|
Trauerraub Daniel Goldhagen, Briefe
deutscher Soldaten und Norman Finkelstein. Zur Dekonstruktion des Giftbegriffes “Trauerarbeit” (Dieser Aufsatz erschien zuerst in
Sleipnir, Zeitschrift für Kultur, Geschichte und Politik, 1/1999.)Es ist schon viel zu den schlimmen geistigen Perversionen der Nachkriegszeit, wie die Deutschen besiegt, abgetötet, seelisch
zerstört wurden, als der Kampf schon längst beendet war, gesagt und geschrieben worden. So grausam der Krieg war, so wurden nach seinem Ende in erstaunlich sadistischer, unfaßbarer Art die Seelen der Deutschen
umgestülpt, verwirrt, Gift in sie gespritzt; ja, es ging der Krieg mit anderen Mitteln, doch genau so verheerend, weiter; er wurde vom Physischen ins Psychische verlagert. Mit ungeahnten Rachegefühlen wurde in die
Seelen der Deutschen eingedrungen. Aber eines des giftigsten der seelischen Gifte war, wie die Deutschen daran gehindert wurden, zu trauern, indem ihre Gehirne so verwirrt wurden, daß sie zu trauern
beunfähigt wurden: nämlich durch die perfide Art, ständig und andauernd mit moralischen Vorwürfen, erpresserisch und unter geschickter Manipulierung und Ausnutzung von Schuldgefühlen in die Hirne zu dringen – trauern zu
müssen. Wobei die Richtung dieser erzwungenen “Trauer” von vornherein festgelegt war und die Deutschen den Inhalt ihrer Trauer nicht selbst bestimmen konnten, sie nicht in Ruhe gelassen wurden, in einer solch
katastrophalen Lage sie selbst bleiben zu können, was ungeheuer traurig war, womit sich die Trauer von selbst ergeben hätte. Das maßlose Leid, das der Krieg über die Deutschen – wie über alle anderen beteiligten Völker
– gebracht hat, konnte keinen Ausdruck finden, weil auf Seiten der “Täter” ja angeblich kein Leid da war, oder – man konnte es ja nicht ganz leugnen – nur ein im Vergleich geringes, zu vernachlässigendes Leid. Denn da
war nämlich nur ein Volk gewesen, das wirklich gelitten hatte. Ein solch falsches Bewußtsein zu erzeugen, war mit der Macht des totalen Siegers über einen bedingunslos Kapitulierenden möglich. Abgesehen von der
übergroßen Mehrheit der Deutschen, der völlig Unschuldigen, kann selbst einer, der sich möglicherweise schuldig gemacht hat, gleichzeitig ein tiefes Leid in sich tragen, das er annehmen, das er wissen muß, wenn er nicht
irre werden will und möglicherweise der Allgemeinheit gefährlich werden soll. Täter- und Opfersein ist eben überhaupt nicht so klar zu trennen. Echte Trauer der Deutschen fand, wenn überhaupt, nur im Verdeckten statt,
jedoch nie ehrlich, gründlich, ganz und reinigend – und stets nach Erkauf der Trauerlizenz, dem Schuldbekenntnis. Trauer und Schuld aber schließen sich aus. Draußen in der Öffentlichkeit, in der diese Trauer ihre
Entsprechung hätte finden müssen, drang man den Deutschen ständig in die Ohren und die Seelen ein – ausgerechnet mit der Rede von der “Trauerarbeit”. Dieses Gerede verbündete sich mit der psychischen Abwehr des
Schmerzes, blähte das Über-Ich der Deutschen auf, machte dies zum jüdisch okkupierten Gebiet. Sie waren dieser Situation hilflos ausgeliefert. Selbst ein solch radikaler Analytiker der deutschen Nachkriegssituation wie
Hans-Dietrich Sander scheint die Begriffe “Trauerarbeit” und “Vergangenheitsbewältigung” in ihrer Giftigkeit unkritisch zu übernehmen und wie die meisten Deutschen nicht unter das Sträuben und Wehren zu kommen:
“Stattdessen warfen sich die Deutschen in die Pose unaufhörlicher Buße – für etwas, was sie selbst weder getan, noch gebilligt, noch gewußt haben; Trauerarbeit nannte man es später. (...) Vergangenheitsbewältigung als
Selbstbezichtigung war das entscheidende Kurprogramm.”1 Sanders Ironie ist fehl am Orte, denn die Deutschen brauchen Kur2. Er schreibt weiter: “Die Entortung des deutschen Geistes wird andauern, soweit die Trauerarbeit
reicht (...).”3 Ich bin genau der gegenteiligen Meinung. “Die Sieger sahen der Entortung der deutschen Positionen und Begriffe mit Befriedigung zu.”4 Zu diesen Begriffen gehören aber auch “trauern”, “abarbeiten” und
“das Vergangene bewältigen”; sie müssen “wiederverortet” werden. Sander weiß es eigentlich, wenn er später schreibt: “Es gilt für die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg (...), daß sie mit der Zerstörung der Affekte am
Ende die eigene Lebensenergie zerreiben.” Die Affekte – Wut, der furor teutonicus, Haß und die darunter liegende Trauer, die Liebe – müssen also wieder geweckt werden. “Trauerarbeit” nach A. Mitscherlich5
war durchaus noch keine “Entortung”, Perversion, zielte noch auf die authentische Trauer, wenngleich die Mitscherlich’sche wie alle psychoanalytische Theorie mit ihrem Kauderwelsch als Hilfe ungeeignet ist, weil sie im
Rationalen und Rituellen bleibt. Verletzungen aber dringen tiefer in die Seele, tief ins Emotionale, müssen also auch dort wieder gelöst werden. Der m.W. erste nennenswerte Versuch einer Dekonstruktion dieses nach
Mitscherlich pervertierten, in sein Gegenteil verkehrten und zum Gift gewordenen Begriffes war der Aufsatz “Trauerarbeit” von Michael Rutschky in der taz vom 19. Februar 1994. Es war und ist eine Schande der deutschen
Psychologen – von Rutschky zurecht, noch viel zu glimpflich, als “Psychotherapeuten-Pack” beschimpft –, die sich selbst und ihr Volk verraten und sich korrumpieren lassen haben, daß sie dies nicht selber gesehen bzw.
nicht selber gesagt haben in ihrer Feigheit und Käuflichkeit, denn sie müssen es in ihrer Praxis an Tausenden von Fällen neurotischer Deutscher bemerkt haben. “Du sollst nicht merken!”, wird Alice Miller oft und gern
zitiert, und man merkte es auch, es ließ sich nicht übersehen – es wurde bewußt im Dunkeln, im Verdeckten gehalten, und das war der schändliche Verrat. Und am Ende erwuchs den Deutschen noch der
hinterhältige Vorwurf, zur Trauer unfähig zu sein. Das war der Gipfel der Perfidie. Die Verwirrung war vollkommen. Angesichts des moralischen Trommelfeuers lag darin – Decke über den Kopf – noch die gesündeste Reaktion:
“‘Trauerarbeit‘? – Die spinnen ja, die Juden!” Den Deutschen war das Menschsein abgesprochen, und es blieb ihnen nichts anderes übrig als sich im Wohlstand zu wühlen, sich fett zu fressen und die störrisch-stoische
Maske des Unbeteiligten aufzusetzen, um die Verwirrung nicht mehr aushalten zu müssen, diesen Irrsinn nicht mehr fühlen zu brauchen. Sie sind zu Schweinen erniedrigt worden. Und die antideutschen Deutschen haben sogar
darin recht, aber sie sehen nicht die ganze Wahrheit, sie verdrängen den Schmerz, sie sehen die Deutschen nicht als furchtbare Opfer einer märchenhaft-grausamen Verstümmelung, kafkaesken Verwandlung. Doch ihr menschen-
und lebensverachtender Zynismus wird nicht das letzte Wort sein. Was werden die perfekten Ergebnisse dieser psychischen Vernichtung eines Volkes, auf dem die Sieger (nein, der Tommy, der Iwan und der GI
hatten nichts dergleichen im Sinn; die waren es nicht) herumtrampelten, in dessen Seele sie sich festsetzten und breitmachten und dort ihre perverse, perfide Leistung vollbrachten, was werden die Ergebnisse dieser
rächenden Vergiftungsaktion, sprich: die sogenannten Umerzogenen (ein lächerlich milder Begriff), beispielsweise die Historiker, die die Antiwehrmachtsausstellung organisiert haben, und die ja auch wenigstens einige
jener Millionen Briefe deutscher Soldaten in die Heimat an ihre Lieben gelesen haben müssen, denken? Was mag in ihnen vorgehen, deren Väter ja auch im Krieg geblieben sind? Zur Verdrängung der Trauer müssen die Väter
immer wieder schlecht gemacht werden. Eine solch rabiate, irrationale Aussage wie “Soldaten sind Mörder” ist die Verkehrung des Schmerzes, der sich hinter der dümmlich-arroganten Maske hält, denn alle Menschen lieben
primär ihre Eltern und Großeltern. Wir müssen diese perverse Nachkriegsentwicklung umkehren, wenn wir wieder unser Gleichgewicht finden, normal werden, heilen, d.h. souverän werden wollen. D.h., wir müssen
erkennen, daß die Umerzieher genau das Richtige gesagt haben, daß die Inhalte nur von einem zum anderen Adressaten verschoben, und wir verrückt wurden. Wenn wir diesen Prozeß aufs schärfste verurteilen, zurückweisen und
umkehren wollen, heißt das, daß wir genau die gleichen umerzieherischen Theorien praktisch anwenden müssen, nur mit dem Unterschied, daß wir uns jetzt den Luxus leisten, uns zu betrauern. Diese Theorien sind absolut
brauchbar und richtig – nur geradezurücken –, auch wenn sie einige Schwachstellen enthalten. Im Gerede von der “autoritären Familie” z.B. steckt doch neben etlichem Wahren eine Menge Ressentiment der jüdischen Autoren,
ausgeschlossen worden zu sein. Die bösen Eltern, die böse Familie als Symbol für das deutsche Volk und Reich. Es gilt die Begriffe Trauerarbeit und Vergangenheitsbewältigung für uns zu erobern. Denn die Vergangenheit
muß bewältigt, verarbeitet werden, d.h. sie wird es von ganz allein, es sei denn, das Subjekt wird gezielt daran gehindert, wie es der Fall der Deutschen nach dem Krieg war. Sie als “VB” lächerlich zu machen, wie es ein
ausländischer rechter Autor getan hat, ist vielleicht ein erstes notwendiges Gegengift; dabei darf es aber nicht bleiben, wenn wir unsere Chance auf Heilung bewahren wollen. Ich nehme jetzt die jüdischen
Psychologen beim Wort, jetzt tu ich das, was immer ihre Rede war, aber ich wende es auf mich an, auf mich und mein Volk. Jetzt entwirre ich mich, jetzt hol ich mich heraus aus der Wirrnis. Und ich laß mir von den
Psychologen helfen; ich nehme mir diese Hilfe einfach. Sie können nicht das Blaue vom Himmel reden, sie können nicht vom Heil reden und dann nicht wollen, daß auch wir Deutsche ein Recht auf das Heil – auf uns selbst
und unser Glück – haben; nein, sie für so unmenschlich zu halten, wäre die totale Paranoia, und so krank bin ich nicht. Alles ist leer. Sinnlos. Ekelhaft. Ich bin vollgefressen, merke
nichts mehr. Nur einen Rest Unzufriedenheit. Und ich habe mir ein Buch mit Briefen von gefallenen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges6 mitgenommen, habe es mit ans Bett genommen, weil ich weiß, daß dort das Wahre
enthalten ist, daß dort mein verschüttetes Herz liegt, daß dort meine Härte aufgeweicht wird, weil ich weiß, daß dort ich selbst bin, daß dort der Sinn liegt, weil ich weiß, daß ich nur einen Blick dort hineinwerfen
brauche, um sofort mit mir und meiner tieferen Wirklichkeit in Berührung zu kommen, das wahre Leben zu entdecken. Ich weiß es. Aber ich habe Angst davor. Weil alles so furchtbar schmerzlich ist. Ich setze
mich lieber stundenlang vor den Fernseher, sehe Fußball-Weltmeisterschaft und schlinge Unmengen an Essen und Trinken in mich hinein und fühle mich dann so satt, so voll, so betäubt, so eklig, so leer, sinnlos. Und ich
schleppe mich an mein Bett, ich plumpse wie ein fetter Sack in mein Bett, unfähig, nur etwas zu spüren, zu denken, zu fühlen. Nichts. Aber im Ins-Bett-gehen gehe ich am Tisch vorbei, auf den ich halb unbewußt, mich
selbst gemahnend das Buch gelegt habe: Peter, nimm es mit! Nimm es mit ins Bett und lies darin! Nein, das ist doch Perlen vor das Schwein werfen! Dieses Heilige mit mir fettem, trägen Sack in Verbindung
bringen: nein! Ich beleidige doch das mir heiligste, ich beleidige die toten Soldaten. Ich will sie nicht besudeln mit meinem Lebensekel. Dieses Buch in meiner Nähe, die Soldaten in meiner Nähe: nein!
Doch, Peter, nimm es mit! Gut, schau jetzt nicht hinein, aber leg es dir hin ans Bett! Am nächsten Morgen, ich wache auf, mein Bauch immer noch fett und voll, eklig. Aber ich bin etwas weniger betäubt.
Dennoch herrscht die Sinnlosigkeit, das Fragen, was das alles nur soll. Und da liegt das Buch. Es mahnt mich. Ich habe aber Angst davor. Doch eine Stimme sagt: Peter, hab Mut; schau in das Buch hinein! Öffne es! Schau
hinein! Das ist die Wahrheit, deine Wahrheit! Die dir wieder das Leben, den Sinn gibt. Und ich sage: Ja, du hast recht. Es ist keine Besudelung. Die Soldaten wären stolz auf mich, sie würden sich freuen, sie wären
erlöst. Und ich schlage das Buch auf, und ich sehe nur die Überschrift der ersten Seite, ich sehe nur den Namen des gefallenen Soldaten in großen Buchstaben und fange an zu weinen. Da steht: “ADOLF
EHRENFELD, geb. 1926, gefallen 1941 auf der Krim, schrieb am 21. September 1941 an seine Eltern:...” und aus mir brechen die Tränen hervor, ich beginne still zu schluchzen. Ich lege das Buch schnell beiseite. Es ist
zuviel für mich. Ich kann es nicht sehen. Ich habe Angst. Nach einer Weile: Doch Peter, schau wieder hinein, lies weiter, du mußt es! Und ich schlage das Buch erneut auf, weil ich weiß, daß die Stimme
recht hat, weil ich weiß, daß darin mein Heil liegt. Und ich lese: “Liebe Eltern!”... und kann nicht weiterlesen, weil ich schluchze und die Tränen fließen, denn ich weiß, dieser Soldat ist wenig später gefallen. Ich
kann vollgefressen sein wie ich will, ich kann mich noch so sinnlos, leer und eklig fühlen – dieses wenigen Worte übermannen mich. Mehr kann ich heute nicht lesen. Was nur haben wir
diesen Leuten angetan, daß sie auf solch perfide Weise in unsere Seelen gedrungen sind, uns endgültig zu besiegen, zu zerstören, in unser Zentrum vorzustoßen, unsere Seele kaputtzumachen? Welcher Haß muß es gewesen
sein, der zu solch einer Rache führte? Der jüdische Getto-Polizist Carel Perechotnik schreibt: “Vielleicht bleibt meine Geschichte erhalten; vielleicht wird sie die demokratischen Staaten dazu bewegen, alle Deutschen
schonungslos auszurotten und den unschuldigen Tod von Millionen jüdischer Kinder und Frauen zu rächen.”7 Es wurde nicht schonungslos ausgerottet, aber die Rache wurde sehr subtil und höchst effektiv
vollzogen. “Trauerarbeit” – genau das, was wir tun mußten (jenseits aller Worte und Spektakel, jeder für sich in der Stille, aber auch öffentlich im Kollektiv mit würdigen Veranstaltungen, bei denen jeder einzelne er
selbst sein kann und sich dennoch eins fühlt mit den anderen, wo er sich so zeigen darf, wie er ist, wie ihm wirklich zumute ist), genau das, was unsere Existenz, unsere Seele braucht, um am Leben zu bleiben, was sie
ausmacht, was jeder Mensch einfach tut, wenn er in Ruhe gelassen wird und sich still mit anderen tröstet – genau das wurde von uns verlangt, eingefordert, abverlangt! Aber nicht die Trauer um unsere Väter, um unsere
Toten, unsere toten Kinder der Bombennächte, um unsere Liebsten, unsere nächsten Angehörigen, unser Volk – nein, wir sollten trauern um die Juden. Wenn die Juden in die Deutschen drangen, für sie trauern zu müssen,
heißt das nicht auch, daß sie uns Deutsche für ihresgleichen – für Juden hielten, oder umgekehrt, daß sie Deutsche sind, Deutsche gewesen sein und noch Deutsche sein wollen? Wenn das der Fall ist – und einige von ihnen
behaupten es –, dann dürfen wir auch erwarten, daß sie einen Schritt auf uns zugehen, so wie wir auf sie zugehen. Wenn sie die Gemeinschaft mit uns wollen, dann erwarten wir, daß sie uns mit unserer Wahrheit achten und
annehmen, daß sie diese Gemeinschaft auch suchen und konkret in die Bahnen leiten mit offenen, freimütigen, ehrlichen, tabulosen Gesprächen. Dann sollten sie sich dafür einsetzen, daß beispeilsweise libertizide Gesetze
wie der Paragraph 130 StGB endlich verschwinden. Die Juden wollten uns mit unseren Nasen in ihr Elend drücken; wollten, daß wir fühlen, was sie durchgemacht haben, wollten, daß wir um sie trauern; aber es
können nur sie selbst um ihre Toten trauern; jeder muß das fühlen, was er fühlt. Und man kann nur Reue empfinden und Scham für Dinge, die man getan hat. Natürlich tat es uns unsagbar leid, was den Juden geschehen ist,
aber sie waren nun einmal nicht unsere Nächsten, unsere direkten Angehörigen.8 Unsere Nächsten, unsere toten Soldaten, das waren keine Juden, das waren Deutsche, oder sagen wir: nichtjüdische Deutsche. Was konnten wir
dafür, daß wir keine Juden waren? Wollten sie uns etwa auf diese Weise, mit einer Art infantilen Magie, dem Trauer-Zauber, zu Juden machen? Wollten sie mit uns im Judentum eins werden, weil die Gemeinschaft unter
deutschen Vorzeichen mißlungen war? Mißlingen mußte einstweilen die seelische Verarbeitung des Krieges. Statt dessen hatte die gewünschte Identifikation mit dem Judentum in Form eines exzessiven
Philosemitismus großen Erfolg, was aber auf Wahn statt auf Wirklichkeit beruht und sich daher bald als Pyrrussieg, als tragisches Eigentor herausstellen könnte, wenn der Philo- – in bekannter Regelmäßigkeit – in
Antisemitismus umschlagen könnte und wird, falls wir jetzt nicht die Sache offen und ehrlich austragen. Noch ist es nicht zu spät. Man wollte gar nicht, daß wir trauern. Die Tatsachen beweisen es. Nein,
unsere Gegner, die Sieger, die Juden – wer auch immer –, wollten uns zur Strafe ganz das Menschsein wegnehmen. Sie waren hart gegen uns, unsagbar hart, weil verbittert, tief verletzt. Den Deutschen ist die ganze
Katastrophe des Krieges, alles Leid des Krieges in die Schuhe geschoben, sie sind zu Alleinverantwortlichen erklärt worden. Nun wollten die Juden nichts mehr mit uns zu tun haben; sie wollten sich nur noch rächen. Sie
waren so enttäuscht. Sie konnten uns nur noch hassen, uns sadistisch bestrafen. Sie waren ausgeschlossen worden, sie waren zutiefst in ihrem Menschsein verletzt worden. Sie sind weggerissen worden, unmenschlichst
verfrachtet worden, weggeschickt worden, in Lager gebracht worden, von einem Lager ins andere deportiert, zu Tausenden gestorben. Und das, wo sie doch hier ihre Heimat hatten, Deutsche waren wie wir, mit einem
Unterschied, der immer weniger kenntlich war und den nur die Rassisten der nationalsozialistischen und der zionistischen Bewegung herausstrichen und pflegten. Als ich das erste Mal vom
Buch “Hitlers willige Vollstrecker” von Daniel Jonah Goldhagen hörte und ihn im Fernsehen, in der Presse auf Fotos sah und von seiner Geschichte und der seines Vaters erfuhr, der “wahrscheinlich ein deutscher Professor
geworden wäre”9, vertrieben wurde und dann 25 Jahre lang an der Harvard-Univesität über das Schisal der deutschen Juden im 20. Jahrhundert dozierte, da wußte ich sofort – als ich diesen Daniel sah –, daß er unheimlich
verbittert ist, daß er voller Haß auf uns Deutsche ist. Und ich hatte ein tiefes Mitgefühl für ihn; fühlte Liebe zu ihm. Ich sah, daß er unter etwas sehr litt. Ich bemerkte, daß diese Bitterkeit, dieser Haß nur aus ihm
sprach, sich nur seines Mundes bediente, daß es nicht er selbst ist, der so fühlt; daß er einen Stellvertreterkrieg für seinen Vater führt. Daß er uns bestrafen muß, daß er sich an uns rächen muß. Daß er seinen Vater,
seine Angehörigen rächen muß. Aber ich sah darunter noch viel mehr, etwas noch viel tieferes, das Eigentliche: Und das war die Liebe zu Deutschland, die Liebe, die bitter enttäuschte Liebe seines Vaters zur alten
Heimat. Ich sah, daß Daniel dieser Sache nicht bewußt ist, daß er keine Ahnung davon hat, daß er einen Stellvertreterkrieg führt, und ich sah seinen Vater in Gedanken dort drüben in Neu Jork, wie er heimlich
hinüberschaute nach Europa, nach Deutschland, wo sein Sohn für ihn unterwegs war, wohin er ihn geschickt hatte. Er hatte lange an seinem Sohn gearbeitet. Er hat ihm alles das mitgegeben, was er erlitten hat; er hat ihn
unablässig in diesem seinen Geist großgezogen. Und jetzt war er heimgekehrt – Daniel Jonah für Erich Goldhagen –, jetzt war es soweit, jetzt lag das Ergebnis vor, jetzt gingen die Träume in Erfüllung.
Welche Träume? Wollte er dies? Wollte er dies wirklich: den Sohn seine Kämpfe ausfechten lassen? War dies wirklich seine Absicht? Der Vater saß drüben in Amerika zu hause und wußte nicht mehr recht, was er fühlte. Der
Triumph war da; dafür hatte er sein Leben lang gearbeitet. Was war es jetzt wert? Daniels Gesicht zeigte mir, daß er in einem Strudel ist; daß er in einer Lage ist, in der er verwirrt ist; daß er Opfer ist
von Geschehen, das außerhalb seiner, das im Vergangenen liegt. Daß er hin- und hergerissen ist, daß Kräfte an ihm zerren, ihn lenken, die nichts mit ihm zu tun haben. Ich sah nur, daß aus ihm, aus seinem Gesicht –
gleichgültig, welche Worte aus ihm kamen – die tiefe, aber enttäuschte Liebe seines Vaters zu Deutschland sprach. Daniel weiß das alles nicht. Ich bekam einen Begriff für das tragische Schicksal Vater Goldhagens. Und
ich hatte ein tiefes Mitgefühl für Daniel Jonah, dessen Vater Deutscher war und ist, verbittert und enttäuscht; für diesen Daniel, der nicht weiß, ob er Deutscher oder Amerikaner ist, der entwurzelt ist, der jetzt
seinen Weg zu sich finden, Wurzeln schlagen muß; der entscheiden muß, der sich fragen muß, was er ist, an welchem Land sein Herz hängt, wo er hingehört. In ihm toben die Gefühle der Vergangenheit. Wie kann man bei solch
einer Intelligenz sagen, daß die Deutschen böse waren, nur wenige Jahre nach dem Krieg aber schlagartig gut? Das ist doch Nonsens. Wenn Daniel sagt, die Deutschen seien heute gut – will er damit nicht einfach sagen, daß
sie eben und überhaupt gut sind? Will er damit nicht seine – oder seines Vaters, das ist noch nicht heraus – Liebe zeigen? Will er sich nicht versöhnen mit Deutschland? Er mußte erst die These vom ewig antisemitischen,
d.h. bösen Deutschen aufstellen, bevor er zur Versöhnung bereit ist, bereit sein wird, so wie ich hier anfangs im Affekt die These von der perfiden Perversion, quasi von der Bösartigkeit der Juden aufstellen mußte. Was
die Juden nach dem Krieg mit uns gemacht haben, ist tatsächlich – subjektiv, für beide Seiten zutreffend, das wird ein ehrlicher Jude zugeben – perfide; aber diese Perfidie hat einen Grund, und der moralische,
emotionale Charakter dieses Begriffes löst sich auf, wird zum technischen Begriff des Verständnisses, der Einsicht, wenn man sich dem Emotionalen erst einmal hingegeben hat. Heute kann ich es verstehen. Und so mußte uns
Daniel resp. Erich Goldhagen noch einmal sagen, wie böse wir waren, er mußte uns noch einmal (moralisch) vernichten. Und wir sollten dies respektieren; wir sollten es nehmen, als was es ist: als Ausdruck enttäuschter
Liebe. Und er braucht dies gar nicht zu wissen; es reicht aus, wenn wir es erkennen und ihn respektieren und seinen Groll ausdrücken lassen. Sein Herz wird sich am Ende aufschließen. Jeder weiß, was in ihm vor sich
geht, nur er weiß es noch nicht. Weil er Opfer der Vergangenheit ist. Die Ergebnisse seiner historischen Forschungen mußten vorher feststehen, weil sie von seiner Biographie, von der Biographie seines Vaters diktiert
wurden. Und in solch einem Film, neurotischem Trip, wenn man in Gefühlen gefangen ist und in einer Schleife im Vergangenen rotiert, wenn man gegen die Wahrheit anschreibt, weil sie zu schmerzlich ist, muß es zu schweren
gedanklichen Fehlleistungen kommen. Und diese Wahrheit ist die Verfolgung und Vertreibung der deutschen Juden aus ihrem geliebten Deutschland. Auch die Juden trauern nicht, agieren ihre Liebe in Haß aus. Statt dessen
wollen sie, daß wir für sie trauern. Sie wollen uns zwingen, zu trauern, d.h. ihre Verletzung zu sehen, zu erkennen, uns bei ihnen zu entschuldigen, zu büßen. Und die Deutschen konnten das noch nicht glaubwürdig und
ehrlich tun, weil sie sich diese Jacke nicht anziehen konnten, sie wiederum durch besagten Zwang daran gehindert wurden, wieder sie selbst zu werden, wieder ihre ganze Menschlichkeit wiederzuerlangen, empfindlich und
mitfühlend zu werden. Die Deutschen können die Haßliebe der Juden noch nicht verstehen. Langsam, im Zuge ihrer eigenen, wirklichen Trauerarbeit, wenn sie empfindlich und empfänglich für ihr eigenes Schicksal werden,
werden sie sie nach und nach verstehen und die Gefühle der Juden akzeptieren. Ich kann nur empfindlich für anderer Leid werden, wenn ich überhaupt Leid empfinden kann – zuerst an mir selber. Ich kann erst dann einen
Blick für den anderen haben, wenn ich selbst nicht mehr in einem Film bin, aus dem heraus ich nicht das Reale erblicke – wenn ich selbst real bin. Das geht nur uns Deutsche und Juden etwas an. All die
schnellen Kritiker, die es ja so einfach haben, Daniel zu kritisieren, wissen davon nichts. Ruth Birn und Norman Finkelstein9 stellen nur fest, was sachlich und logisch nicht stimmt in dem, was Daniel schreibt. Sie tun
ihre Arbeit der Kritik, nehmen die Arbeiten Daniels gedanklich auseinander, und das ist auch gut so. Es ist gut, weil sie zur Wahrheitsfindung beitragen, weil Ruth Birns Wahrheit auch uns helfen kann, die emotionale
Verstricktheit zu Tage treten läßt, weil es die Emotionen provoziert, und nur das kann am Ende zur Versöhnung führen. Daniel schlägt verzweifelt um sich, er weiß gar nicht mehr, was er tut, droht seinen
Kritikern in Raserei mit Prozessen, will Bücher verhindern, wirft alle akademischen Standards über den Haufen, verletzt die elementaren Regeln des wissenschaftlichen Streites, des zivilen Umgangs – alles läuft auf
seinen totalen Absturz hinaus. Vielleicht muß er stürzen, um zu verstehen. Nicht daß er stürzt, aber daß er versteht, wünsche ich ihm. Daß er aus diesem verzweifelten Kampf genommen wird, daß er seinen Frieden findet.
Weil er Opfer ist. Opfer der Geschichte, Opfer emotionaler Konflikte der Vergangenheit, die er seinem Vater zuliebe austragen muß, die jetzt in ihm ausgetragen werden: die Haßliebe seines Vaters zu Deutschland, die aus
tiefster Enttäuschung geborene Bitterkeit, die aus schwerster Verletzung geborene Wut, der aus unbeantworteter Liebe entstandene Haß. Daniel, ich weiß nicht, was Du vorhast, wie es mit Dir weitergeht, wie
Du Dich sehen wirst, falls Du Deine Lage erkennen wirst. Ich weiß nicht, ob Du jetzt noch Deutscher werden möchtest, Deutscher, wie es Dein Vater war und ist, der seine Haßliebesblitze auf Deinem Rücken herüberschickt
in die alte Heimat. Ich glaube es nicht. Ich denke, Du mußt jetzt Deinen eigenen Weg gehen und hoffe, daß Du ihn findest. Vielleicht ist Amerika Deine Heimat, vielleicht Israel, ich weiß es nicht. Ich wünsche Dir, daß
Du zu Dir findest und zu Deiner Gemeinschaft, daß Du das findest, was Dein Vater hatte, bevor er ausgeschlossen wurde. Aber falls Du Deutscher sein willst, werden willst: Ich schließe Dich in meine Arme.
Peter Töpfer Anmerkungen: 1 Hans-Dietrich Sander, “Die Auflösung aller Dinge. Zur geschichtlichen Lage des Judentums in den Metamorphosen der Moderne”, München o.J., S. 185-186 2 “We all look so perfect / As we all fall down (...) / One more day like today and I’ll kill you (...) / I must fight this sickness / Finde a cure”, “Pornography”, The Cure.
3 Hans-Dietrich Sander, a.a.O. S. 191 4 ebenda 5 Alexander und Margarete Mitscherlich, “Die Unfähigkeit zu trauern”, München 1967 6 Günter Kaufmann (Hrsg.), “Botschaft der
Gefallenen. Briefe aus dem Zweiten Weltkrieg”, Berg am Starnberger See 1996 7 Carel Perechotnik, “Bin ich ein Mörder”, Lüneburg 1997, hier zit. nach: “Wer von Auschwitz nichts wissen will, sollte die Klappe
halten”, jungle World, 8.7.98, S. 15 8 Für viele Zehntausende, für Hunderttausende Deutsche galt das nicht: Für sie waren Juden Teil Ihrer Verwandtschaft und deren Deportation die Deportation ihrer
Verwandtschaft. Über biologische Bande hinaus aber: Was war mit den nationaldeutschen Juden? Sodann: Hatten nicht auch die Zionisten und selbst die Talmudisten ein Recht auf körperliche Unversehrtheit und ein Leben in
Würde (selbst wenn sie diese Würde umgekehrt den staatenbildenden Deutschen ihrerseits nicht zu geben bereit waren)? – Sleipnir-Schriftleitung 9 zit. nach: “’Ich bin sehr stolz’. Henryk M. Broder über
Goldhagen, Vater und Sohn”, Der Spiegel v. 20.5.96. Broder schreibt weiter: “Könnte es sein, daß er keine andere Wahl hatte als die Flucht nach vorn anzutreten, das Erbe und den Auftrag des Vaters zu übernehmen und das
Buch zu schreiben, das die Holocaust-Forschung revolutionieren sollte?” 9 Norman G. Finkelstein und Ruth B. Birn, “Eine Nation auf dem Prüfstand. Die Goldhagen-These und die historische Wahrheit”, Einl. v.
Hans Mommsen, aus d. Amerik. v. Bernd Leineweber, Claassen, 1998 |
|