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13. Oktober 2007
 

heute-Nachrichten

 
APUNO-Blauhelm-Oberst Karremans (2.v.r.) begrüßt General Mladic im UNO-Stützpunkt Potocari. Mladics Truppen sind einen Tag zuvor nach Srebrenica einmarschiert.

Srebrenica am 11. Juli 1995

Das serbische Massaker in der
bosnischen UNO-Schutzzone -
Über 8000 Zivilisten werden hingerichtet

Christoph Hartung

Kriege prägen Begriffe. Heerführer sprechen von "Kolalateralschäden" und meinen bei Kampfhandlungen getötete Zivilisten. Radovan Karadzic sprach von "ethnischen Säuberungen" und meinte Vertreibung. In den Tagen nach dem 11. Juli 1995 wurde "ethnische Säuberung" eine Umschreibung für Folter, Vergewaltigung, Mord und Totschlag.

 
 
 

Zitat

»Unsere vordringlichste Aufgabe ist jetzt schnelle Hilfe für die Zivilisten, die vor dem Ansturm der serbischen Truppen geflohen sind.«

Kiran Singh,UNO-Sprecher

11. Juli 1995, Dienstag. Es ist elf Uhr am Vormittag, als die Truppen von Serben-General Ratko Mladic in das Zentrum von Srebrenica einrücken. Die Stadt ist bereits tot. Serbische Artillerie, die die Höhen um die Stadt besetzten, hatten den Widerstand in den Tagen zuvor weggeschossen. Die Feinarbeit wird von Scharfschützen verrichtet. Die Menschen fliehen in Panik, versuchen der drangvollen Enge in der Enklave lebend zu entkommen.

 

Besiegeltes Schicksal

Über 40.000 Menschen leben zusammengepfercht in der Stadt. Damals, vor 1992, bevor die Serben den Belagerungsring um die Region schlossen, zählte das gesamte Gebiet etwa 20.000 Bewohner. Jetzt fliehen die, die können, in die Wälder oder in Richtung Potocari, um Schutz im Camp der UNO zu suchen.

 
 

Aber es gibt zu viele, die es, gezeichnet von Hunger und Krankheit, nicht mehr schaffen. Sie ergeben sich ihrem Schicksal. Sie hocken unter freiem Himmel und lassen sich von serbischen Soldaten umstellen. Am selben Abend verkündet Serbenführer Radovan Karadzic in die aufgebauten Kameras die "Befreiung Srebrenicas".

 

Mord für klare Verhältnisse

Der Landeszipfel in Ostbosnien mit Srebrenica, Zepa und Gorazde liegt dicht vor der serbischen Grenze und schließt an den Sandschak an, jenen Teil Serbiens, der seit alters her muslimisches Land war. Die Serben wollten klare Verhältnisse schaffen, eine serbische, keine muslimische Bevölkerung. Srebrenica nimmt im serbischen Denken eine Schlüsselposition ein. Hier hatte der Feldzug einst begonnen, den sie euphemistisch "ethnische Säuberung" nannten.

 

Gemeint waren Ermordung, Folterung und Vertreibung der muslimischen Zivilbevölkerung.

Zitat

»Wir lagen am Boden. Niemand schlief, aber wir taten so, als ob. Männer kamen herein und nahmen junge Frauen und Mädchen mit, die bis zum Morgen nicht wieder auftauchten.«

Überlebende

Generalstabsmäßiges Vorgehen

Nachdem er die Schutzzone erobert hat, setzt General Mladic seine Pläne um. UNO-Beobachter sprechen später mit Bewunderung vom "generalstabsmäßigen Einmarsch" der Serben und der klaren Aufteilung vor Ort. Einer der Blauhelme vor Ort wird Zeuge, wie Mladics Soldaten einen Zivilisten auswählen und durch einen gezielten Schuss in den Nacken töten. Andere UNO-Soldaten verfolgen - wie sie später zu Protokoll geben - wie die Serben fünf oder sechs moslemische Männer zwangen, in ein Fabrikgebäude zu gehen. Kurz darauf hörten sie Schüsse.

 

Bis Donnerstagmorgen, weniger als 48 Stunden nach seinem Einmarsch hat Mladic bereits mehrere tausend Menschen aus Srebrenica Richtung Frontlinie abtransportieren lassen. Es sind hauptsächlich Frauen, Kinder, ältere Menschen sowie Kranke und Verwundete, die zu Fuß die Front bei Kladanj zum moslemisch kontrollierten Kernland Bosniens überqueren. Männer im wehrfähigen Alter zwischen 12 und 60 Jahre lässt Mladic zu "Verhören" abführen. Er will feststellen, "ob sie sich irgendwelcher Kriegsverbrechen schuldig" gemacht haben.

 

Das eingeschränkte Mandat bindet Hände

Die Blauhelme der UNO sehen zu. Sie sind Träger eines "eingeschränkten Mandats", dürfen prinzipiell nur in Notwehr und nach vorheriger Ankündigung von der Waffe Gebrauch machen. Auf ihren Autos sind kleine blaue Aufkleber. Da steht: "Go there, make Peace!" Das ist ihr Auftrag seit 1956, als UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld nach dem zweiten israelisch-arabischen Krieg die ersten Blauhelme mit diesem Ausspruch los schickte. Sie sollen "Frieden machen", keine bewaffnete Auseinandersetzung suchen. Jetzt erklärt UNO-Sprecher Kiran Singh, die Rückeroberung Srebrenicas sei nicht geplant. "Unsere vordringlichste Aufgabe ist jetzt schnelle Hilfe für die Zivilisten, die vor dem Ansturm der serbischen Truppen geflohen sind."

 

Von den Zivilisten, die in Srebrenica festsitzen, spricht er nicht. Dort hat gleichzeitig mit den "Verhören" das Morden begonnen. "Wir wurden auf das Fabrikgelände gedrängt", berichtet später Safija Malkic in der Tageszeitung "Oslobodenje". "Wir lagen am Boden. Niemand schlief, aber wir taten so, als ob. Männer kamen herein und nahmen junge Frauen und Mädchen mit, die bis zum Morgen nicht wieder auftauchten. Es wurden auch welche vor den Augen der anderen vergewaltigt."

Zitat

»Ich habe eine Reihe von hingerichteten Männern gesehen, sie lagen mit dem Gesicht nach unten, mit Wunden unterhalb des Nackens.«

Augenzeugin

Augenzeugen erschrecken die Welt

Eine alte Frau aus dem nahegelegenen Dorf Bajramovici sagt aus, sie habe beim Wasserholen eine "Reihe von hingerichteten Männern gesehen, sie lagen mit dem Gesicht nach unten, mit Wunden unterhalb des Nackens."

Das Blauhelm-Kontingent in der Region besteht aus niederländischen Soldaten unter dem Kommando von Oberst Karremans. Sie sehen und hören viel, dürfen aber nichts sagen. Ratko Mladic hält rund 40 ihrer Kameraden als Geiseln. Dennoch sickern in den Tagen nach dem 11. Juli Augenzeugenberichte an die Öffentlichkeit. Ein UNO-Soldat in Zagreb berichtet von "unterschiedlichen Verwundungen" bei Männer, Frauen und Kindern: "Schusswunden, abgeschnittene Ohren. Es gab sogar einen Bericht über einen Mann, der an seinen Hoden aufgehängt war."

 

Erste Hinweise auf Massenexekutionen

Berichte dieser Art häufen sich und überbieten sich in der Darstellung grausiger Details. Wirklich nachzuweisen ist das im Sommer 1995 alles nicht. Radko Mladic spricht weiter lediglich von Verhören. Das UNO-Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien in Den Haag sammelt Augenzeugenberichte und erklärt, es werde noch bis zum Jahresende Anklage gegen Mladic erheben.

 

Im August legen die USA dem UNO-Sicherheitsrat Fotomaterial eines US-Aufklärers vor. Die Bilder lassen auf Massenexekutionen und -gräber in der Region schließen. Die Hilfsorganisation amnesty international gibt der "Masse" eine erste Zahl. Demnach ist nach der Eroberung Srebrenicas das Schicksal von etwa 4000 Menschen ungeklärt.

 

Chemikalien gegen Leichen

Zehn Jahre später ist die genaue Zahl der Opfer noch immer unklar. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden zwischen 7000 und 8000 Menschen getötet, die bosnisch-serbische Regierung berichtete von mindestens 7779 Opfern, die bosnisch-moslemische Vermissten-Kommission geht von mehr als 8374 Getöteten aus. 42 Massengräber wurden bislang entdeckt. Experten schätzen Mitte 2005, es könnten noch bis zu 22 Massengräber in der Gegend um Srebrenica liegen. Bislang wurden 2070 Opfer identifiziert. In mehr als 7000 Säcken liegen noch Leichenteile. Immer noch besteht der Verdacht, dass Serben zersetzende Chemikalien auf Leichen geschüttet sowie Leichen aus Massengräbern entfernt hätten, um ihre Verbrechen zu vertuschen.

 

Das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag fasst sechs Jahre später Aussagen von Zeugen zusammen, die als beweiskräftig gelten. Demnach seien wehrlose Männer und Söhne von Soldaten erschossen und in Massengräbern verscharrt worden. Die Massaker fanden in überfüllten Gebäuden statt oder in abgelegenen Waldgebieten. Bilder und gerichtsmedizinische Berichte über Dutzende von Ausgrabungen wiesen den Tod von über viertausend Opfern nach. Die meisten von ihnen trugen Augenbinden und hatten auf dem Rücken gefesselte Hände. Tausende weiterer Opfer seien an unbekannten Stellen begraben.

 

Blauhelme offenbar unschuldig

Das Haager UNO-Tribunal hat im Zusammenhang mit dem Massaker 19 Menschen angeklagt. Sechs wurden verurteilt, zehn stehen derzeit vor Gericht oder warten auf ihren Prozess. Drei sind noch auf freiem Fuß - darunter Ex-Serbenführer Radovan Karadzic und sein General Ratko Mladic.

 

Eine offizielle Untersuchung spricht die tatenlos zusehenden niederländischen Soldaten später von aller Schuld frei. Sie seien weder ausreichend ausgerüstet gewesen, noch hätten sie klare Anweisungen erhalten, heißt es in dem Bericht. Die Vereinten Nationen sprechen von den "schlimmsten Gräueltaten" in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

 

Infobox

Die Daten eine Krieges

Juni 1991 Unabhängigkeitserklärung Kroatiens und Sloweniens. Belgrad zieht seine Armee nach dreiwöchigen Kämpfen mit der slowenischen Bürgerwehr zurück.
November 1992 Die Serben erobern Vukovar. Dubrovnik an der Adria gerät unter monatelangen Beschuss.
März 1992: Volksabstimmung über die Unabhängigkeit von Bosnien-Herzegowina. Bosnische Serben beginnen einen "Säuberungs"-Feldzug.
Mai 1992 Die UNO nehmen Kroatien, Slowenien und Bosnien als Mitglieder auf.
März 1993 Die Serben lehnen den ersten einer Reihe von Friedensplänen ab.
April 1993 UNO verhängen militärisches Flugverbot über Bosnien.
Mai 1993 UNO-Sicherheitsrat beschließt die Einrichtung von sechs UNO-Schutzzonen um moslemische Städte in Bosnien.
März 1994 Kroaten und Moslems beenden ihren Konflikt, vereinbaren unter US-Vermittlung eine Föderation.
August 1994 NATO fliegt erste, symbolische Bombenangriffe auf serbische Panzer bei Sarajevo.
Mai 1995 Die kroatische Armee startet die Offensive "Blitz" gegen Serbengebiete in Westslawonien. Serben nehmen zum ersten Mal UNO-Soldaten Geiseln als "Schutz" gegen weitere NATO-Luftangriffe.