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Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden plus CD-ROM
ISBN 3-411-11009-0
149,00 € [D]

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Afghanistan

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Afghanistan,

Fläche 652 225 km2
Einwohner (2004) 28,5 Mio.
Hauptstadt Kabul
Verwaltungsgliederung 34 Provinzen
Amtsprache Paschto und Dari (Neupersisch)
Nationalfeiertag 19. 8.
Währung 1 Afghani (Af) = 100 Puls (Pl)
Zeitzone MEZ + 3 ½ Stunden

Paschto: Da Afghanistan Islami Dawlat, Dari: Daulat-e Eslami-ye Afghanistan; deutsch Islamischer Staat Afghanistan, Binnenstaat in Asien, grenzt im Westen an Iran, im Norden an Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan, im Osten und Süden an Pakistan, am Ostende des Wakhanzipfels an China.

Inhaltsverzeichnis

S T A A T · R E C H T

Die nach dem Sturz der Taliban auf dem Petersberg bei Bonn tagende Afghanistankonferenz (27. 11.–5. 12. 2001) hatte in ihren Friedensvereinbarungen u. a. beschlossen, 18 Monate nach Amtsübernahme der Interimsregierung eine verfassunggebende Loya Jirga (Große Ratsversammlung) einzusetzen. Für die Übergangszeit galt die Verfassung von 1964 mit der wesentlichen Änderung, dass die auf die Monarchie bezogenen Bestimmungen ausgesetzt werden. Am 4. 1. 2004 verabschiedete die Loya Jirga eine neue Verfassung (seit 16. 1. 2004 in Kraft), nach der Afghanistan eine Islamische Republik mit Präsidialsystem ist. Als Staatsoberhaupt und Regierungschef mit weitgehenden Vollmachten fungiert der Präsident (auf 5 Jahre direkt gewählt). Ihm stehen 2 für die gleiche Zeit gewählte Vizepräsidenten zur Seite. Die Mitglieder des Kabinetts werden vom Präsidenten ernannt und sind vom Parlament zu bestätigen. Die Legislative liegt beim Zweikammerparlament (Nationalversammlung), bestehend aus dem Haus des Volkes (Wolesi Jirga; Unterhaus; 249 Abgeordnete) und dem Haus der Älteren (Mishrano Jirga; Oberhaus; 102 Mitglieder). Die Mitglieder des Unterhauses werden von der Bevölkerung direkt, die des Oberhauses durch die Provinzräte gewählt beziehungsweise vom Präsidenten ernannt; 68 der insgesamt 351 Parlamentarier sind Frauen. Obwohl für die Entscheidung über Gesetze und die Ratifizierung internationaler Verträge beide Kammern zuständig sind, kommt dem Unterhaus größere Bedeutung zu, es kann z. B. mit Zweidrittelmehrheit Gesetze verabschieden, denen der Präsident nicht zustimmt. Die Einsetzung eines Obersten Gerichtshofes (9 Richter, auf 10 Jahre vom Präsidenten ernannt) ist vorgesehen. – Die neue Verfassung bestimmt den Islam zur Staatsreligion und schließt eine im Widerspruch zu seinen Grundlagen stehende Gesetzgebung ausdrücklich aus. Das Recht auf Religionsausübung auch für nichtislamische Bekenntnisse wird im Rahmen staatlicher Gesetze geschützt. Die Gleichstellung der Geschlechter ist verfassungsmäßig garantiert. – Der Demokratisierungs- und Wiederaufbauprozess wird durch eine internationale Sicherheitstruppe unter dem Oberkommando der NATO (ISAF) kontrolliert und unterstützt.

L A N D E S N A T U R · B E V Ö L K E R U N G

Landesnatur:

Der zentrale Hindukusch, bis über 7 000 m über dem Meeresspiegel, teilt Afghanistan in eine Nord- und eine Südregion. Im Norden hat Afghanistan Anteil am Tiefland von Turan, im Süden dehnen sich teils von Salzsümpfen ausgefüllte Wüstenbecken aus. Im Wakhan hat Afghanistan Anteil am Pamir. Der vorherrschende Hochgebirgscharakter ist ein natürliches Hindernis für die Landesentwicklung. Das Klima ist kontinental mit großen Temperaturunterschieden (Sommer bis 40 °C; Winter bis −25 °C), geringen winterlichen Niederschlägen und trockenen Sommerstürmen im Westen; Steppen und Wüstensteppen überwiegen, nur der Osten erhält sommerliche Monsunregen (daher bewaldet). Die für die Bewässerung wichtigen Flüsse, z. B. Helmand, Hari Rud, Kabul, entspringen in Zentralafghanistan, besonders im Kuh-e Baba; sie versickern meist in abflusslosen Becken.

Bevölkerung:

Angaben über die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung sind aufgrund der in den letzten Jahrzehnten erfolgten Flüchtlingswellen kaum zu konkretisieren. Die Bevölkerung des Vielvölkerstaates besteht aus über 33 (Anzahl nicht gesichert; Angaben auch über 200) unterschiedlich großen Gruppen. Größte und bedeutendste Volksgruppe mit etwa 35–70 % sind die Paschtunen, besonders im Süden und Südosten an der Grenze zu Pakistan, deren Stammesgebiet 1893 geteilt wurde und heute zur Hälfte zu Pakistan gehört. Die Paschtunen stellen den Hauptteil der Nomaden. Die Tadschiken (20–35 %) leben besonders im Norden und Nordosten des Landes. Mongolischstämmige Hazara (7–20 %) leben im Hindukusch. Turksprachige Gruppen sind Usbeken (rund 9 %) und Turkmenen, daneben gibt es noch Aimak, Belutschen, Nuristani, Paschai, Kirgisen, ferner Kisilbasch u. a. Größte Städte sind Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Herat, Kunduz, Jalalabad. Etwa 3 Mio. der Gesamtbevölkerung leben noch als Flüchtlinge v. a. in Pakistan und in Iran (zunehmende Flüchtlingsrückkehr), Hunderttausende sind Binnenflüchtlinge. – Es besteht allgemeine Schulpflicht im Alter von 6 bis 12 Jahren; das Schulsystem (1996–2001 faktisch nicht bestehend) befindet sich im Neuaufbau; die Alphabetisierungsrate ist (2000) im Weltmaßstab eine der geringsten (36 %) und fällt bei Frauen deutlich niedriger aus (21 %) als bei Männern (51 %); Universitäten u. a. in Kabul (gegründet 1932), Jalalabad (gegründet 1962), Herat (gegründet 1988), Mazar-e Sharif (gegründet 1986) und Kandahar (gegründet 1991). – Rund 99 % der Bevölkerung bekennen sich zum Islam, mehrheitlich (rund 80 %) als Sunniten der hanefitischen Rechtsschule. Die Hazara und die turkstämmigen Kisilbasch sind Schiiten (Imamiten). Der Islam ist Staatsreligion.

W I R T S C H A F T · V E R K E H R

Afghanistan gehört zu den ärmsten Entwicklungsländern der Welt. Nach mehr als zwei Jahrzehnten Krieg sind die Infrastruktur und die Produktionsanlagen weitgehend zerstört. Durch mehrjährige Missernten aufgrund mangelnder Niederschläge (2000/03) haben sich die Lebensverhältnisse und die Versorgung der Bevölkerung weiterhin verschlechtert. Gegenwärtig halten Hilfsorganisationen eine rudimentäre soziale Infrastruktur am Leben. Parallel zu diesem wirtschaftlichen Niedergang florieren in Afghanistan Bürgerkriegsökonomien: Das Land stieg zum weltweit größten Heroinproduzenten und zur Drehscheibe des internationalen Schmuggels auf. In der Landwirtschaft sind Bewässerungsfeldbau (ein Großteil der Bewässerungssysteme ist zerstört; zunehmende Versalzung der Böden) und Oasenwirtschaft in den Tälern und Becken sowie die extensiv genutzten Weiden kennzeichnend. Von 8 Mio. ha landwirtschaftlicher Nutzfläche sind derzeit 3 Mio. ha wegen Kriegseinwirkungen und Verminung nicht nutzbar. Hauptagrarerzeugnisse sind Weizen, Mais, Gerste, Reis, Baumwolle, Zuckerrohr, Obst, ferner Mandeln, Nüsse, Pistazien; im Grenzgebiet zu Pakistan verstärkter Mohnanbau. Auf fast 90 000 ha Land wurden in den vergangenen Jahren jährlich rund 4 500 t Schlafmohn (Ausgangsprodukt für Rohopium) geerntet. Damit ist Afghanistan nach wie vor weltgrößter Opiumproduzent. Wichtig ist die überwiegend nomadische Viehhaltung (Schafe, Ziegen, Karakulschafe). Von den Bodenschätzen werden bisher Steinkohle, Steinsalz, Erdgas, Baryt und Talk ausgebeutet. Die Provinz Badachschan gilt als weltbedeutendster Fundort von Lapislazuli. Weitere Bodenschätze (v. a. Erdöl, Eisen und Kupfer) sind noch ungenügend erschlossen. Die Industrie ist im Allgemeinen wenig entwickelt (Textil-, Zement-, chemische Industrie, Lebensmittelindustrie); es dominiert das Handwerk (Teppich-, Schmuckwarenherstellung). – Da Eisenbahnen fehlen, sind Straßen und Luftlinien (internationale Flughäfen: Kabul, Herat und Kandahar) die Hauptträger des Verkehrs.

G E S C H I C H T E

Afghanistan im Altertum und Mittelalter: Das seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. zum persischen Achaimenidenreich gehörende Afghanistan wurde um 330 v. Chr. von Alexander dem Großen erobert und nach dessen Tod ins Seleukidenreich eingegliedert. Das von den Saken begründete Kuschanreich erlag im 5. Jahrhundert n. Chr. dem Ansturm der Hephthaliten, die 567 vom Sassanidenkönig Chosrau I. geschlagen wurden. Im 7. Jahrhundert begann die Eroberung durch die Araber; Kabul und der Osten wurden erst im 10. Jahrhundert islamisiert. 977–1187 war Afghanistan Kern des Reiches der turkstämmigen Ghasnawiden, denen die kurzlebige Dynastie der (wahrscheinlich einheimischen) Ghuriden folgte. Im 13. Jahrhundert fielen die Mongolen in Afghanistan ein (im 14. Jahrhundert Eroberung durch Timur).

Afghanistan vom 16. bis zum 20. Jahrhundert: Im 16. und 17. Jahrhundert war es zwischen Persien und dem indischen Mogulreich geteilt, bis Mitte des 18. Jahrhunderts Ahmed Schah Durrani (1747–73) ein mächtiges Emirat gründete. Im 19. Jahrhundert lag Afghanistan im Spannungsfeld Großbritannien–Russland. Nach den ersten beiden afghanisch-britischen Kriegen (1838–42 und 1878–80), in denen Großbritannien seine Vorherrschaft durchzusetzen versuchte, wurde Afghanistan zum Pufferstaat zwischen Russland und Britisch-Indien; nach dem 3. afghanisch-britischen Krieg (1919) erreichte Aman Ullah (1919–29, seit 1926 König) im Vertrag von Rawalpindi (1919) die staatliche Unabhängigkeit Afghanistans. Seine forcierte Modernisierungs- und Reformpolitik nach westlich-europäischem Vorbild, die zu seinem Sturz führte, wurde durch Nadir Schah (1929–33, 1931 Einführung der konstitutionellen Monarchie) und nach dessen Ermordung von Sahir Schah (1933–73, Neutralitätspolitik) behutsamer fortgesetzt.

Proklamation der Republik und sowjetische Besetzung: Durch den Militärputsch von 1973 wurde Afghanistan Republik. Nach ihrem Aufstand gegen den diktatorisch regierenden Staatspräsidenten M. Daud Khan (1973–78) übernahm die kommunistische Demokratische Volkspartei unter N. M. Taraki die Regierungsgewalt. Deren Politik orientierte sich streng an der UdSSR; Machtkämpfe innerhalb der Partei, hartes Vorgehen gegen Oppositionelle und v. a. die Landreform von 1979 zogen einen landesweiten Widerstand gegen das Regime nach sich. Unter Berufung auf den Freundschaftsvertrag von 1978 ließ daraufhin die UdSSR unter weltweitem Protest im Dezember 1979 Truppen in Afghanistan einmarschieren. Sie setzte B. Karmal als Staats-, Regierungs- und Parteichef ein und versuchte, die politisch uneinheitliche muslimische Guerillabewegung (Mudschaheddin), die von Pakistan aus operierte und v. a. von den USA mit Waffenlieferungen unterstützt wurde, in verlustreichen Kämpfen zu unterdrücken. 1986 wurde B. Karmal durch M. Nadschibullah abgelöst, der angesichts des Scheiterns der sowjetischen Invasion und der verheerenden Folgen des Krieges (rund 1 Mio. Tote, 5 Mio. Flüchtlinge) eine Politik der »nationalen Aussöhnung« verkündete. Von Mai 1988 bis Februar 1989 zog die UdSSR, die selbst hohe Verluste (etwa 14 000 gefallene Soldaten) erlitten hatte, ihre Truppen vollständig aus Afghanistan ab.

Die Machtergreifung durch die Mudschaheddin: Die antikommunistischen Widerstandsorganisationen bildeten im Februar 1989 eine Gegenregierung. Im Juni 1990 gab die kommunistische Regierungspartei ihr Machtmonopol auf (Umbenennung in Heimatlandpartei). Im Mai 1991 akzeptierte die Regierung einen Friedensplan der UN (Waffenstillstand, Übergangsregierung auf breiter Basis, Vorbereitung freier Wahlen). Bis zum Frühjahr 1992 brachten die Mudschaheddin den größten Teil von Afghanistan militärisch unter ihre Kontrolle. Nach dem Sturz Nadschibullahs (April 1992) und der unblutigen Besetzung der Hauptstadt Kabul durch Truppen der muslimischen Rebellen übernahm ein von diesen gebildeter Übergangsrat die Macht. Im selben Jahr verbot die muslimische Führung die ehemalige Regierungspartei und leitete einen verstärkten Islamisierungsprozess ein (u. a. Einführung islamischer Gesetze). Die ausbrechenden Kämpfe zwischen rivalisierenden Mudschaheddin-Gruppierungen (v. a. um die Kontrolle Kabuls) wurden trotz eines Vertrages über Gewaltverzicht (Ende April 1992) und eines Friedensabkommens (März 1993) nicht beendet. Darüber hinaus führte die Unterstützung der afghanischen Mudschaheddin für den 1992 ausgebrochenen bewaffneten Kampf der islamischen Opposition in Tadschikistan zu einer Konfliktsituation in dem durch russische Truppen überwachten afghanisch-tadschikischen Grenzterritorium.

Afghanistan unter den Taliban: Die Milizen der seit 1994 von Pakistan aus in den Bürgerkrieg eingreifenden radikalislamischen paschtunischen Taliban eroberten in wenigen Jahren den Großteil des Landes und errichteten in ihrem Herrschaftsgebiet eine repressive Religionsdiktatur (Verfolgung der Schiiten, Entrechtung der Frauen, Behinderung der Arbeit von UN und Hilfsorganisationen). Mit der Einnahme von Kabul riefen die Taliban unter ihrem Führer Mullah Mohammed Omar am 27. 9. 1996 einen islamischen Staat aus (seit Oktober 1997 von diesen als »Islamisches Emirat Afghanistan« bezeichnet). Bei ihrem Vormarsch nach Nordafghanistan stießen die Taliban auf den heftigen Widerstand der »Vereinigten Front zur Rettung Afghanistans« (die aus verschiedenen nationalen Minderheiten gebildete »Nordallianz« von Mudschaheddin-Gruppierungen unter dem militärischen Oberkommando von Ahmed Schah Massud und der politischen Führung von Burhanuddin Rabbani). Der anhaltende Bürgerkrieg, in dem es immer wieder zu blutigen Übergriffen auf die Zivilbevölkerung und zu neuen Flüchtlingsströmen kam, führte zu einer starken Zerstörung und wirtschaftlichen Lähmung Afghanistans, das zum weltgrößten Heroinproduzenten aufstieg und sich zu einem Transitland des Drogenschmuggels entwickelte. 2000 erließ der Talibanführer Omar zeitweilig ein Verbot des Schlafmohnanbaus.

Von den UN vermittelte Gespräche für eine politische Lösung des Konflikts (u. a. in Aschchabad im März 1999) und Friedensverhandlungen unter Beteiligung der afghanischen Nachbarstaaten sowie Russlands und der USA (in Taschkent im Juli 1999) waren angesichts der immer wieder aufbrechenden Kämpfe zwischen den Kriegsparteien wirkungslos. Starke Spannungen entwickelten sich zwischen den sunnitischen Taliban und dem schiitischen Iran (ausgelöst durch die Tötung iranischer Diplomaten bei der Eroberung von Mazar-e Sharif 1998) sowie den ursprünglich die Milizen unterstützenden USA (v. a. wegen der Weigerung der Taliban, den für die blutigen Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania 1998 verantwortlich gemachten saudi-arabischen Extremisten Osama Bin Laden auszuweisen). Unter dem Vorwurf, den Terrorismus zu unterstützen, setzte die UNO im Januar 2001 verschärfte Sanktionen gegen Afghanistan in Kraft. Trotz heftiger internationaler Proteste ließ die Talibanführung im März 2001 aus religiösen Gründen die berühmten buddhistischen Statuen von Bamian zerstören.

Anfang August 2001 inhaftierten die Taliban in Kabul acht ausländische (darunter vier deutsche) und 16 afghanische Mitarbeiter der Hilfsorganisation »Shelter Now International« unter dem Vorwurf christlicher Missionierung; nach Beginn eines Prozesses (8. 9. 2001) bemühten sich westliche Diplomaten um ihre Freilassung, was aber durch die im September ausbrechende Krise zwischen Afghanistan und den USA vorerst verhindert wurde (für die westlichen »Shelter Now«-Mitglieder erst am 15. 11. 2001 durch Vermittlung des IKRK erwirkt).

Nach dem tödlichen Anschlag auf den Nordallianzführer Massud am 9. 9. 2001 startete die Talibanmiliz eine neue militärische Offensive. Die ultimative Forderung der USA nach einer sofortigen Auslieferung Osama Bin Ladens, den die amerikanische Regierung für die verheerende Anschlagserie vom 11. 9. 2001 verantwortlich machte, und nach der sofortigen Schließung aller Stützpunkte von Terroristen wiesen die Taliban erneut zurück; nach dem eilig anberaumten Treffen des Rates der islamischen Geistlichen (rund 1 000 »Ulema«) vom 19./20. 9. 2001 übernahm man deren Rechtsgutachten mit der Aufforderung, Bin Laden zum freiwilligen Verlassen Afghanistans zu bewegen. Für den Fall eines amerikanischen Angriffs rief die Talibanführung unter Mullah Mohammed Omar einen »Heiligen Krieg« aus, drohte allen die USA unterstützenden Nachbarstaaten mit Militäraktionen und leitete Vorbereitungen für eine Abwehr ein (Verlagerung von Truppen in die schwer zugänglichen Grenz- und Bergregionen, Zwangsrekrutierung neuer Soldaten). Derweilen forcierten die (sowohl durch Russland als auch zunehmend durch die USA unterstützten) Einheiten der Nordallianz ihre Kämpfe gegen die Talibanmiliz und rückten in Richtung Süden vor. Kriegsangst verstärkte die Hunderttausende umfassende Flüchtlingswelle in der afghanischen Bevölkerung, die sich mit der Schließung der Grenzen der Nachbarländer in einer hoffnungslosen Lage sah. Nachdem die Taliban bereits Mitte September alle Ausländer zum Verlassen Afghanistans aufgefordert hatten, mussten auch die UN-Mitarbeiter mit der Schließung ihrer Büros die Lebensmittelhilfe einstellen und warnten vor einer humanitären Katastrophe. Am 26. 9. 2001 demonstrierten Zehntausende Menschen in Kabul gegen die USA und stürmten deren verlassene Botschaft, die zum Teil niederbrannte. Am 30. 9. 2001 trafen sich sowohl US-Kongressmitglieder als auch Vertreter der afghanischen Opposition mit dem im Exil in Rom lebenden afghanischen Exkönig Sahir Schah zu Gesprächen über die politische Zukunft des Landes am Hindukusch. Bis Anfang Oktober 2001 hatten die USA einen engen militärischen Ring um Afghanistan gezogen (unter Nutzung von Stützpunkten in einigen Nachbarländern, erste Erkundungsmissionen von Voraustrupps amerikanischer Sondereinheiten, Beorderung von Kriegsschiffen in die Golfregion) und sich im Rahmen einer breiten Antiterrorallianz u. a. auch der Unterstützung Pakistans sowie an Afghanistan angrenzender GUS-Republiken versichert. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (neben Pakistan die einzigen Länder, die das Talibanregime anerkannt hatten) brachen ihre diplomatischen Beziehungen zu Afghanistan ab, im November 2001 auch Pakistan.

Militäraktion der USA und Sturz der Taliban: Am 7. 10. 2001 begann unter direkter britischer Beteiligung eine amerikanische Militäraktion gegen das Talibanregime und Stützpunkte der Terrororganisation »al-Qaida« von Bin Laden. Zunächst richteten sich massive Luftangriffe besonders gegen Kabul, Kandahar, Jalalabad; erste Einsätze amerikanischer Spezialeinheiten auf afghanischem Gebiet folgten. Der Krieg, der das Flüchtlingselend weiter verschärfte, forderte auch zahlreiche zivile Opfer durch die Bombenangriffe, die wiederholt Wohnviertel, Versorgungseinrichtungen und sogar Depots von Hilfsorganisationen in Mitleidenschaft zogen (nach einer im Januar 2002 veröffentlichten US-amerikanischen Studie Tod von etwa 3 700 afghanischen Zivilisten durch die Bombardements von Oktober bis Mitte Dezember 2001). Am 8. 10. 2001 leitete die Nordallianz eine Offensive gegen die Taliban ein; mit massiver militärischer Unterstützung seitens der USA (v. a. heftige Luftschläge gegen die Talibanstellungen) konnten die Talibangegner bis Dezember 2001 fast ganz Afghanistan einnehmen (am 13. 11. Einmarsch in Kabul, in das am 17. 11. der afghanische Exilpräsident Rabbani zurückkehrte; am 25. 11. Fall der nordafghanischen Stadt Kunduz, am 7. 12. Beginn der Übergabe der südafghanischen Talibanhochburg Kandahar). Im Westen des Landes gelang dem bis zu seinem Sturz durch die Taliban (1995) in Herat als Gouverneur regierenden Ismail Khan ebenfalls die Rückeroberung seines früheren Machtbereichs. Die Macht der Taliban wurde gebrochen, ihre Organisation zerfiel (Desertion, Kapitulation oder Gefangennahme vieler ihrer Führer).

Im Zusammenhang mit den Kämpfen gab es wiederholt Berichte über Massaker auf beiden Seiten. Zu einem Blutbad kam es im November 2001 in einem Gefangenenlager bei Mazar-e Sharif, als dort inhaftierte Taliban einen bewaffneten Aufstand auslösten, der nach amerikanischen Bombenangriffen auf das Lager und der anschließenden Rückeroberung durch Nordallianzeinheiten unter dem Usbekengeneral Abdul Raschid Dostam (Dostum) mit dem Tod Hunderter Aufständischer endete.

Ende November 2001 landeten in der Nähe der Stadt Kandahar US-Einheiten in größerer Zahl und leiteten eine gezielte Suche nach Bin Laden ein, der sich nach Hinweisen der Nordallianz mit zahlreichen Kämpfern in eine seiner Bergfestungen im Süden oder Osten zurückgezogen hatte; im darauf folgenden Monat richtete sich eine von US-Luftschlägen begleitete Offensive von Antitalibantruppen gegen die bei Jalalabad gelegene Bergfestung Tora Bora, die nach erbittertem Widerstand seitens der »al-Qaida«-Kämpfer erobert werden konnte. Der Verbleib von Bin Laden blieb aber zunächst weiterhin ungeklärt (Theorien über seine mögliche Flucht oder seinen Tod bei der Bombardierung der »al-Qaida«-Stützpunkte), ebenso vorerst das Schicksal von Talibanchef Mullah Mohammed Omar. Immer wieder stieß man auf Spuren und Belege dafür, dass die Taliban eng mit dem Terrornetz Bin Ladens zusammengearbeitet hatten und von Letzterem Versuche mit biologischen und chemischen Waffen unternommen worden waren.

Staatlicher Neubeginn (seit Ende 2001): Inzwischen wurden auch die Bemühungen um eine politische Neuordnung Afghanistans verstärkt (u. a. im November 2001 Fünfpunkteplan des UN-Beauftragten für Afghanistan Lakhdar Brahimi). Die vom 27. 11. bis 5. 12. 2001 auf dem Petersberg bei Bonn tagende Afghanistankonferenz unter Leitung der UNO, an der sich die wichtigsten politischen und ethnischen (auch Exil-)Gruppierungen Afghanistans beteiligten, erreichte nach zähen Verhandlungen um die Verteilung der Macht einen Kompromiss, der sich in einem Rahmenabkommen niederschlug; man einigte sich auf die Bildung einer 29-köpfigen provisorischen Regierung unter Führung des Paschtunen Hamid Karsai; in dieser wurden der Nordallianz vorerst Schlüsselressorts (Außen-, Innen- und Verteidigungsministerium) zugesprochen. Am 22. 12. 2001 erfolgte in Kabul die Amtseinführung der Übergangsregierung unter Karsai, der die politische Führung aus den Händen des bisherigen Interimspräsidenten Rabbani übernahm; der einflussreiche usbekische Warlord Dostam, der die neue Regierung zunächst nicht anerkannt hatte, wurde am 24. 12. 2001 als stellvertretender Verteidigungsminister in das Kabinett aufgenommen. Zur Absicherung des Übergangsprozesses, in dem der UNO eine stabilisierende Rolle zugesprochen wurde, billigte man auch eine internationale Afghanistantruppe unter UN-Mandat (ISAF), deren Einsatz unter zunächst britischem Oberkommando der Weltsicherheitsrat am 20. 12. 2001 beschloss. Kurz danach trafen britische Soldaten in Kabul ein, Anfang Januar 2002 ein multinationales Vorauskommando der Schutztruppe (Sollstärke von etwa 4 500 Mann aus 17 Ländern; darunter bis zu 1 200 deutsche Soldaten). Nach Russland (30. 11. 2001) und den USA (Verbindungsbüro seit 16. 12. 2001) eröffnete auch Deutschland am 1. 1. 2002 wieder eine diplomatische Vertretung in Kabul. Die Regierung Karsai unterstützte eine Weiterführung der amerikanischen Militäraktion (auch der Bombenangriffe) gegen noch verbliebene Terroristenstützpunkte in Afghanistan. Im Januar 2002 begannen die USA mit der Überführung von gefangenen Taliban und »al-Qaida«-Kämpfern in den zum Hochsicherheitsgefängnis ausgebauten amerikanischen Militärstützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba, verweigerte diesen aber (trotz internationaler Kritik) den offiziellen Status von Kriegsgefangenen. Die afghanische Übergangsregierung leitete eine Entmilitarisierung der Hauptstadt Kabul ein (Abzug aller bewaffneten Einheiten außer Polizei und offiziellen Sicherheitskräften, Pläne zur Schaffung einer nationalen Armee) und kündigte erste Schritte zur wirtschaftlichen und politischen Konsolidierung des Landes an. Im Januar 2002 erreichte Karsai bei einem Besuch in den USA deren Zusage für eine »dauerhafte Partnerschaft« (u. a. finanzielle Kredite und Hilfe beim Aufbau einer afghanischen Armee). Zunehmend kehrten afghanische Flüchtlinge in ihr Land zurück (nach UN-Angaben bis Juni 2002 etwa 1 Mio. Menschen, zunächst v. a. aus Pakistan).

2002/03 richteten sich weitere Militäreinsätze amerikanischer u. a. westlicher Spezialeinheiten gegen verbliebene oder sich neu formierende Widerstandsgruppen der Taliban und der »al-Qaida« besonders in der Grenzregion zu Pakistan, darüber hinaus gegen die bewaffneten Aktionen der vom Islamisten und afghanischen Expremier Gulbuddin Hekmatyar geführten »Hisb-i-Islami«. Zugleich kam es wiederholt zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen um regionale Einflussgebiete kämpfenden afghanischen Warlords; auch die Bestimmung von Wahlmännern für die Große Ratsversammlung (Loya Jirga) war von mehreren Morden bzw. Festnahmen von Kandidaten überschattet. Im April 2002 kehrte der mit der Eröffnung der Loya Jirga betraute hochbetagte Exkönig Sahir Schah ins Land zurück. Erst nachdem dieser und der frühere Präsident Rabbani auf eine Kandidatur als Staatsoberhaupt verzichtet hatten, konnte am 11. 6. 2002 die (auch danach von Kontroversen zwischen den etwa 1 600 Delegierten geprägte und unter den Vorwurf amerikanischer Einflussnahme geratene) Große Ratsversammlung beginnen; der von ihr zwei Tage später zum Präsidenten Afghanistans gewählte Karsai stellte am 19. 6. 2002 die von ihm geführte neue »islamische« Übergangsregierung vor. Auch danach richteten sich verschiedene Anschläge gegen Regierungsmitglieder (u. a. die Ermordung des paschtunischen Vizepräsidenten Hadschi Abdul Kadir im Juli 2002 in Kabul; Attentat auf Präsident Karsai im September 2002). Das Land, dem trotz Zusicherung einer internationalen Geberkonferenz in Tokio (Januar 2002) wichtige Mittel für den Wiederaufbau fehlten und das auch nach dem Sturz der Talibanherrschaft der weltweit größte Produzent von Opium blieb, wurde nach einer Einschätzung der UNO (2003) weiterhin von einer angespannten Sicherheitslage, von ethnischen Konflikten und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen beeinträchtigt. Im Februar 2003 ging der Oberbefehl über die Truppen der ISAF an Deutschland und die Niederlande über; im August 2003 übernahm die NATO die Leitung unter Beibehaltung einer mit dem Kommando betrauten »lead nation«.

In der am 4. 1. 2004 von der Großen Ratsversammlung verabschiedeten Verfassung wurde v. a. auf Betreiben von Karsai das Präsidentenamt mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet. Präsident Karsai, dessen Macht sich vorerst im Wesentlichen auf Kabul und Umgebung beschränkte, sah sich weiterhin mächtigen Provinzgouverneuren gegenüber; der Versuch, die Macht der Lokalfürsten einzuschränken, äußerte sich z. B. in der Absetzung des Gouverneurs von Herat Ismail Khan im September 2004. Schwierig gestalteten sich auch die Etablierung eines staatlichen Gewaltmonopols (Aufbau von Armee und Polizei) sowie die Umsetzung von Programmen zur Entwaffnung der Milizen. Die erste Direktwahl des Präsidenten am 9. 10. 2004, der sich insgesamt 18 Kandidaten (darunter eine Frau) stellten, gewann Karsai im ersten Wahlgang (Vereidigung am 7. 12. 2004).

Das am 18. 9. 2005 gewählte Parlament (sehr heterogene Zusammensetzung der Abgeordneten, darunter Warlords, Mudjahedin und ehemalige Taliban, aber auch zahlreiche Frauen) konstituierte sich am 19. 12. 2005 in Kabul; damit kam der mit der Petersberger Afghanistankonferenz vom Dezember 2001 eingeleitete politische Übergangsprozess zum Abschluss und es wurde ein neuer Abschnitt der afghanischen Staatlichkeit eingeleitet; eine internationale Afghanistan-Folgekonferenz in London (31. 1.–1. 2. 2006) beschloss weitere Aufbauhilfe für das Land (bis 2010 rd. zehn Milliarden $; am 16. 2. 2006 vom Weltsicherheitsrat gebilligt). Im Dezember 2005 kündigten die USA den Abzug von 3 000 amerikanischen Soldaten zum Frühjahr 2006 an (korrespondierend damit Verstärkung der ISAF-Truppen). Am 1. 6. 2006 übernahm Deutschland das ISAF-Regionalkommando in Nordafghanistan. Gegen die wieder erstarkenden Taliban richtete sich 2006 die seit 2001 größte US-geführte Militäroffensive im Süden des Landes.

Durrani-Reich (Linie Popalzai/Sadozai)

Die Herrscher und Staatsoberhäupter Afghanistans
Ahmed Schah Durrani1747–1772
Timur Schah1772–1793
Zaman Schah1793–1800
Mahmud Schah1800–1803 und 1809–1818
Schah Schudscha 1803–1809 und 1839–1842
Barakzai/Mohammadzai-Dynastie (bis 1926 Emire, dann Könige)
Dost Mohammed Khan1836–1839 und 1842–1863
Scheir Ali1863–1866 und 1869–1879
Mohammed Afzal Khan1866–1867
Mohammed Azam Khan1867–1869
Yaqub Khan1879
Abd ur-Rahman1880–1901
Habib Ullah1901–1919
Aman Ullah1)1919–1929
Nadir Schah1929–1933
Sahir Schah1933−1973
Republik Afghanistan (Präsident)
Mohammed Daud Khan1973-1978
Demokratische Republik Afghanistan (Vorsitzende des Revolutionsrats
Nur Mohammed Taraki 1978–1979
Hafisollah Amin1979
Babrak Karmal1979–1986
Haji Mohammed Chamkani1986–1987
Republik Afghanistan ( Präsident)
Mohammed Najibullah 1987–1992
Islamische Republik Afghanistan (Interimspräsidenten)
Sibghatullah Mojadedi 1992
Burhanuddin Rabbani 1992
Islamischer Staat Afghanistan (Präsident)
Burhanuddin Rabbani 1992–1996 (formal bis 2001)
Islamisches Emirat Afghanistan2)
Talibanherrschaft unter Mullah Mohammed Omar1996/97–2001
Islamischer Staat Afghanistan (Übergangsregierung)
Hamid Karsai (Regierungschef, seit 2002 Interimspräsident)seit 2001
Islamische Republik Afghanistan (Präsident)
Hamid Karsaiseit 2004
1)1929 durch den Batscha -i-Saqqao gestürzt, der den Thron für neun Monate als Habib Ullah II. usurpierte.2)1997 ausgerufen, international nicht anerkannt.

Sekundärliteratur: Afghanistan. Natur, Geschichte u. Kultur, Staat, Gesellschaft u. Wirtschaft, hg. v. W. Kraus (31975); E. Grötzbach: Afghanistan. Eine geographische Landeskunde (1990); M. Pohly: Krieg u. Widerstand in Afghanistan. Ursachen, Verlauf u. Folgen seit 1978 (1992); S. Rasuly: Politischer Strukturwandel in Afghanistan (1993); M. Baraki: Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland 1945–1978 (1996); Afghanistan in Geschichte u. Gegenwart, hg. v. C. J. Schetter u. A. Wieland-Karimi (1999); H. Krech: Der Afghanistan-Konflikt 2001 (2002); M. Pohly: Nach den Taliban. Afghanistan zwischen internationalen Machtinteressen u. demokratischer Erneuerung (2002); H. Schwarz: Afghanistan. Geschichte eines Landes (2002); C. J. Schetter: Ethnizität u. ethnische Konflikte in Afghanistan (2003); S. M. Samimy: Afghanistan. Tragödie ohne Ende? (2003); C. J. Schetter: Kleine Geschichte Afghanistans (2004).

Weiterführende Artikel aus dem Archiv der Wochenzeitung DIE ZEIT