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Das Ghetto der Eliten

Neuerdings ist oft von der "kreativen Klasse" die Rede. Aber diese Elite neigt zu Uniformierung und entfremdet sich immer weiter von der übrigen Gesellschaft.
Illustration
- Großkonzerne klagen, dass durch ihre mühsam aufgebauten Talentmanagement-Programme immer nur der gleiche Typ nach oben gespült werde, dafür aber Toptalente mit Querdenkerqualität fehlen.  Foto: bilderbox

Großkonzerne klagen, dass durch ihre mühsam aufgebauten Talentmanagement-Programme immer nur der gleiche Typ nach oben gespült werde, dafür aber Toptalente mit Querdenkerqualität fehlen. Foto: bilderbox

Von Holger Rust

Solche Leute hat jede Gemeinde gern in ihrem geografischen Portfolio! Leute, die dem Mischtypus von kreativem Manager, Investmentberater und gehobenem Hedonisten angehören. Leute, die andere ihrer Art anziehen und eine auf den ersten Blick bunte Infrastruktur mit ambitioniertem Konsum befördern, also jene "Talente", um die angeblich ein "Krieg" zwischen attraktiven Unternehmen entbrannt ist.

Passend zu dieser demografischen Idee von der Bedeutung der Edelmilieus im "War for Talents", lieferte der Publizist und Unternehmer Richard Florida einen schmissigen Begriff: den der "kreativen Klasse". Weil der Begriff heftigen Eindruck auf die Wirtschaftswelt gemacht hat, gründete Florida eine Creative-Class Group , ein Beratungsunternehmen, das seine Ansichten verbreitet. Und damit deren Belegschaft wisse, wo sie am ehesten jene Biotope findet, in denen sie auf Ihresgleichen stößt, liefern andere Beratungsunternehmen die Rankings der Zauberstädte dieser Welt. Der am häufigsten zitierte "Mercer Quality of Living-Index" nennt heuer Zürich, Genf, Wien, Düsseldorf und Frankfurt als europäische Top Cities für die High Potentials der kreativen Klasse.

Zweifellos hat, wie Richard Florida meint, "die Stadt . . . eine lange Geschichte als Zentrum für künstlerische und kulturelle Innovationen und entdeckt derzeit wieder dieses Erbe. In solchen Zentren könnte sich die Erfolgsgeschichte des Silicon Valley wiederholen, wo High Tech-Genies mit langen Haaren und Ziegenbärten die Zukunft erfanden." Dies klingt einleuchtend und hat denn auch unzählige Journalisten inspiriert, ohne weitere Recherchen über die "kreative Klasse" und ihre "Hot Spots" zu berichten. Städtevergleiche sind groß in Mode.

Doch offensichtlich erliegen Florida und seine Epigonen einer soziologischen Illusion. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Innovatoren der ersten Generationen, die er anspricht, gar nicht aus Städten kamen. Sie kamen aus der Provinz. Sie kamen mit dem Zug, im Sonntagsanzug, mit ein paar frischen Hemden und mit ihrem Mathematik- oder Ingenieursdiplom direkt von den Colleges des Mittleren Westens nach Kalifornien.

Diese Provinzler also erfanden oder begründeten das, was ein Journalist später "Silicon Valley" nannte, ebenso wie die Baby Boomers eine Wirtschaftgeneration später das begründeten, was eine Journalistin "Yuppies" nannte – beides Lebensarten, die sich im Nu zu einer ästhetischen Szene, zu einem Habitus verdichteten.

Lastenaufzug ins Loft

Und Ähnliches gilt also für die von einem Publizisten erfundene "Creative Class": sie lebt in den überall gleichartig inszenierten Umwelten, samt B&O-Fernsehern; und Harman-Kardon Sound-Systemen, Barcelona Chairs und LC3-Sofas und der spinnenbeinigen Zitronenpresse von Alessi und der Kunst, wie man sie jetzt so hat – und ins Loft gelangt man mit einem Lastenaufzug!

Aus den ursprünglich innovativen Ballungen sehr unterschiedlicher Individuen entwickelt sich also recht schnell ein festgefügter Lebensstil, der viele Bereiche dessen, was eine erste Assoziation zum Begriff "Kreative Klasse" nahelegt, nicht oder nur im Hinblick auf den Marktwert berührt: Bildende Kunst, Literatur, Politik, Journalismus. Der wirtschaftliche Aspekt dieser "kreativen Talente" steht also deutlich im Vordergrund, vor allem bei den darüber jubelnden Lokalpolitikern in den Top-Städten auf der Mercer-Liste.

Berlin (nur auf Platz 10 der europäischen Metropolen) ist ein wenig sauer. "Arm, aber sexy" , nannte der Regierende Bürgermeister dennoch trotzig die deutsche Hauptstadt, und lange polierte das Gerücht, Brad Pitt und Angelina Jolie planten, ein Haus auf einer Wannsee-Insel zu errichten, den Glamourfaktor der Stadt auf. Im Alltag aber zeigt gerade Berlin, dass die Hoffnung auf Ansiedlung der kreativen Klasse keineswegs ungeteilten Beifall findet.

Witzig wie stets brachte das Stadtmagazin "Zitty" die Sache im Oktober 2006 auf den Punkt. Als Beleg für die Tatsache, dass Berlin zum kulturellen Zentrum der Bundesrepublik avanciert sei, zeigte man auf dem Cover eine Collage aus vielen Gesichtern bekannter Schauspieler, Künstler, Schriftsteller: "Die wohnen jetzt alle hier" . Alle: das sind zum Beispiel Heike Makatsch, Jürgen Vogel, Jonathan Meese, Christian Petzold, Wladimir Kaminer, Daniel Brühl, Maxim Biller, Frank Castorf, Fritzi Haberlandt, Judith Holofernes und Hunderte andere.

"Schleimscheißermeile"

Auch nur einen einzigen illustren Vertreter der Business-Szene sucht man allerdings vergebens, was keineswegs einem Versehen oder einer Nachlässigkeit der Redaktion anzulasten ist: Die kreative Szene grenzt sich nämlich hämisch gegen den dominierenden Typus des jungen Karrieristen und ihre symbolischen Orte wie die Friedrichstraße in Berlin-Mitte ( "Schleimscheißermeile" ) ab.

Tatsächlich spielt man auf der Friedrichstraße gerne München und fährt im Sportwagen zur Arbeit, um sich solcherart vom eigenen Erfolg zu überzeugen. Und mittags trifft man sich in den dafür vorgesehenen Etablissements mit jenen, die man für genauso wichtig hält wie sich selbst. Doch diese Ghettoisierung erweist sich als höchst praktischer Umstand für andere: Wer diese Leute partout nicht ausstehen kann, kann sie einfach großräumig umgehen. "Und wenn man gucken will, kann man vorbeischauen, man geht ja auch gerne mal in den Zoo, sogar wenn man keine Kinder hat."

Solcher Sarkasmus mag berlinerisch sein, sein Anlass ist es nicht. Wer die Nischen in den Szenen anderer Städte ausleuchtet, wird ähnliche Bruchlinien finden. Hamburg Ottensen zum Beispiel, einst ein Arbeiterviertel, wurde von einer originellen Kleinkunstszene adoptiert und mit multikultureller Alternativpolitik adaptiert, und wer sich dort abends im Businessanzug durch die Kneipen bewegt, fällt zumindest auf.

Doch in diesem Ottensen lässt sich noch eine andere, eine vertikale Trennlinie durch die Gesellschaft ausmachen, die tatsächlich an Klassenkampf erinnert – eine Linie zwischen der wirtschaftlichen oder auch alternativ-kulturellen Exekutive und dem Normalbürger, der in dieser "kreativen Klasse" keine Repräsentation seiner eigenen Ideen, Bedürfnisse und Zukunftsvorstellungen mehr findet. In vielen großen Städten wie Hamburg, London, Düsseldorf oder Zürich sind ähnliche Stadtteile in weniger als einem Jahrzehnt völlig umgebaut worden: "Gentrification" lautet das Stichwort, die Lofts sind deutliche Ausdrucksformen dafür: Wo früher "gearbeitet" wurde, breitet sich nun "Kreativität" aus.

Mittlerweile widmen sich Hunderte von Bildbänden dieser architektonischen Transformation durch Verdrängung der Alteingesessenen und ihrer Kleinen-Leute-Kultur. Das Unbehagen daran liegt in der Ahnung begründet, dass die schöne Vorstellung von der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der "kreativen Klasse" auf brüchigen Illusionen ruht. Richard Florida selbst hat diese Tendenz schon angedeutet, als er in seiner managementkulturellen Diagnose vor einer drohenden Spaltung der Gesellschaft warnte – in "Besitzende" und "kreative Habenichtse".

Diese hören, wenn sie es überhaupt verstehen, höchst verwundert und kopfschüttelnd zu, wenn einer der dem Trend nacheilenden Pseudosoziologen sein Geschäft mit weiteren Begriffen zu befördern sucht und von "Portfolio-Work" und "Wissensarbeit", von "Intrapreneuren" und der "Befreiung aus den Zwängen der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts" palavert. In harter Konfrontation zu dieser konsumfreudigen Ästhetisierung des Alltags – der durchaus Abstrahlungseffekte auf die Wünsche der Gesellschaft besitzt – stehen die Erfahrung von Unsicherheit, von Ängsten um Arbeitsplätze, steht die Zumutung von Mobilität und Projektarbeit. Und das bleibt nicht folgenlos.

Banlieus und Prekariat

Unfeine Charakterisierungen wie "Raubtierkapitalisten", "Heuschrecken" und Ärgeres zeigen, dass die Logik vom Abstrahlungseffekt noch nicht "in der Mitte der Gesellschaft" angekommen ist. Die bange Frage, was denn alles geschehen könnte, wurde erst laut, als in den Pariser "Banlieus" Autos brannten. Wir wussten nicht viel von dieser Klasse, in der sich Kreativität in ganz anderen Aktivitäten äußert. Aber es gab doch mutige Journalisten, welche eine Grenzüberschreitung wagten und der Welt tiefer reichende Informationen vermittelten. Dem britischen Fotografen Simon Wheatley zum Beispiel gelang es, die Sympathie der Outlaws in den Pariser Vororten zu gewinnen und ein Jahr lang zu dokumentieren, wie sie leben und was sie denken. Wie sie arbeiten, war freilich nicht zu dokumentieren, weil sie keine Arbeit haben.

Allerdings wäre es einseitig, die Betroffenheit über manche gegenwärtige Entwicklung nur mit den spektakulär inszenierten Ausbrüchen von "Unterschichten" zu illustrieren. In den letzten Jahren ist zusehends deutlich geworden, dass sich die Irritationen auch auf arrivierte Mittelschichten ausdehnten, auf deren Söhne und Töchter, die zwar gut ausgebildet sind, aber keine klare Zukunftsperspektive haben. Sie erfanden für sich das Attribut des "Prekariats".

Nun, man mag das als eine zweckpessimistische Koketterie desorientierter "20somethings" abtun. Doch wenn man der Sache auf den Grund geht, wird man eine Reihe ernst zu nehmender Warnungen finden, die eine prekäre gesellschaftliche Desintegration zumindest für möglich halten. Der "Economist", eine der einflussreichsten und kreativsten Publikationen der globalen Wirtschaftswelt, diagnostizierte 2006 in einem Special über den weltweiten Wettbewerb um Talente einen drohenden "backlash against the talent elite" , verursacht durch die Globalisierungs- und Modernisierungsverlierer und -kritiker aller Schichten.

Soziologen warnen seit Mitte der 90er Jahre vor einer zunehmenden Entfremdung der Eliten von den Gesellschaften, aus denen sie entstanden sind: "Eliten sind kosmopolitisch, Menschen sind lokal" , schrieb Manuel Castells. Der in Kulturkonfrontationen erfahrene Samuel Huntington illustrierte Castells Bemerkung im Hinblick auf die USA mit dem Hinweis auf eine wachsende Entnationalisierung der Eliten und der geradezu mythologisch auf ihre Heimat eingeschworenen breiten Öffentlichkeit.

Soziale Segregation

Auch in den Sphären der Arbeitswelt sind die Milieus streng getrennt und hierarchisch geordnet. Die einen essen in der Kantine, die anderen im Casino, und wenn einer von den anderen einmal in der Kantine isst, wirkt das wie ein Akt des ostentativen Verzichts. Die einen nehmen ihr Mittagessen am chinesischen Mittagsbuffet im Mandarin ein, die anderen bei Da Franco, die Arrivierten in der Brasserie und die Mächtigen im George V. Das interessanteste Phänomen an dieser Segregation ist die Tatsache, dass in allen (hier mit fiktiven Namen identifizierten) Lokalen über dieselben Themen gesprochen wird: über die Arbeit und wie man sie besser machen könnte.

Im Unternehmen selbst aber entsteht diese Kreativität nicht. Im Gegenteil: Der "War against Talent" manifestiert sich in der Abneigung gegen den Habitus der Führung. Die "kreative Klasse" findet keinen Grund in der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat. Die "kreative Klasse" setzt daher auf fortwährende Reproduktion ihrer selbst und engagiert, wenn sie einen Diskurs inszeniert, nur jene Schulkameraden, die in einer Unternehmensberatung Karriere gemacht haben. Einmal im Jahr gehen sie gemeinsam auf einen Berg oder trainieren im Hochseilgarten für Manager soziale Kompetenz.

Es führt jedoch kein Weg an der Einsicht vorbei, dass die Uniformität durchbrochen werden muss, die aus der Gleichsetzung von wirtschaftlichem Talent (mit entsprechender normierter Ausbildung) und "kreativer Klasse" erwächst. Dabei bedarf es nicht einmal der weit ausholenden Geste, die auf die soziale Verantwortung von Eliten verweist. Sogar Peronalberater warnen mittlerweile bereits vor einer Uniformierung der wirtschaftlichen Kreativität – mit kaum zu berechnenden Folgen für die volkswirtschaftliche Innovationskultur.

"Schon klagen Großkonzerne, dass durch ihre mühsam aufgebauten Talentmanagement-Programme immer nur der gleiche Typ nach oben gespült werde – der brillante Opportunist" , wird Zehnder-Deutschland-Chef Bernd Wieczorek im "Manager Magazin" zitiert: "Wer das Test- und Fördersystem am besten durchschaut, kommt auch eher gut durch. Aber das sind nicht diejenigen, die in einer dynamischen Realität nachhaltig die besten Ergebnisse bringen." Dafür fehlen laut Wieczorek "Toptalente mit Querdenkerqualität" .

Vielleicht wäre es hilfreich, einmal ein anderes Ranking zu erstellen: eines der Städte mit dem muntersten Pluralismus, der größten Durchmischung von Milieus und Szenen, von Schichten und Provinzen, von Denkweisen und Erfahrungen; und ein Ranking von Unternehmen mit kommunikationsbereiten Führungskräften und von ihnen geschätzten Mitarbeitern. Zwar würde sich dann die kreative Klasse der Top Talente allmählich auflösen, aber die Gefahr eines "War against Talents" wäre weitaus geringer. Und das hätte beruhigende Konsequenzen für die allgemeine Kreativität und die Lust der problemorientierten Kooperation, zu der alle gemäß ihrer jeweiligen Weltsicht einen originellen Beitrag leisten. Die Realisierung solch einer Utopie erfordert keine Klasse, sondern Persönlichkeiten.

Holger Rust, geboren 1946, ist Professor für Soziologie in Hannover, Publizist und Kolumnist (u.a. in der "extra"-Glosse "diarium"). Letzte Buchpublikation: "Das Elite-Missverständnis – Warum die Besten nicht immer die Richtigen sind", Gabler Verlag 2005.

Freitag, 28. September 2007

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