Weil die Gesellschaft seit einigen Jahren immer weiter auseinanderdriftet, weil sich die Einkommensschere deutlich öffnet und sich die Lebenswelten von oben und unten immer weiter voneinander entfernen, deshalb, so heißt es, verlieren die Eliten jetzt moralisch die Bodenhaftung und fühlen sich nicht mehr an Recht und Gesetz gebunden.
Das klingt irgendwie plausibel, und es hat natürlich auch den schönen Nebeneffekt, dass es den Liechtenstein-Skandal unmittelbar mit politischen Forderungskatalogen der Parteien kurzschließt. Wenn auch der Moralverfall an der Spitze letztlich Folge auseinanderklaffender Einkommen und Chancen ist, dann ist ja die bereits begonnene Debatte um eine andere Verteilung die beste Moralpolitik. "Der Raffgier wurde gesetzlich die Tür geöffnet", heißt das bei Oskar Lafontaine.
Das Problem ist nur, dass diese These sich mehr auf Küchenpsychologie stützt als auf überzeugende Belege. Der Korruptionsskandal bei VW etwa, in dem am Freitag das Gerichtsurteil gegen den früheren Betriebsratschef Klaus Volkert gesprochen wird, entwickelte sich in einem Unternehmen, das als sozialer Vorzeigebetrieb der Nation galt. Bei Siemens erblühte die Korruptionskultur in Zeiten, die gern als die guten alten beschrieben werden. Und auch die Steuerhinterzieher von Liechtenstein haben ihr Geld zum Teil schon vor vielen Jahren vor dem deutschen Fiskus versteckt.
Unbestreitbar ist, dass der soziale Abstand zwischen den Spitzenkräften der Wirtschaft und den einfachen Arbeitnehmern dramatisch gewachsen ist: Im globalisierten Kapitalismus kommt der Chef nicht mehr jeden Morgen durch die Eingangstür, sondern arbeitet und lebt womöglich auf einem anderen Kontinent. Auch finanziell liegen buchstäblich Welten zwischen verschiedenen Gesellschaftsgruppen, erst recht, wenn man die heutigen Zustände mit den gemeinsamen Entbehrungen der deutschen Nachkriegszeit vergleicht. Hier hat eine Entfremdung stattgefunden, die auf beiden Seiten Missachtung und Misstrauen schürt.
Das ist ein großes Problem der Politik wie der Unternehmensführung. Dass damit aber auch die Kriminalitätsneigung in den Chefetagen zugenommen hat, ist pure Spekulation. Zumal die Anforderungen an Transparenz und Kontrolle stetig schärfer werden. Viele Mauscheleien, die in früheren Zeiten Teil einer allseits üblichen Vettern- und Filzwirtschaft waren, sind heute gesetzlich geächtet oder im Wettbewerb schlicht nicht mehr praktikabel.
Die berühmteste Kurztheorie zur Elitenmoral stammt von dem britischen Historiker Lord Acton: "Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut." Das bleibt zweifellos richtig. Der Satz ist allerdings schon über 120 Jahre alt. Acton formulierte ihn damals gegen eine Moralinstanz - den Papst.
Aus der FTD vom 22.02.2008
© 2008 Financial Times Deutschland
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