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Interview
"Wir sind die Kinder, denen die Welt zu Füßen liegt"
Valzhyna Mort ist 26, Dichterin aus Minsk mit Wohnort Washington. Sie empfindet Belorussisch als wunderbar musikalische Sprache, wie geschaffen für die Poesie. Auf Einladung des Literarischen Colloquiums Berlin las sie auf der Leipziger Buchmesse mit weiteren Autoren aus Belorussland und der Ukraine unter dem Motto "European Borderlands – Draußen vor der Tür".
Valzhyna Mort; Rechte: www.blueflowerarts.com
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Valzhyna Mort
Sie leben in den USA. Fällt es ihnen dadurch leichter oder schwerer, auf Belorussisch zu dichten?
Es ist schwieriger, weil ein Dichter nicht in einer Sprache schreibt, die irgendwo in den Truhen der Erinnerung aufbewahrt liegt, sondern in einer Sprache, die lebt und sich weiterentwickelt, in jener Sprache, in der eine Frau ein Taxi ruft oder ein Mann eine Zeitung verlangt. Wenn ich heute ein Gedicht schreibe, dann tue ich das in zwei Sprachen – Belorussisch und Englisch. Und das macht die Sache ganz schön langwierig und mühsam.
 
Sind Sie zweisprachig aufgewachsen? Gedichte auf Belorussisch – und nicht auf Russisch - zu schreiben, war das eine bewusste Entscheidung oder irgendwie selbstverständlich?
Ja, ich habe Belorussisch in der Schule als eine Art Fremdsprache gesprochen - während der Unterrichtsstunden in belorussischer Sprache und Literatur. Sonst habe ich überall Russisch gesprochen. Ich bin zum Belorussischen gewechselt, als ich anfing, Gedichte zu schreiben. Das war eine bewusste Entscheidung - in dem Maß, in dem Etwas, das mit Poesie zu tun hat, tatsächlich bewusst sein kann. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich entweder in ein altes, komplett eingerichtetes Haus ziehen oder in ein neues, das ich nach meinem eigenen Geschmack ausschmücken könnte. Das neue Haus ist für mich die belorussische Sprache, sie ist frei, unbesetzt, Rohmaterial, aus dem ich etwas gestalten kann. Außerdem ist Belorussisch eine wunderbar musikalische Sprache. Es ist so leicht, darin zu schreiben, es scheint wie für die Poesie geschaffen.
 
In welcher Sprache schreibt die Mehrheit der belorussischen Schriftsteller? Welche bevorzugen die Leser? Und warum entscheidet man so oder so – aus Gewohnheit oder Pragmatismus, aus emotionalen oder politischen Gründen?
Ich kenne keinen einzigen belorussischen Schriftsteller, der heutzutage auf Russisch schreibt. Das heißt nicht, dass es niemanden gäbe, nur beschäftige ich mich zurzeit nicht allzu viel mit russischer Gegenwartsliteratur. Ich finde sie nicht so interessant wie etwa die zeitgenössische ukrainische oder amerikanische Dichtung. Ein belorussischer Schriftsteller findet heute auf jeden Fall einen Leser, vielleicht keine fanatische Menge von Anhängern, aber ganz bestimmt eine treue Leserschar. Natürlich könne man hier über den Minderwertigkeitskomplex der Belorussen sprechen und darüber, dass manche ihn überwinden wollen, indem sie sich zur "großen und mächtigen" russischen Kultur und Sprache zugehörig fühlen.

Doch ich glaube, viel wichtiger ist, dass ein guter Leser ein Buch weniger nach der Sprache aussucht, als nach dem Autor. Als eine belorussische Leserin, die leider nicht Deutsch spricht, wollte ich Ingeborg Bachmann lesen und landete schließlich bei der englischen Übersetzung und war glücklich über meinen Fund. Man muss nehmen, was man kriegt. Wenn man also mehr belorussische Bücher verkaufen will, dann muss man mehr gute Bücher in dieser Sprache herausbringen und sie gut vertreiben.
 
Präsident Lukaschenko gilt nicht als Freund der belorussischen Sprache. Hat das Konsequenzen für die Verlage, Zeitschriften, Massenmedien?
Verlage und Zeitschriften in der Mehrzahl? In Wirklichkeit haben von beidem jeweils nur eins und noch dazu unter sehr unsicheren Bedingungen. Mein neues Buch kommt auf Englisch und auf Schwedisch heraus, nicht aber auf Belorussisch. Dass es nur einen einzigen Verlag gibt, der sich mit zeitgenössischer belorussischer Dichtung beschäftigt, ist wirklich eine Strafe! Dabei ist die ungünstige Situation der belorussischen Sprache nur ein Teil des Problems, dazu kommt die insgesamt schwierige ökonomische Situation des Landes. Wenn kein Geld für kranke Kinder da ist, kann niemand ernsthaft erwarten, dass die Leute sich darum reißen würden, etwa eine Stiftung für die Poesie zu unterstützen oder eine freie Presse zu finanzieren.
 
Die belorussische Sprache wurde in der Geschichte immer wieder unterdrückt – 1697 durch polnische Fürsten, 1967 durch zaristische russische Behörden, in den 30er Jahren unter Stalin in der Sowjetunion. Welchen Einfluss hat das auf die Sprache und auf das Verhältnis der Menschen zu ihrer Muttersprache?
Wenn ein Mensch sehr leidet, sprechen wir von "unmenschlichem Leiden". Wenn es um eine Sache geht, in diesem Falle um eine Sprache, die leidet, scheint es mir gerechtfertigt, von "menschlichem" Leiden zu sprechen. Weil wir das Leiden der Sprache fühlen können und das Leiden nicht aufhört, verwandelt es sich aus etwas Ungreifbarem, Herzlosem zu einem Wesen aus Fleisch und Blut. Manche Leute ignorieren das, mit der Begründung, Sprache sei nichts weiter als ein Kommunikationsmittel. Wichtig sei allein die Botschaft. Andere betrachten die Sprache als Kern der nationalen Identität, als wichtigsten Träger von Geschichte und Kultur. Sprach-Puristen holen authentische Wörter aus ihren lange vergessenen Gräbern hervor und versuchen sie wiederzubeleben. Wieder andere sprechen Russisch mit schwerem belorussischem Akzent und sind davon überzeugt, wie Dostojewski zu klingen.

Ich denke, unsere Sprache wird dann wirklich leben, wenn wir endlich anfangen, sie als etwas Selbstverständliches anzunehmen, wenn wir aufhören, für sie zu kämpfen, wenn wir beginnen, in ihr etwas Neues schaffen, wenn wir Spaß an ihr haben. Die belorussische Sprache von heute beweist, dass man in ihr nicht nur über Partisanen schreiben kann. Ich wünsche mir Menschen, die ein Buch nicht deshalb lesen, weil es auf Belorussisch geschrieben ist, sondern weil es ein wunderbares Buch ist.
 
Der bekannte belorussische Schriftsteller Wassil Bykau, Jahrgang 1924, kämpfte als Offizier der Roten Armee gegen die deutsche Wehrmacht. Das wurde sein Hauptthema. Der Publizist Artur Klinau, Jahrgang 1965, schreibt über seinen Abschied von der sowjetischen Utopie. Was sind die wichtigsten Themen der jungen Autoren Ihrer Generation?
Die ewigen Themen – wen soll man lieben, was soll man trinken, wo soll man leben. Später dann – warum liebt man, warum lebt man und wie soll man aufhören zu trinken. - Das meine ich natürlich nicht ernst! Wir sind die Kinder, denen die Welt zu Füßen liegt. Tut sie das, weil sie uns - die klugen und witzigen Jungen und Mädchen - bewundert, oder weil sie so verdreht ist, dass sie nicht alleine aufstehen kann? Ich weiß es nicht. Aber wir können alles schreiben, das ist sicher.
Aus: AN FLORIDAS STRÄNDEN
als wärst du auf ein fremdes foto geraten.
die sonne schwingt sich wie ein gelber affe von wolke zu wolke.
im wasser – die kinder – künftige könige,
die lachend ihr territorium markieren.

der strand, ein streifen flüssiger honig, und die wellen
kriegen einen wässrigen mund, schlecken am ufer.
im wasser – die jungs – künftige zauberkünstler
mit pinseln zwischen den beinen, zeichnen sie sonnen.

[...]
 
In Deutschland ist Poesie nicht gerade populär. Wie ist das in Belorussland?
Ich glaube nicht, dass das Attribut "populär" zu Poesie passt. Sie ist entweder gut oder schlecht, es kommt nicht darauf an, ob sie populär ist oder nicht. Es gibt Leute, die nach ihr suchen und sie auch finden. Ich glaube, dass zum Beispiel das Poesiefestival Berlin ein großes Publikum erreicht. Das Goethe-Institut in Minsk erweist der Dichtung große Unterstützung. Das Online-Projekt "Lyrikline" hat Tag für Tag eine beeindruckende Zahl von Zugriffen und bietet zugleich eine Riesenauswahl an Dichtung aus vielen Ländern. Es wird immer Menschen geben, die abends vorm Einschlafen in einem Gedichtband lesen. Sie müssen nur das richtige Buch für ihren augenblicklichen Seelenzustand finden.
Aus: DEN BÜCHERN ZUM GEDENKEN
bücher sterben

aus dem dunklen schlafgemach
wo der einzige pfad
von der gelben lampe gebahnt
auf die buchseite führte
wandern sie in alle winkel des hauses
das sich nach und nach in einen bücherfriedhof verwandelt.

[...]
 
Welche Autoren waren und sind wichtig für Ihr Schreiben? Und weshalb gerade diese?
Bei mir waren es vor allen anderen polnische Dichter – Branczak, Lipska, Wojaczek, Herbert, Hartwig, Zagajewsky, Krynicki… Deren Lyrik ist geradezu lebensnotwendig für mich. Sie hat eine ganz bestimmte Temperatur, irgendwo zwischen Ausgeglichenheit und Fieber, die jedem Wort ein besonderes Gewicht verleiht. Ich mag Gedichte, die mich packen, nicht leiden kann ich Gedichte, die nicht zu greifen sind - wie Amöben.
 
2004 gewannen Sie den Preis des Festivals "Vilenica" in Slowenien. Sie haben im irischen Galway gelesen. Was bringen Ihnen solche Treffen, wenn es nicht gerade ein Preis ist?
Das wichtigste sind natürlich die Veranstaltungen, wie bei jedem anderen Festival auch, ob es nun um Filme, Tanz oder exotische Tiere geht. Da hörst du Leute lesen, am nächsten Tag machst du dich dran, sie zu übersetzen, liest sie noch einmal, schickst ihre Bücher an deine Freunde... Und man trifft die Einheimischen. Wir hatten eine Lesung in einer Landgemeinde in Slowenien und wurden danach zu Tee und Kuchen in das älteste Haus dieser Gegend eingeladen. Es war sehr bewegend. Gern erinnere ich mich an die Lesung von Kindern in Irland beim internationalen "Cuirt"-Literaturfestival. Anschließend wurde getanzt und gesungen. Aber das Allerwichtigste für mich ist dabei, dass ich mal von meinem Schreibtisch zu Hause wegkomme – haha! Ich schreibe unterwegs, zu Hause bin ich damit beschäftigt, Rechnungen zu bezahlen.
 
Valzhyna Mort; Rechte: Valzhyna Mort
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Valzhyna Mort
Im Mai 2006 waren Sie als "Writer in residence" im Literarischen Colloquium Berlin. Welche bleibenden Eindrücke haben Sie mitgenommen?
Oh das war eine tolle Zeit! Ich habe im Literarischen Colloquium täglich etwas geschrieben – das gab's nie zuvor und danach nie wieder. Es war so einfach und natürlich an eben diesem Schreibtisch in eben diesem Raum zu arbeiten. Und begeistert hat mich auch diese internationale Truppe dort! Morgens beim Frühstück hörst du alle Sprachen und Dialekte dieser Welt. Dann schaust du genauer hin und - hoppla – entdeckst deinen Lieblingsautor. Das LCB ist ein magischer Platz. Berlin ist überhaupt eine außerordentliche Stadt. Wenn du dort ankommst, kriegst du das Gefühl, als ob alle Welt dorthin gekommen wäre, um mit dir abzuhängen.
 
Mit welchen Erwartungen kommen Sie zur Buchmesse nach Leipzig?
Eine Buchmesse ist wie ein Süßwarenladen! Ich könnte mein ganzes Leben dort verbringen. Ich freue mich darauf, Schriftsteller zu treffen, Freunde und Verleger. Ich lebe zurzeit nur von heißem Tee, um Geld für Bücher zu sparen, haha!
 
zuletzt aktualisiert: 26. März 2007 | 11:44
 
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Valzhyna Mort
Sie ist Übersetzerin und Lyrikerin. Geboren wurde sie 1981 als Valzhyna Martynava in Minsk. Sie gewann Lyrik-Wettbewerbe in Belorussland. Ihre Gedichte wurden in mehrere Sprachen übertragen und in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht.

Die 26-Jährige tut sich vor allem durch ihre bemerkenswerten Lesungen hervor. 2004 erhielt sie für eine Leseperformance beim renommierten Festival im slowenischen Lipica den "Kristall von Vilenica". 2005 bekam sie das polnische Stipendium "Gaude Polonia". 2006 war sie Writer in Residence beim Literarischen Colloquium Berlin. Sie lebt in den USA. Dort erscheint im Frühjahr 2008 ihr Gedichtband "Tränenfabrik".

Valzhyna Mort schreibt auf Belorussisch und Englisch. In beiden Sprachen trägt sie auch ihre Gedichte vor. Im April 2007 wird im Minsker Goethe-Institut die deutsch-belorussische Anthologie "Frontlinie 2" präsentiert, die Texte von je sieben Autoren zwischen 25 bis 38 Jahren vorstellt, darunter auch von Valzhyna Mort.
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