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Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden plus CD-ROM
ISBN 3-411-11009-0
149,00 € [D]

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Gewissen

Gewissen, Urteilsbasis zur (zweifelsfreien) Begründung der allgemeinen persönlichen moralischen Überzeugungen und Normen. Die Inhalte des Gewissens werden vom Normenkanon der jeweiligen Kultur und Gesellschaft sowie von den individuellen moralischen Überzeugungen geprägt.

Psychologie: Entwicklungspsychologisch wird das Gewissen als Ergebnis von Prozessen der Verinnerlichung äußerer Werte und Einstellungen (bereits ab der frühen Kindheit) angesehen, wobei die Denkentwicklung und die jeweiligen Sozialisationsbedingungen (Erziehungsziele und -stile der Eltern, affektives Familienklima, soziale Lebensbedingungen, gesellschaftliche Normen) eine große Rolle spielen. Die Psychoanalyse bezeichnet das Über-Ich als Repräsentanten des Gewissens. Nach behavioristischer Auffassung beruhen moralische Verhaltensweisen auf einer Konditionierung der Angst vor Strafe.

Das Verständnis des Gewissens in der christlichen Theologie wurde als systematische Lehre von der objektiven Richtschnur für das Handeln des Menschen und seiner subjektiven Entscheidung dazu von der Scholastik entwickelt. Die Bibel kennt keine Lehre vom Gewissen, beschreibt aber an vielen Stellen den Sachverhalt. Gott spricht den Menschen an und gibt ihm damit das Bewusstsein seiner Gebote und seiner Gnade. Im Alten Testament und im Sprachgebrauch Jesu steht für Gewissen »das Herz des Menschen« (das sowohl gut als auch böse sein kann). Paulus führt aus der spätantiken Popularphilosophie den Begriff Syneidesis ein, der dort die innere (göttliche) Stimme des Menschen beschreibt (Römer 2, 15). Die späten Schriften des Neuen Testaments verbinden das gute Gewissen mit dem Glauben und beschreiben damit das Wesen christlicher Existenz (1. Timotheus 1, 5). Nach der Lehre der Scholastiker, an der die katholische Theologie auch heute weithin anschließt, verfügt der Mensch über sittliche Urgewissheiten und ist frei, sein konkretes Handeln im Einzelfall daran auszurichten. Luther, und im Anschluss an ihn die protestantische Theologie, lehnten die Annahme sittlicher Urgewissheiten und freier Entscheidungsmöglichkeiten ab. Das menschliche Gewissen ist in ihrer Sicht »Gefangener der Sünde« und gelangt allein durch seine Gebundenheit im Glauben zu Entscheidungsfreiheit.

Sekundärliteratur: H. D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens (Neuausgabe 1995); A. Zimmer: Das Verständnis des Gewissens in der neueren Psychologie (1999); E. Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen? Eine ethische Orientierung (2003).

Weiterführende Artikel aus dem Archiv der Wochenzeitung DIE ZEIT

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