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AUTO: -CHTHON & -NOM Nr. 27, 1. Okt. 2006 Aufklärung zurück zum Leitartikel
Peter Töpfer: Ehre und TreueEin junger Mann, von
Fernsehjournalisten danach befragt, was er von einer politischen Wahl halte, die am Vortag stattgefunden hatte, sagt: „Es ist zwar eine Schande, daß die Rechtsextremen ins Parlament eingezogen sind. Aber die NPD könnte
den anderen Parteien zu mehr Ehrlichkeit verhelfen.“ (1) Das heißt als erstes, daß die „anderen Parteien“ nicht besonders ehrlich sind. Und als zweites heißt das – was der eigentliche Hammer ist –, daß es eine
Schande ist, ehrlich zu sein. Wie ließe sich besser der Zustand unserer Gesellschaft in bezug auf Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit beschreiben? Läßt sich die Verlogenheit noch überbieten? Vielleicht nur noch durch eine
Szene im Fernsehen am Tage zuvor: Der Spitzenkandidat der NPD, Holger Apfel, sollte interviewt werden. Aber die Fernsehjournalistin ließ kein Interview, ließ kaum einen Satz zu. Immer wieder unterbrach sie ihn. Als das
„Interview“ beendet war, schwenkte die Kamera hinüber zu einem anderen Journalisten, und der sagte: „Jetzt haben wir bereits ein Beispiel dafür erlebt, was die Rechtsextremen von Meinungsfreiheit und Demokratie halten.“
Er meinte wohlgemerkt den NPD-Spitzenkandidaten und nicht seine Journalisten-Kollegin, die man durchaus als rechtsextrem bezeichnen hätte können, wenn man darunter u.a. die äußerste Intoleranz gegenüber einer anderen
Meinung versteht. Gibt es jetzt eine demokratische Diktatur, oder wissen wir überhaupt nicht mehr, was Demokratie ist und bedeutet? Hatte Demokratie nicht etwas mit Meinungsfreiheit und dem freien Fluß
von Informationen zu tun? War es nicht so, daß dieser freie Fluß etwas damit zu tun haben sollte, daß Entscheidungen getroffen werden können, die dem Willen möglichst vieler entspricht? Sollte durch den freien Austausch
von Meinungen und Informationen nicht sowohl ein Höchstmaß an Erfolgswahrscheinlichkeit in unserem gemeinsamen Handeln als auch eine größtmögliche Stabilität der Gemeinschaft erzielt werden? In unserem Land wird das
eine gesagt und das andere getan. Woher dieser Widerspruch? Es sieht aus, als hätten wir uns in einem Geflecht der Unwahrheit verheddert. In jeder politischen Partei – und überhaupt überall – wird es mehr oder weniger
ehrliche und mehr oder weniger unehrliche Personen, wird es eine Mischung aus Ehrlichkeit und Unehrlichkeit geben, und zwar in jedem einzelnen Mitglied dieser Parteien. Ich habe das Beispiel nur gewählt, weil es
besonders deutlich illustriert, wie sehr wir uns in Widersprüchen befinden, die darauf hindeuten, daß viele von uns nicht zu den Dingen stehen, die sie selbst verkünden, daß wir also nicht ehrlich sind, d.h. uns nicht
in unserer eigenen Wahrheit befinden. Unter Wahrheit verstehe ich nichts Abstraktes, Höheres oder Objektives, sondern die Übereinstimmung von Gefühltem, Gedachtem, Gesagtem und Getanem. Es kommt mir so vor, als sei
in der Politik die Wahrheit völlig verschwunden. Nur eine radikale Opposition kommt, wie Christian Worch sagt (2), in den Genuß, nicht lügen zu brauchen. Was nicht heißt, daß sie, an die Macht gekommen, unbedingt
ehrlich bliebe. *** Die Wahrheit ist die
Gesamtheit der Informationen, die ich, auf direkte Weise und ohne daß sie verändert würden, aus mir und aus der Welt erhalte. Die Informationen aus meinem Inneren sagen mir, was ich brauche, was meine Bedürfnisse sind.
Die Informationen aus der Welt sagen mir, was ich bekommen kann; sagen mir, was mir die Welt zur Verfügung stellt, damit ich meine Bedürfnisse befriedigen kann; sagen mir, was in der Welt von dem, was ich brauche, zu
haben ist. Diese Informationen laufen in mir zusammen, in meinem Gehirn.Die Wahrheit findet im Zusammenspiel von einerseits der Welt und den Sinnesorganen einer Person und andererseits zwischen den Sinnesorganen und
dem Sinneszentrum der Person, dem Gehirn, statt. Dieses Zusammenspiel verläuft mittels der Nerven. Nur ein solches Zusammenspiel ist die Wahrheit. Die Informationen aus der Welt können für viele ziemlich die gleichen
sein, aber eine Wahrheit entsteht erst dort, wo diese Informationen in einem Gehirn ankommen. Da jedes Gehirn einzigartig ist, gibt es also nur subjektive Wahrheit: die Wahrheit einer einzelnen Person: das Gefälle
zwischen meinem Kern (dem Gehirn) und dem Rand (meine Sinnesorgane). Die objektive Wahrheit kann immer nur eine Überschneidung von mehreren subjektiven Wahrheiten sein. Diese Wahrheiten können sich aber zum Teil
stark ähneln. Das hängt davon ab, wie weit die äußere Welt eine gemeinsame Umwelt für verschiedene Subjekte darstellt und wie weit sich das Innere dieser Subjekte ähnelt. Eine Prüfinstanz für Wahrheit wie die Nerven
eines Einzelnen, die ihm sinnlich wahrnehmbare Signale davon vermitteln, was wirklich da ist und was nicht, was also wahr ist und was nicht, gibt es für Menschengruppen nicht. Höchstens können siamesische Zwillinge, die
eine Anzahl Nerven gemein haben, teilweise eine gemeinsame Wahrheit haben. Wenn die Wahrheit nur subjektiv sein kann, aber ihre verschiedenen Träger sich überschneidende Wahrheiten haben können, so kann in einem
gewissen Sinn auch ein Wir Subjekt sein: Die tatsächlichen Subjekte verabreden sich aus sehr ähnlicher Erfahrung und Wahrnehmung heraus zu gemeinsamem Handeln. Die Wahrheit dieses kollektiven Subjekts Wir ist dann die
sogenannte und eigentlich nicht wirklich existierende objektive Wahrheit. Die sog. objektive Wahrheit ist immer – je nach den verschiedenen subjektiven Wahrheiten, aus denen sie entsteht – veränderlich und muß unter
den Subjekten und Subjektgruppen immer mehr oder weniger umstritten bleiben. In allen zivilisierten Gesellschaften – auch in den sog. freien und offenen Gesellschaften – geht dieser Streit so weit, daß die Träger einer
angeblich objektiven Wahrheit die Wahrheit anderer unterdrücken und tabuisieren, deren Träger verfolgen, mundtot oder lächerlich machen, bestrafen, in Gefängnisse stecken und ermorden. Dies ist nicht der Fall in der
Gemeinschaft. Je mehr Menschen sich auf eine Wahrheit einigen müssen – in Massengesellschaften –, desto schwieriger wird der Zusammenhalt dieser Menschen und desto mehr muß mit einem Propagandaapparat (bei Orwell
dem „Ministerium für Wahrheit“) die objektive Wahrheit erzwungen werden. Diese hat dann so gut wie nichts mehr mit den subjektiven Wahrheiten, aus denen sie sich eigentlich zusammensetzen sollte, zu tun. In kleinen
Gruppen, die aus Menschen bestehen, die alle mehr oder weniger die gleiche Wirklichkeit teilen und sich persönlich kennen – in Gemeinschaften –, gibt es kaum Streit um irgendeine Wahrheit, erst recht keine Verfolgung
Andersdenkender. Im allgemeinen kommen von Subjekten in den exakten Wissenschaften gefundene Wahrheiten, indem sie von anderen einzelnen Wissenschaftlern bestätigt werden, noch am ehesten in den Ruf von objektiven
Wahrheiten und können sich weit verbreiten. Doch selbst unter Wissenschaftlern kommt es zu heftigen Kämpfen, etwa bei arithmetischen Problemen wie dem der drei Millionen Juden, die sich während der größten Ausdehnung
der deutschen Herrschaft unter dieser Herrschaft befunden hatten und von denen – wie einige Mathematiker errechnen – sechs Millionen vergast wurden, vier Millionen Wiedergutmachungsanträge gestellt und fünf Millionen
den Staat Israel besiedelt haben. Die dieser Wahrheit notgedrungen folgenden endlosen mathematischen Debatten müssen dann regelmäßig von Nichtmathematikern, von Juristen, von Richtern, entschieden werden und enden stets
mit der Inhaftierung eines der Diskutanten, dem eine falsch ausgeführte Addition und die Verbreitung einer offenkundig falschen Wahrheit vorgeworfen wird. Diese subjektive Wahrheit hat – weil sie sich nicht mehr am
Informationsfluß beteiligen kann – dann keinerlei Chance, von anderen Subjekten geteilt und eine sog. objektive Wahrheit zu werden. Die objektive Wahrheit ist immer eine Vereinbarung zwischen den Subjekten, etwas
gemeinsam als wirklich vorhanden zu betrachten. Dann gilt von diesem Etwas als wahr, daß es z.B. fest, rot, warm oder flüssig ist. Dieses Etwas kann auch etwas rein Geistiges sein, eine Theorie, ein Begriff, z.B. „die
objektive Wahrheit“. Es gibt so viele Wahrheiten über das, was „objektive Wahrheit“ ist, wie es Subjekte gibt, die sich für so etwas wie „objektive Wahrheit“ interessieren. Und sicher gibt es Subjekte, deren Wahrheiten
von „objektiver Wahrheit“ sich einigermaßen ähneln oder gar überschneiden. Obwohl es die objektive Wahrheit eigentlich nicht gibt, möchten wir sie auf keinen Fall geringschätzen. Wir legen nur Wert auf die
Feststellung, daß sie keine eigentliche Wahrheit
ist. Die sog. objektive Wahrheit ist notwendig. Die Einzelnen einer Gemeinschaft sollten auf einer gemeinsamen Grundlage handeln. Sie müssen ihre Wahrheit äußern und exponieren, auf daß sie sich untereinander so gut wie möglich abstimmen können. Der Erfolg Ihrer gemeinsamen Handlungen hängt einmal von der Wahrhaftigkeit jedes einzelnen Gemeinschaftsmitgliedes ab, von der möglichst unverfälschten Wahrnehmung der Welt, aber genau so von der Kommunikation zwischen den einzelnen Gemeinschaftsmitgliedern. Wir müssen uns verstehen und uns einig werden. Wir müssen vom andern möglichst genau wissen, was er will, damit wir uns auf ihn verlassen und ihm vertrauen können. Will ich überhaupt mit ihm gemeinsam handeln? Wir müssen davon ausgehen können, daß wir von der gleichen Sache sprechen.
Deshalb müssen die einzelnen subjektiven Wahrheiten frei geäußert werden und die Informationen frei fließen. Durch den Informationsaustausch werden die Wahrheiten der einzelnen vertieft und die Wahrscheinlichkeit des
Erfolgs, d.h. der Bedürfnisbefriedigung wächst. In der Gemeinschaft verhält es sich wie beim einzelnen: Die Informationen müssen möglichst frei fließen. Die Gemeinschaftsmitglieder entsprechen den Organen und
Sinnesorganen des Einzelnen, und in der Gemeinschaft gibt es auch so etwas wie ein Gehirn: der Gemeinderat oder irgendeine Repräsentanz. Aber ein Präsidium ist kein Gehirn. Und was zwischen Mitgliedern und einem
Vorsitzenden fließt, sind Informationen, aber es ist nicht die Wahrheit. Diese ist den Subjekten vorbehalten; nur in deren Gehirn fließen die Informationen zusammen. Wenn etwas als objektiv wahr behauptet wird – und daß
es eine objektive Wahrheit überhaupt gibt –, gar eine Wahrheit (als offenkundig) proklamiert wird und unter Strafandrohung erzwungen wird, dann schwächt das die Gemeinschaft, weil die Entstehung und Ermittlung der
wirklich existierenden Wahrheit – die der einzelnen – dadurch behindert wird und sich die Einzelnen nicht effektiv und erfolgreich verabreden und vergemeinschaften, d.h. einigen können. Abgesehen davon ist es eine
Entwürdigung und Verletzung des Einzelnen und damit wiederum eine Schwächung der Gemeinschaft. Eine angebliche objektive Wahrheit ist immer die Wahrheit eines Einzelnen oder die einer Gruppe Einzelner. Diese wollen die
anderen entweder unterdrücken und ausbeuten, oder aber die Beschaffenheit des Gemeinschaft ist dergestalt, daß zum gemeinsamen Handeln eine „Wahrheit“ ausgegeben werden muß und eigentlich keine schlechten Absichten
Einzelner vorliegen. Man kann dann natürlich nicht mehr von einem echten Gemeinwesen sprechen. Durch freien Fluß der Informationen zwischen den Einzelnen und zwischen diesen und einem Gemeinderat gibt es ein
einfaches und schnelles Verabreden zu gemeinsamem Handeln. Im Kollektiv gilt – wie im Individuum –: Je mehr Wahrheit, desto besser funktioniert alles, desto zufriedener sind seine einzelnen Mitglieder. Entsprechend
muß eine Gruppe, wenn sie eine andere Gruppe ausbeuten will, vor allem den Informationsfluß beeinträchtigen, stören, kontrollieren, wenn nötig manipulieren. Gelingt es ihr, die fließenden Informationen abzufälschen,
wird sie in ihrem Tun Erfolg haben. Sie muß die einzelnen Mitglieder dieser Gruppe davon abhalten, ihre wahren Bedürfnisse und Interessen zu erkennen oder muß ihnen fremde Interessen einreden.
*** Ehre heißt Achtung vor sich selbst. Ehre heißt, daß ich mich an das erinnere
und mich an das gemahne, was ich wirklich fühle. Früher bedeutete Ehre die Achtung, die andere Ihnen entgegenbrachten. Damals hatte Ehre nichts mit Wahrheit zu tun. Man wurde dafür geehrt, was man darstellte, was man
besaß – man wurde für seine Macht geehrt: Man achtete, besser gesagt beachtete man nur die Macht des anderen, und die „Ehre“, die man ihm bezeugte, war nur Ehrfurcht: Man achtete ihn aus Angst, weil er
über Wohl und Wehe der Einzelnen bestimmen konnte. Indem ich dem Mächtigen meine Ehre bezeugte, bekam ich von seiner Macht etwas ab. Es gibt durchaus eine Ehre, die man auch einem anderen bezeugen kann. Wenn jemand
in der Gemeinschaft eine wichtige und das Wohl aller befördernde Rolle einnimmt, ist er beliebt und wird geehrt, und das gar nicht aus Furcht. Ein solcher verehrter Mensch kann aber nur ein Mensch sein, der selbst mit
sich ehrlich ist. Wenn ich ehrlich bin, bedeutet Unehrlichkeit für mich Streß. Vor mir und vor anderen ehrlich zu sein, ist so gut wie ein und dasselbe. Leider wird die Ehre oft nur mit abstrakten Idealen in
Zusammenhang gebracht, mit oberflächlichen, ziemlich wenig sagenden Phrasen. Daß Ehre mit Ehrlichkeit zusammenhängt, das ist verlorengegangen. Wirkliche Ehre hat etwas mit dem Gespür für unser Innerstes zu tun, mit der
Wahrnehmung unseres Körpers und seinen Gefühlen. Wirkliche Ehre heißt Treue zu uns selbst. Viele werden dem zustimmen, aber wenn es konkret wird, wenn es um wirkliche, tiefe Ehrlichkeit geht, um die wirklichen Gedanken
und Wünsche eines einzelnen, da schrecken die meisten vor der Ehrlichkeit zurück und nehmen wieder Zuflucht in Ideale. Für einige bedeutet Ehre sogar, blinden Gehorsam zu leisten, also sich selber völlig untreu zu
werden. Ehre heißt aber, auf uns selbst zu hören und in unserer Wahrheit zu leben. Gehorsam ist das Gegenteil von Hören. Die Ursache für unsere Bestechlichkeit sind brutale Verletzungen, die wir – als wir klar unsere
wahren Gefühle zeigten – einmal erlitten haben und nie wieder erleiden wollen. Lieber führen wir jetzt ein angsterfülltes Scheinleben. Die Angst, die wir davor haben, zu uns selbst zu stehen, hat ihren Grund: Wir haben
Angst, noch einmal verletzt zu werden. Aber eigentlich – das ist der tiefere Grund – haben wir Angst, daß sich das Gefühl einer bereits stattgefundenen, aber nicht verschmerzten, d.h. durch Schmerzausdruck, Trost und
Versöhnung noch nicht aus der Welt geschafften Verletzung wieder bemerkbar macht. Wir wissen, daß wir keine kleinen Kinder mehr und nicht mehr so wehrlos und ausgeliefert sind. Unsere Angst kommt von tiefer drin. Wir
haben Angst, den Schmerz von damals wieder fühlen zu müssen. Sie haben uns damals zu Feiglingen und ewigen Kindern gemacht. Wir sind nicht erwachsen, nicht souverän. Woraus ganz unsere Unwahrhaftigkeit und
Verdrehtheit spricht, ist, was wir unter „Treue“ verstehen. Ursprünglich heißt Treue nichts anderes als sich selbst treu zu bleiben. Der Satz „Ich bin treu“ heißt eigentlich: Ich lebe in der Wahrheit. Und wenn es die
Ehre ist, meine Wahrheit anzunehmen und nach ihr zu handeln, dann heißt meine Ehre Treue. Es heißt, der höchste Wert der Germanen sei die Wahrhaftigkeit gewesen. Jean Haudry zufolge ist „die Wahrheit der höchste Wert
in der indoeuropäischen Welt“ (3). Er spricht sogar von einer indogermanischen „Religion der Wahrheit“. Waren die asiatischen Eindringlinge von „höherer sittlicher Anschauung“ (4), war die Wahrheit, Jean Haudry zufolge,
bei den Ur-Europäern – und das ist radikal wichtig – „mehr als ein moralischer Begriff“. Man kann die Dinge akzeptieren, wie sie sind, d.h. mit der Natur gehen, mit seinen wahren Gefühlen, und man kann gegen
die Natürlichkeit sein und Höherem nachstreben. Wir Deutschen sind verpuppte, verwandelte Germanen. In uns – aber ziemlich tief verborgen und einigermaßen verloren – stecken die Germanen. Die Deutschen
sind Verdrehungen der Germanen. Im Englischen, einer weiteren ehemals germanischen Sprache, heißt „treu“ noch immer „wahr“ (true). Indem wir dem Wort „treu“ eine neue Bedeutung verpaßt haben, tun wir so, als
seien wir wahr: Das Untreue, das Unwahre nennen wir „treu“. Begehrt eine verheiratete Frau einen Mann, so heißt es, sei sie untreu, wenn sie mit ihm schläft. Eigentlich aber ist sie gerade dann treu. Jemand, der
wahrhaftig ist, würde für ein Verhalten, das nicht seinen Gefühlen entspricht, nie das Wort „treu“ (wahr) verwenden. Wenn man einen Menschen liebt, dann will man wahrlich mit diesem zusammen sein, dann ist
man – wenn die Liebe auf Gegenliebe stößt – mit ihm zusammen, und man macht kein weiteres Aufheben davon. Es gibt erst dann ein Wort für den Tatbestand, daß wir nicht unseren Gefühlen folgen, wenn eben dieses seltsame und unnatürliche Verhalten Einzug hält. Daß wir für dieses Verhalten dann ausgerechnet das Wort „wahr“ (treu) benutzen, darin liegt die perfekte Heuchelei. Am besten lügt es sich, indem die Lüge als Wahrheit bezeichnet wird.
Eine der deutschen Führungspersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, Joseph Goebbels, galt als untreu, weil er nicht seine Ehefrau liebte, sondern eine junge Frau namens Lida Baarová. Vorgespielt wurde die „Liebe“ zu
seiner Ehefrau. Der verpuppte und pervertierte Germane in Joseph Goebbels, der sich selbst und seinen Liebesgefühlen treu war, war der, der gegenüber Lida Baarová treu war und der vom Deutschen in ihm – also der
Oberfläche, der äußeren Puppe, der Verdrehung – verraten wurde. Und wie unter Untreue, so verstehen wir auch unter „Verrat“ heute genau das Gegenteil dessen, was es eigentlich ist: der Verrat an uns selber. Wenn es zu
einem „Verrat“ an einer anderen Person kommt, dann nur, weil wir glaubten, dieser Person etwas versprechen zu müssen oder zu können. Wenn wir uns selbst treu sind und uns aus unserem Inneren heraus mit anderen
einlassen, können wir diese nicht verraten oder enttäuschen, weil wir sie nie getäuscht haben. Wir können dann eine klare und eindeutige Ansage machen, womit der andere rechnen kann und womit nicht.
1 ARD, Morgenfernsehen, 20.9.04 2 Peter Töpfer: nationale Anarchie. Texte 1997 bis 2000. Mit einem Briefwechsel mit Christian Worch, eigner verlag 2004 3
Jean Haudry, „Die Indo-Europäer. Eine Einführung“, Wien 1986, S. 105 4 Wolfgang Golther, Handbuch der Germanischen Mythologie, Essen 2000, S. 184
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