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Die Bewegung der Schreibhand

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- Bilder: Aus dem genannten Buch

Bilder: Aus dem genannten Buch

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- Der Mensch und sein Schreibgerät, gezeichnet von Franz Blaas.

Der Mensch und sein Schreibgerät, gezeichnet von Franz Blaas.

Von Evelyne Polt-Heinzl

Aufzählung Das Schreiben ist nicht nur ein geistiger Vorgang, sondern auch eine Aktivität im Raum – das gilt sowohl real als auch metaphorisch.

Vor einiger Zeit erzählte mir ein Freund erbost von einem Scharmützel mit seiner Bank, die sich geweigert hatte, einen Überweisungsauftrag durchzuführen. Es ging dabei um einen etwas größeren Betrag, Empfänger sollte das Finanzamt sein, doch die Bank schickte seinen von ihm ordnungsgemäß gezeichneten Auftragszettel retour mit der lapidaren Bemerkung, die Unterschrift entspreche nicht jener auf dem hinterlegten Unterschriften-Probeblatt.

Nach einem telephonischen Donnerwetter und einigem Hin und Her wurde vereinbart, die Abbuchung ausnahmsweise doch durchzuführen, für weitere Transaktionen müsse er aber ein neues Unterschriften-Probeblatt hinterlegen. Seine Argumente im Streit mit dem Bankinstitut waren absolut rational: Das Finanzamt wartet nicht gerne, die Verzugszinsen sind unverschämt und eine Verzögerung wäre unweigerlich, da er gerade verreisen müsse. Das war gelogen, aber es ging einfach ums Prinzip. Wo kommen wir da hin, wenn irgendein ferner Betreuer in einer fernen Zentrale bestimmt, ob ein von ihm per Unterschrift eigenhändig erteilter Auftrag auszuführen ist oder nicht?

Die eigene Schrift

So interpretierte ich die Anekdote zuerst und bewunderte den kleinen Sieg in Sachen Alltagsbürokratie. Doch nach und nach wurden mir die eigentlichen Gründe für den heiligen Ingrimm meines Freundes bewusst: Da sagte ihm jemand auf den Kopf zu, dass sich seine Handschrift – oder doch seine Unterschrift – nach etlichen zwanzig Jahren zur Unkenntlichkeit verändert habe und sich für einen neutralen Betrachter keine Kontinuität zwischen seiner jugendlichen Unterschrift und seinem dem Alter zu-neigenden Krakel herstellen lasse. Das kommt einer narzisstischen Kränkung gleich.

Die Handschrift ist etwas uns unmittelbar Angehörendes. So wie wir uns in unserem Erwachsenenalter früher oder später mit unserem Gesicht auszusöhnen oder doch abzufinden haben – zumindest wenn wir chirurgische Eingriffe nicht in Erwägung ziehen –, so auch mit unserer Handschrift. Sie mag sein, wie sie ist, sie gehört (zu) uns, ist Teil der innersten Bezirke unserer Persönlichkeit. Wir erkennen sie aus Hunderten fremden Schriften heraus, lachen großmütig, wenn jemand unsere Notizen als absolut unleserlich empfindet – wir können sie in der Regel doch lesen und sind gern als Übersetzer behilflich. Es gibt ja so wenige Bereiche, in denen wir uns wirklich zuständig und kompetent fühlen können.

Das war auch den (Schreib-)Pädagogen über die Jahrhunderte klar, die am korrigierenden Zugriff auf die inneren Persönlichkeitsbezirke stets höchst interessiert waren. Im sogenannten Schönschreibunterricht wurde konsequent an der Zurichtung der Schreibhaltung wie der Schrift gearbeitet. Bekannt sind die ehernen Methoden der Sedierung, mit der ein gewisser Daniel Gottlieb Moritz Schreber zu Werke ging, der auch die ideale Technik zur Sedierung der Seelen in großstädtischen Ballungsräumen erfand: den Schrebergarten.

Schrebers Sohn Daniel Paul Schreber ist als Opfer der väterlichen Experimente in der Psychiatrie gelandet und hat in seiner Selbstanalyse "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" (1903) die Zusammenhänge von orthopädischer Zurichtung und Wahnsinn dargestellt. 1910 untersuchte Sigmund Freud als erster den "Fall Schreber", und es gibt kaum einen psychiatrischen Quellentext, über den seither mehr geschrieben wurde. Elias Canetti widmete dem Thema Schreber die beiden letzten Abschnitte seiner Untersuchung "Masse und Macht" (1960). Die väterlichen Instrumente der Kallipädie, Geradhalter mit starren Metallreifen um den Kopf, zwingen den kindlichen Leib in eine aufrechte Haltung. Kopf und Rumpf können nicht seitlich ausweichen, sind eisern fixiert. Wie der Sohn sich zu halten habe, legt Vater Schreber in seinem "Buch der Erziehung an Leib und Seele" (1891) fest. Dass dem Sohn jede Möglichkeit verwehrt wird, in der Welt einen ihm angemessenen Raum einzunehmen, hat Folgen für Leib, Seele und Geist. Die Grenzen, die ihm mit Metallreifen auferlegt wurden, verlagert der enteignete Sohn nach innen und definiert sie in seinem "Aufschreibesystem" zu selbst bestimmten Resultaten eigenen Wollens um. "Überhöhe Deinen Leib im ruhiggestellten Sitzen" , schreibt der Sohn und verweist damit auch auf die zentrale Rolle des Sitzens für die bürgerliche Zivilisation. "Es bedarf spezieller Hemmungen, die den Kampf aller gegen alle hindern und die als konstitutiv für das Bürgertum anzusehen sind", meint der Sitztheoretiker Hajo Eickhoff, und die "im Sitzen ausgebildeten Hemmungen wirken lenkend so auf den Willen ein, daß sich dieser gemeinsam mit den geistigen Fertigkeiten gegen die vitalen Bedürfnisse stemmt". Der Homo sedens stellt seinen Körper im Dienste der bürgerlichen Gesellschaft und Produktion so lange ruhig, bis der Homo sedativus aus der Sitzhaltung nicht mehr herauskommt – und nur mehr der Schrebergarten bleibt.

Doch Schreiben ist auch eine Bewegung im Raum – real wie metaphorisch. In der ausholenden Bewegung der Schreibhand ist die Weite der schreibend festgehaltenen Gedankenbögen eingefangen. 1973 beschriftete die österreichische Medienkünstlerin Valie Export im Rahmen einer Kunstaktion einen Güterwaggon mit klar lesbaren, lateinischen Buchstaben. Der Schriftzug, den sie mit Kreide anbrachte, lautete: "Schriftzug". Schon war er fertig, der Schrift-Zug und diesen in die weite Welt tragend verließ er vermutlich fahrplanmäßig die Station.

Dem Schreiben entspricht eine Bewegung, die sich gern in größere räumliche Gesten weiterdenkt. "Handschrift" , so Ernst Jandl, "sei / etwas körperliches / bewegliches". In Karl Rihas "Buch der Hände" (1986) kommt auch der Aspekt der Hände als Zeichengerät vor: 1892/93 bewarb die Firma Liebig Companys Fleisch-Extract, die zwischen 1872 und 1940 1138 zumeist mehrteilige Beipackbildchen herausbrachte, ihr Produkt mit der Serie "Schattenspiele mit Händen". Vier dieser Bildchen sind in Rihas Band reproduziert. Da ist etwa eine Jagdszene abgebildet, den Schuss aus des Jägers Gewehr sehen wir gerade noch abgehen; links unten zeigt eine Dose Fleisch-Extract den Weg, den die Jagdbeute nehmen wird, darüber zwei menschliche Hände in eigenartig verkrümmter Haltung, die im Schattenbild dahinter einen Hasen ergeben.

Man könnte nun eine durchgängige geschmacklich-illustrative Verbindung zwischen Schattenbild und Konservendose vermuten, das scheint aber nicht der tiefere Sinn der Serie gewesen zu sein. Zwar zeigt das zweite Bild einen Stierkampf und einen nicht ganz überzeugenden Stier als Schattenbild, doch die anderen beiden stellen einen Hund und einen Indianer dar, der eher wie ein Wiedehopf aussieht. In Dosen wird das doch beides nicht gelandet sein.

Das Faszinierende und aus Kinderperspektive auch Widerständige der Kunst des Schattenspiels liegt in der Mühelosigkeit der Experimente und in ihrer Flüchtigkeit. Bis zur physischen Ermüdung der Hände und Arme lassen sich problem- und folgenlos immer neue Figuren und Effekte erproben. Da sie keine Spuren hinterlassen, entzieht sich die Tätigkeit samt ihren temporären künstlerischen Produkten jeder erzieherischen Kontrolle – es genügt die kleinste Veränderung der Handstellung, und keiner vermag mehr zu sehen, ob da gerade eine obszöne Schattenskulptur zugange war. Die muss man sich zudem erst selbst erfinden, weder die Firma Liebigs Fleisch-Extract noch eines der handelsüblichen "Spiele für drinnen"-Bücher hat die dafür nötigen Fingerstellungen abgebildet.

Die Hand als Lesegerät

In der Brailleschrift, der 1825 von Louis Braille erfundenen internationalen 6-Punkt-Blindenschrift, und in der Taubstummensprache wird die Hand zum unmittelbaren Lesebzw. Schreibgerät. "Schattenspiele" übertitelt Gerhard Roth ein Kapitel in seinem Roman "Landläufiger Tod" (1984), in dem er die verstörende Verselbständigung der Hände des verstummten Franz Lindner beschreibt. Es sind seine Hände, die ihm immer absurdere, immer gewalttätigere Geschichten erzählen, die er nur zu lesen braucht. "Niedergeduckt durch die Unfähigkeit, meine Gedanken auszusprechen, überwältigt von dem Bedürfnis es zu tun, betrachte ich das Fingerspiel meiner Hände, die auf eine luftige Weise mit mir sprechen. Es sind merkwürdige Sätze und Wörter, die sie bilden, unbeeinflusst von meinem Willen, ohne Anstrengung des Gehirns." Es sind verwirrte, verdrehte, oder auch poetische Bilderfolgen, die sie ihm erzählen. Die Abspaltung der Hände als selbsttätige Erzählmaschinen schafft ihm Distanz von der bedrängenden Bilderflut und entlastet ihn von der Verantwortung für sein Denken und Tun. "Ich kann nicht umhin festzustellen, dass ich mich bei den Phantastereien meiner Finger wohl fühle und in Wahrheit ihrer Magie zu verfallen beginne", merkt Lindner an, nicht zufällig nachdem die Hände von einer "Aufforderung zum Morden" geredet haben. Im Roman "Das Labyrinth" (2004) reicht Roth eine Erklärung für Lindners Verhalten nach: Er verstummte an dem Tag, als er erfuhr, dass sein Vater KZ-Aufseher gewesen war: "Während er redet, schreit oder flüstert, führen seine Hände ein eigenes Leben. Es sind große klobige weiße Hände, ganz mit hellroten Härchen bewachsen. Weil es mir so zuwider ist, sein Gesicht zu beobachten, weiche ich auf die Hände aus. Sie ballen sich zusammen, schlagen auf den Tisch. Ich spüre die Erschütterung im ganzen Körper. Dann liegen sie wieder breit, matt und erschöpft auf dem Tisch. Nach einer Weile kriechen sie aufeinander zu und fallen übereinander her. Eine Hand versucht, die andere zu erwürgen oder ihr die Finger einzeln auszureißen. Manchmal wüten sie so gegeneinander, dass Blutstropfen auf der weißen Haut stehen. "

Auszug aus dem neuen Buch von Evelyne Polt-Heinzl: Ich hör' dich schreiben. Eine literarische Geschichte der Schreibgeräte. Mit Zeichnungen von Franz Blaas. Wien: Sonderzahl Verlag 2007, 262 Seiten, 16 Euro.

Freitag, 05. Oktober 2007

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