1896 der Preußische
Landtag auf
Initiative des verdienstvollen Ministerialdirektors im
Kultusministerium Friedrich Althoff (1839-1908) die Mittel für
den
schon längst überfälligen Neu- und Umbau der Charité,
der erst
1917 vollendet werden konnte und der die räumlichen
Voraussetzungen für die Weiterentwicklung der Medizinischen
Fakultät im 20. Jahrhundert schuf.
Als eines der ersten Institutsgebäude wurde 1901 das
Pathologische Museum als Teil des neuen Instituts für Pathologie
fertiggestellt und anläßlich des 80. Geburtstages von
Rudolf Virchow eingeweiht. Mit Virchow wurde damit der zweifellos
einflußreichste und bekannteste Arzt und Wissenschaftler
der
Charité in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts geehrt.
Bereits 1844 als Assistent der Militärärztlichen Akademie
in der
Prosektur der Charité tätig, wurde er 1846 Nachfolger
seines
Pathologie-Lehrers Robert Froriep (1804-1861). Nachdem er wegen
seines Engagements bei den März-Ereignissen der Revolution
von
1848/49 gemaßregelt worden war, nahm er ein Professur in
Würzburg an, wo er die Lehre von der Zellularpathologie, ein damals
modernes, die klinische Medizin auf ein naturwissenschaftliches
Fundament stellendes Konzept, ausarbeitete. Inzwischen weit über
die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt geworden, berief ihn die
Berliner Universität 1856 zurück an das eigens für ihn errichtete
Pathologische Institut. Virchow gilt als der Vater der modernen
Pathologie. Unbestritten sind auch seine Leistungen auf
den Gebieten der anthropologischen Prähistorik, Ethnologie
und
der Kommunalhygiene.
Als Stadtverordneter und Abgeordneter des Reichstages hat er
sich stets auch mit seinem
medizinischen Sachverstand und seiner wissenschaftlichen
Autorität in die kommunale und große Politik eingebracht.
Das Pathologische Museum, welches als einziger Gebäudeteil
des
heutigen Instituts für Pathologie noch zu Virchows Lebzeiten
errichtet worden ist, wird zu einem künftigen Berliner
Medizinhistorischen Museum ausgebaut und umgestaltet, in
dem nicht nur die historische pathologische
Sammlung gezeigt, sondern die gesamte Berliner
Medizinentwicklung dargestellt werden soll.
Die Charité und mit ihr die medizinische Fakultät waren
nun
wieder attraktiv geworden. Namen der Jahrhundertwende, wie der Pathologe R.
Virchow, die Internisten F. Kraus und E. v. Leyden, der Pädiater O. Heubner, die Gynäkologen E. Bumm und R. Olshausen oder der Chirurg E. v. Bergmann, sprachen ohnehin für sich. Auch
künftig sollten die besten Ärzte und Wissenschaftler
als
Ordinarien nach Berlin berufen werden, denn die Berliner
Medizinische Fakultät mit ihrem klinischen Zentrum Charité
war
längst keine Durchgangsfakultät mehr, an der sich junge
Professoren die Sporen für ihre weitere akademische Laufbahn
verdienten. Eine Berufung an die Berliner Universität setzte
wesentliche Forschungsergebnisse voraus und war meist der
abschließende Höhepunkt einer akademischen Karriere.
Wie sich aber bald zeigte, geriet einer derartige
Berufungspolitik in die Sackgasse, denn es mangelte zunehmend an
jüngeren und wissenschaftlich noch kreativen Ordinarien.
Die
meisten hatten ihre produktive Phase, wie beispielsweise
Sauerbruch, längst hinter sich.
So nahm es nicht Wunder, daß die Charité, die sich
doch im
letzten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als führendes Zentrum
etabliert hatte, bereits in den ersten Dezennien unseres
Jahrhunderts dieses Niveau nicht mehr zu halten vermochte und
die Führungsrolle in der medizinisch-wissenschaftlichen
Forschung auf andere Länder überging. Zwar strömten
noch in den
Jahren nach dem Ersten Weltkrieg Ärzte aus ganz Europa und
aus
Übersee an die Charité und die Berliner Medizinische
Fakultät,
um sich weiterzubilden. Die meisten fundamentalen Entdeckungen
auf medizinischen Gebiet erfolgten jedoch anderwärts. Noch
war
die Charité die bedeutendste deutsche medizinische Fakultät
und
ihr Ansehen im Inland ungebrochen. Ihr gehörten 1927 nicht
weniger als 26 Ordinarien, 6 Honorarprofessoren, 25 beamtete und
138 nichtbeamtete Extraordinarien sowie 53 Privatdozenten an.
Die Berliner Schule behauptete noch immer ihre führende
Stellung, was die Besetzung von Lehrstühlen anderer Universitäten
anbetraf. So gelangten je vier Schüler des Internisten Friedrich
Kraus und des Chirurgen August Bier, fünf des Gynäkologen
Ernst
Bumm und sechs des Ophthalmologen Emil Krückmann auf Ordinariate
anderer Universitäten.
Einen wesentlichen Wandel hatte im 20 Jahrhundert auch die
zahnärztliche Ausbildung erfahren. Aus der zunächst
privaten
Klinik für Zahn- und Mundkrankheiten Eduard Albrechts
(1823-1883) war 1884 das Zahnärztliche Universitätsinstitut
in
der Dorotheenstraße 40 hervorgegangen, dessen erster Direktor
der Chirurg Friedrich Busch (1844-1916) wurde.
Mit der neuen
Studien- und Prüfungsordnung aus dem Jahre 1909, die nun auch
für
die Studierenden der Zahnmedizin das Reifezeugnis forderte, kam es zu einer
qualitativen Gleichstellung des Studiums der Medizin und der
Zahnheilkunde.
Damit war der Wechsel dieses Faches von der
philosophischen zur medizinischen Fakultät möglich geworden.
1912 konnte das Zahnärztliche Institut ein neues geräumiges
Gebäude auf dem Charitégelände in der Invalidenstraße
87/89
beziehen.
Die Charité unter dem Naziregime
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933
hatte
wie für das gesamte wissenschaftliche und kulturelle Leben
in
Deutschland auch für die Charité verheerende Folgen.
Mit dem
Inkrafttreten des Gesetzes zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 verloren mindestens 145 Ärzte
und
Wissenschaftler aus "rassischen" oder politischen Gründen
Lehrbefugnis und Arbeitsplatz. Darunter befanden sich solche
weltweit bekannten und geachteten Wissenschaftler wie die
Gynäkologen Selmar Aschheim (1878-1965) und Bernhard Zondek
(1891-1966, die bedeutende Leistungen auf dem Gebiete der
Hormonforschung erbracht und 1928 den ersten biologischen
Schwangerschaftstest (Aschheim-Zondek-Reaktion) entwickelt hatten.
Ihr Schicksal teilten auch der Chirurg und Sauerbruch-Schüler
Rudolf Nissen (1896-1981), die Internisten Ernst Fränkel
(1886-1948), Hermann Zondek (1887-1979) und Herbert Herxmeier
(1894-1985), der Sozialhygieniker Benno Chajes (1880-1938), der
Sozialgynäkologe und Direktor des Berliner Institutes für
Frauenheilkunde Wilhelm Liepmann (1878-1939). Der Dermatologe
Abraham Buschke (1868-1943), der Pathologe Ludwig Pick
(1868-1944) und der Hämatologe Hans Hirschfeld (1873-1944) kamen im KZ Theresienstadt ums Leben. Den
größten "Aderlaß" hatte die Innere
Medizin mit 49 aus ihrem
Lehramt entfernten Hochschullehrern zu beklagen. Ihr folgten die
Chirurgie mit 16, die Neurologie/Psychiatrie mit 15, die
Hygiene/Mikrobiologie mit neun und die Gynäkologie,
Kinderheilkunde, die Pathologie und Physiologie mit jeweils acht
Medizinern. Viele der von ihren Wirkungsstätten Vertriebenen
mußten den Weg ins Exil gehen. Für Deutschland bedeutete
dieser
Exodus ein beträchtliches Absinken des Niveaus auch in der
medizinischen Forschung und Lehre.
Die meisten verbliebenen Ordinarien paßten sich dem politischen
Druck an.
Einige, wie der Psychiater Karl Bonhoeffer
(1868-1948), der lange Zeit gehofft hatte, die Berufung des
NS-Parteigängers M. de Crinis als seinen Nachfolger verhindern
zu
können, blieben demonstrativ ihren Idealen treu. So meldete
Bonhoeffer - anders als die meisten seiner Kollegen - nicht einen
einzigen seiner Patienten für die Sterilisierung, wozu er
nach
dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses"
verpflichtet
gewesen wäre. Noch 1944 verlor er vier seiner Söhne und Schwiegersöhne,
die im
Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler hingerichtet wurden.
Die Leiterin des Instituts für Zellforschung, Rhoda Erdmann
(1870-1935), die durch eine Denunziation unter fadenscheinigen
Begründungen 1934 aus ihrem Amt entlassen und zeitweilig
in
Untersuchungshaft genommen wurde, wehrte sich erfolgreich gegen
dieses Unrecht und mußte schließlich - wenn auch nur
vorübergehend - wieder eingesetzt werden.
Andere, wie der Psychiater und Mitorganisator der Aktion T4, deren
Zweck in der Ermordung psychisch kranker Patienten bestand,
Maximilian de Crinis (1889-1945), der Rassenhygieniker Fritz Lenz (1887-1976), der Orthopäde Lothar Kreuz (1888-1969) und der Hygieniker und Vertrauensmann der
NSDAP-Reichsleitung an der Medizinische Fakultät Heinz Zeiss
(1888-1949), machten sich mitschuldig an der Durchsetzung der
verbrecherischen NS-Doktrinen.
Vereinzelt gab es auch unter den Charitéangehörigen
aktiven
Widerstand gegen das Naziregimes. Zu denen, die ihrem Gewissen
folgten, gehörte der Dozent für Innere Medizin Georg
Groscurth (1904-1944), der verhaftet, zum Tode verurteilt und
am
8. Mai 1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet wurde.
Der von Nazi-Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg ruinierte
die Charité schließlich auch materiell. 1945 lagen
20 Prozent
ihrer Bausubstanz völlig in Trümmern, 40 Prozent war
schwer und
30 leicht beschädigt. Lediglich 10 Prozent waren nahezu unbeschädigt geblieben.
Unmittelbar nach dem Kriegsende begannen
Charité-Mitarbeiter mit der
notdürftigen Wiederherrichtung der Klinik- und Institutsgebäude
und dem Krankenhausbetrieb. Von den in Berlin gebliebenen alten Fakultätsmitgliedern stellten sich u.a. K. Bonhoeffer, P. Diepgen, C. von Eicken, F. Kopsch, K. Lohmann, R. Rössle,
F. Sauerbruch und W. Stoeckel zur Verfügung, obwohl der offizielle Lehrbetrieb an der Berliner Universität erst am 29 Januar 1946 wieder aufgenommen wurde.
Außerdem kehrten auch einige der gemaßregelten Professoren an die Charité zurück, wie z.B. Theodor Brugsch (1878-1963).
Bereits bis Ende 1945 standen wieder 1550 Krankenbetten zur
Verfügung. Viele der teilzerstörten roten Klinkerbauten erhielten in
den 50er Jahren ihre ursprüngliche Gestalt zurück. Bis 1960 waren auch die Kinderklinik und die Geschwulstklinik
wiederhergestellt und der Neubau der Hautklinik beendet. Die
Medizinische Fakultät bestand damals aus 17 Kliniken und
16
Instituten, darunter die neugegründeten Institute für
Experimentelle Endokrinologie sowie für Transfusiologie und Transplantologie, das aus der Gewebebank des Pathologischen
Instituts hervorgegangen war. Später kamen als weitere
Neugründungen das Institut für Kardiovaskuläre
Diagnostik,
die Kliniken für Anästhesiologie und Intensivtherapie, für
Urologie und für Nuklearmedizin hinzu. Neben der Humanmedizin
und der Zahnheilkunde erweiterte sich das Ausbildungsspektrum
mit der Medizinpädagogik und der Pflegewissenschaft um zwei
weitere Fachrichtungen.
In den Jahren 1976 bis 1982 entstand für die operativ
orientierten Fachgebiete ein 20geschossiger Neubau in
unmittelbarer Nähe des traditionsreichen alten
Charité-Standortes. Gleichzeitig wurde mit der Sanierung der aus der Jahrhundertwende stammenden Klinkerbauten begonnen.
Dieser 1982 fertiggestellte Neubau der Charité, der unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen erfolgte, war eine von der medizinisch-technischen Ausstattung her für die DDR einmalige Klinik, in der es gleichermaßen ausgezeichnete Bedingungen für die Patientenbetreuung, Lehre und Forschung gab.
Direkt an der Mauer gelegen, hatte die Charité eine Doppelfunktion. Als ein Symbol, mit dem Abgrenzung und Eigenständigkeit dokumentiert werden sollte, war sie zum einen mit ihren nach Westen zugemauerten Fenstern Teil der Grenze, zum anderen war sie eines der Tore zum Westen.
Die weltweiten Verbindungen ermöglichten eine Forschung, die in Einzelbereichen internationales Niveau hatte. Forschungsschwerpunkte waren Molekulare- und Zelluläre Biologie und Pathologie, Medizinische Biotechnologie, Herz- und Kreislauferkrankungen, Organ- und Gewebetransplantation, Künstliche Organe, Organersatz und Biomaterialien sowie Neurowissenschaften.
Mit der politischen Wende von 1989 und der Vereinigung der nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstandenen beiden deutschen
Staaten im Jahre 1990 machte auch die Charité als
Universitätsklinikum der Humboldt-Universität einen
tiefgreifenden Strukturwandel durch, dessen vorerst letztes
Kapitel die Fusion mit dem ehemaligen Universitätsklinikum
Rudolf Virchow der Freien Universität Berlin unter dem
Dach
der Humboldt-Universität darstellt.
Letzte Änderung: 07.01.1997 13:34:06