Millionen von Patienten praktisch sämtlicher Krankheitsbilder sind nach Angaben der Shiatsu-Anhänger schon erfolgreich damit behandelt worden, von Asthma und Neurodermitis bis hin zu Immunschwäche- und Stoffwechselerkrankungen.
Vor allem aber bei Depressionen, Schlafstörungen und Erkrankungen des Unterleibs hat sich Shiatsu angeblich als unübertreffliches Mittel der Wahl erwiesen: Blasenentzündung, unwillkürliches Wasserlassen und sogar Impotenz seien allein durch Druck des Punktes KG1, direkt unterhalb des Anus gelegen, in kürzester Zeit zu beheben.
Verlust der sexuellen Kräfte verhindern In der Tat liegt das originäre Bestreben des Shiatsu vor allem darin, den Verlust der sexuellen Kräfte zu verhindern. Ein Großteil der vorgestellten Druckpunkttechniken dreht sich um die problemfreie Funktion der Geschlechtsorgane – natürlich um die des älteren Mannes.
In einem japanischen Lehrbuch von 1925 heißt es zum Beispiel: "Druck auf die Magengrube mit drei Fingern, zehnmal während je fünf Sekunden, belebt die Lendengegend und trägt zur Hebung der Potenz bei", ebenso soll demnach ein "fester Druck zuerst rund um den After und dann auf das Perineum zwischen dem After und den Genitalien" wirken. Vorbeugend empfehle sich tägliches "festes Drücken der Hoden - einmal für jedes Lebensjahr".
Darüberhinaus führt das Lehrbuch eine ganze Reihe an "Maßnahmen bei Frigidität der Frau" auf: "1. Die Frau nehme Bauchlage ein. 2. In Richtung nach abwärts drücke man mit dem ganzen Gewicht beidseitig auf den dritten, vierten und fünften Lendenwirbel. 3. Dann übe man sanften Druck auf die vier Punkte auf dem Gesäß aus. 4. Man schließe mit einer gründlichen Shiatsu-Behandlung der Vorderseite des Halses über der Schilddrüse, der Brüste und der Innenseite der Schenkel".
Druck auf die Schilddrüse soll im übrigen auch zur "Vergrößerung der Brüste" und damit zur Steigerung der weiblichen Attraktivität beitragen. Schon vor über viertausend Jahren, wie das Lehrbuch verrät, sei "entdeckt worden, dass Frauen auf diese Weise ihren Liebreiz und die Neigung ihres Herrn und Gebieters erhalten konnten".
Auch die aktuelle Literatur zu Shiatsu quillt über von ähnlich hanebüchenenem Unsinn: Asthma, Durchfall und Schilddrüsenüberfunktion etwa seien probat mit Druck auf Punkt LG14 (unterhalb der Dornfortsatzspitze des siebten Halswirbels) zu beheben, Bauchspeicheldrüsenentzündung, Schluckauf und Verstopfung hingegen durch Druck auf die beiden Punkte B20, "auf dem Rücken, zwei Querfinger von der Wirbelsäulenmittellinie entfernt, in Höhe zwischen dem vorletzten und letzten Brustwirbel".
Hochgefährlich werden die Maßgaben des Shiatsu, wenn etwa zur Behandlung von Bandscheibenproblemen Herumdrücken an der Lendenwirbelsäule, oftmals unter Einsatz des vollen Körpergewichtes, empfohlen wird. Bei Manipulation der Wirbelsäule hört selbst die wohlwollendste Toleranz gegenüber "alternativen Heilverfahren" auf.
Komplett abwegig sind auch Behauptungen wie die, durch Druck auf Punkt LG26, direkt unterhalb der Nasenlöcher, könne ein Bewusstloser sofort wieder zu Bewusstsein gebracht werden.
Selbst von einem Geheimpunkt hinter dem Ohr ist die Rede, der zu drücken sei, wenn man einen eben Verstorbenen ins Leben zurückholen wolle. Hergeleitet sind derlei Behauptungen aus der Shiatsu-Variante des Kuatsu, der “Kunst der Wiederbelebung”, die, angeblich dem Fundus japanischer Schwertkämpfer entstammend, jahrhundertelang nur “von Samurai-Meister zu Samurai-Schüler weitergegeben” worden sei.
Kuatsu bietet eine Vielzahl an Drucktechniken zur Schmerzlinderung sowie zu schnellerer Genesung bei Verletzungen.
Für die behauptete Wirksamkeit des Shiatsu, in chinesischer Variante als "Tuina" bekannt, geringfügig abgewandelt auch als "Shendo", "Trigger-”, "Energypoint-” oder “Akupunktmassage” bzw. “Akupressur”, gibt es keinerlei seriösen Beleg. Auch für die Existenz der Meridiane und Akupunkturpunkte beziehungsweise des angenommenen Energieflusses “Ki” fehlt bis heute jeder tragfähige Nachweis.
Bestenfalls läßt sich bei Shiatsu ebenso wie bei der sogenannten “Emotional Freedom-” oder “Energiefeldtechnik”, die die vorgeblichen Aku-Punkte mit hohler Hand abklopft, von der Möglichkeit eines unspezifischen Placeboeffekts sprechen, von mehr jedoch nicht.
Dasselbe gilt für das sogenannte “Ohashiatsu”, welches die Druckpunktmassage des Shiatsu mit einer Art Bewegungstherapie verknüpft, und für “WaterShiatsu”, bekannt unter dem Kürzel “WATSU”, das in Wellnesszentren als “aquatische Körpertherapie” angeboten wird.
Und nicht zuletzt gilt dies für das sogenannte “TantricShiatsu” oder “TANTSU”, das sich mit seinem Versprechen "unmittelbarer Freisetzung sexueller Energien” den ursprünglichen Absichten des Shiatsu wiederannähert.
(sueddeutsche.de)
Colin Goldner ist klinischer Psychologe. Er setzt sich seit etlichen Jahren kritisch mit alternativen Heilverfahren auseinander.
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