03.11.2007 / Inland / Seite 4
Niedersachsen bleibt ein Härtefall
Wohlfahrtsverbände verlassen nach einem Jahr Kommission, die individuell über Bleiberecht für Flüchtlinge entscheiden soll. Blockade durch rigide Verordnung beklagt. Bisher nur fünf Fälle positiv entschieden
Von Reimar Paul
Gut ein Jahr nach Gründung der niedersächsischen Härtefallkommission für Flüchtlinge wollen die Wohlfahrtsverbände das Gremium wieder verlassen. Günter Famulla vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Niedersachsen und sein Stellvertreter in dem Gremium, Jochen Flitta von der Arbeiterwohlfahrt, kündigten am Mittwoch an, ihre Mitarbeit zum Jahresende einzustellen. Die vom Land erlassene Härtefallverordnung schränke die Arbeitsmöglichkeiten der Mitglieder zu sehr ein.
Niedersachsen hatte seine Kommission im September 2006 als eines der letzten Bundesländer nach langem Drängen von Flüchtlingsinitiativen, Verbänden und Kirchen eingerichtet. Sie kann ausreisepflichtigen Ausländern »aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen« zu einem Aufenthaltsrecht verhelfen, hat bislang aber nur neun Fälle entschieden – fünf davon positiv. Zum Vergleich: In Berlin wurden im gleichen Zeitraum 400 Fälle verhandelt.
Die Wohlfahrtsverbände kritisieren unter anderem, daß aufgrund der vom Innenministerium erlassenen Verordnung sechs der acht stimmberechtigten Mitglieder zustimmen müssen, um überhaupt einen Fall anzunehmen. »Hier muß dringend ein Entscheid durch einfache Mehrheit möglich werden«, sagt Famulla. Es sei auch nicht hinzunehmen, daß Fälle schon dann gar nicht erst beraten werden, wenn bei einem einzigen Familienmitglied formale Ausschlußgründe vorliegen.
Famulla und Flitta verlangen zudem einen Abschiebestopp, sobald ein Fall in die Kommission eingebracht ist. Flüchtlinge und ihre Unterstützer hatten schon vorher die langen Antragswege bemängelt. Zuweilen vergehe dabei so viel Zeit, daß die Ausländerbehörde bereits die Abschiebung der Betroffenen eingeleitet habe.
Nach Ansicht der Kritiker geht es CDU-Innenminister Uwe Schünemann mit seiner Verordnung nicht um die Anerkennung von Härtefällen, sondern um deren Verhinderung. Famulla führt als Beispiel an, daß ausreisepflichtige Flüchtlinge keine Arbeit aufnehmen dürfen. Gleichzeitig werde ihnen vorgeworfen, sie könnten ihren Lebensunterhalt nicht sicherstellen. Dieses »Paradoxon« werde noch verstärkt, wenn die Kommission einen Fall nicht behandeln kann, weil die Kommunen Unterhaltszahlungen verweigern. »Die Verordnung muß an zentralen Stellen korrigiert werden«, forderte Famulla.
Der Sprecher des Innenministeriums, Klaus Engemann, erklärte dagegen, die Rahmenbedingungen für die Arbeit der Kommission seien in fast allen Bundesländern identisch: »Die Hürden sind in Niedersachsen nicht höher als anderswo«. Die niedrige Zahl der behandelten Fälle begründete Engemann mit der »liberalen Bleiberechtsverordnung des Bundes« vom vergangenen November. Dadurch hätten fast 2400 Flüchtlinge in Niedersachsen eine Aufenthaltserlaubnis bekommen.
Tatsächlich haben nach der – von Niedersachsen lange bekämpften – Bleiberechtsregelung im Vergleich zu den vom Innenministerium noch im April angekündigten 7000 Personen nur sehr wenige Flüchtlinge einen Aufenthaltsstatus erhalten. »Kleinkariert und beckmesserisch werden Flüchtlinge in Niedersachsen von vielen Ausländerbehörden gewogen und für zu leicht befunden, an der Bleiberechtsregelung teilzunehmen«, urteilt der Niedersächsische Flüchtlingsrat.
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