Außer den Kosovo-Albanern selbst sollte kein vernünftiger Mensch sich darüber freuen, dass auf dem künftigen Territorium der EU schon wieder ein neuer Staat entsteht. Erstens kann die Geburt eines zweiten albanischen Staates dazu führen, dass großalbanische Träume auf dem Balkan neu aufleben, mit Konsequenzen für die Stabilität Mazedoniens mit seiner bedeutenden albanischen Minderheit. Zweitens verstärkt die Proliferation von Duodezstaaten die Unübersichtlichkeit gesamteuropäischer Entscheidungsprozesse. Drittens ist die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo ein weiterer Beweis, dass der nationalistisch-ethnische Impuls auch im 21. Jahrhundert in Europa ungebrochen weiterlebt.
Der Staatlichkeitswunsch der Kosovo-Albaner ist nach allen Erfahrungen mit Belgrad nachvollziehbar. Doch der Souveränitätsdrang in Europa beschränkt sich nicht auf Bevölkerungen, die wie die Kosovo-Albaner auch wegen mangelnder Staatlichkeit schwer gelitten haben. Er erfasst Regionen, die wie Belgisch-Flandern, Katalonien, das spanische Baskenland oder die Lombardei zu den Gewinnern der jüngeren Geschichte gehören und in funktionierenden Demokratien substanzielle Autonomie genießen. Im Baskenland wird für die Souveränität gemordet, andernorts paktiert an sich harmloser Regionalismus mit Bewegungen, die man zu Großvaters Zeiten als völkisch bezeichnet hätte, einschließlich braunen Randes.
Gefährliche Amalgame finden sich selbst in guter akademischer Literatur. Der spanisch-katalanische Politologe Josep Colomer hat unter dem Titel "Große Imperien, kleine Nationen" ein historisch kenntnisreiches Plädoyer für die Modethese veröffentlicht, wonach der große Nationalstaat gescheitert ist und die Zukunft dem postmodernen Imperium neorömischer Prägung gehört. So EU, so weit, so gut. Doch unterfüttert Colomer seine Analyse mit der Behauptung, eine Neuordnung mit kleinen Nationen in großen Imperien - das Kosovo-in-der-EU-Modell - sei auch deshalb zu fördern, weil Demokratie so besser funktioniere, und zwar wegen der "homogeneren" Bevölkerungen in kleineren Einheiten. Denkt man das böswillig zu Ende, landet man bei der schweizerischen Kantonaldemokratie als optimalem Demokratiemodell für Europa - aber erst, wenn homogenitätshalber die über 100.000 Albaner absorbiert oder ausgewiesen sind.
Ich will dem reputierten Politologen Colomer keinen xenophoben Impuls unterstellen. Doch seine Behauptung, Demokratie und Verwaltung funktionierten in kleineren, weil "homogeneren" Einheiten besser, zeigt, wohin die Sehnsucht nach dem Kleinen, aber Feinen und Reinen gehen kann. Auch wenn sie zuträfe - und sie tut es nicht -, ist die These der Kosovarisierungsanwälte wirklichkeitsfeindlich und reaktionär. Die Herausforderung der Gegenwart besteht nicht darin, homogene Mikrodemokratieräume zu suchen und zu schaffen. Nötig ist vielmehr die Herausbildung guter Demokratiemodelle für große, heterogene Räume und Gesellschaften. Demokratie im Großen, denn wir brauchen in Europa ein kontinentales System, das demokratische Kontrolle und transparente Ausübung der Staatsmacht sichert, die an die europäische Handlungsebene delegiert wurde. Demokratie im Heterogenen, denn zu fördern ist eine politische Kultur, die den Interessenausgleich in der Einwanderungsgesellschaft organisiert, in der wir leben und leben werden.
Die Unabhängigkeit des Kosovo war das Resultat einer langen Kette serbischer Fehlentscheidungen, so wie die Unabhängigkeit der Slowakei oder der Ukraine primär aus dem langen Versagen des Sowjetsystems entstand. Im Kosovo hat die EU im Verein mit Nato und Uno direkte Geburtshilfe geleistet; doch die Existenz der EU spielt ohne Zweifel auch eine zentrale Rolle im Aufblühen anderer Autonomiebestrebungen wie dem flämischen Separatismus.
Wo die Stabilität des größeren Rahmens gesichert scheint, wo die nationale Zentralgewalt ihre Kernkompetenz an die EU-Ebene überträgt, erscheint die Umwandlung regionaler Autonomie in volle staatliche Souveränität vielen attraktiv, zumal die EU implizit garantiert, dass die Unabhängigkeitserklärung etwa eines flämischen Landesparlaments keine harten Maßnahmen der Zentralgewalt zur Folge haben würde. Strukturell - ohne es zu wollen - favorisiert die EU sogar die Herausbildung neuer Kleinstaaten, weil nur Staatlichkeit Sitz und Stimme im Europäischen Rat und eigene Repräsentation in der Kommission verschafft, also direkte Beteiligung an den Entscheidungen der europäischen Exekutive.
Das war bisher kein gravierendes Problem, weil die Entstehung neuer Staaten in Europa nach dem Zerfall des Sowjetreichs ohnehin unaufhaltsam schien, weil das Stabilitätsversprechen der EU positiv wirkte und weil das EU-System den Andrang kleiner Staaten überraschend gut verkraftet hat. Doch dieses Gleichgewicht ist fragil. Es würde spätestens kippen, wenn eine Region der alten EU-15 der Verführung der Kosovarisierung nicht widerstehen kann - Flandern ist derzeit wahrscheinlichster Kandidat.
Die jetzigen Mitgliedsstaaten der EU haben in Wahrheit jedes Interesse, ihr eigenes Gewicht im EU-System weiter zu mindern, indem sie ihre Vetorechte deaktivieren und die Verteilung von Macht und Posten weniger nach nationalen Kriterien regeln. Wie so vieles in der EU ist auch dieses Problem am besten zu lösen, wenn die Rechte des Europäischen Parlaments gestärkt werden. Denn nur im Parlament wird europäische Politik nach Parteizugehörigkeit und Bevölkerungszahl organisiert - staatliche Souveränität spielt eine geringe Rolle.
Noch ist staatliche Souveränität im EU-System viel zu attraktiv, um nicht den Separatismus auch in der EU selbst zur echten Verlockung zu machen und dazu die Fragmentierung von Staaten der Nachbarschaft zu befördern, die auf EU-Mitgliedschaft hoffen. Nationalstaatlichkeit muss in Europa uncool werden, damit die Unabhängigkeit des Kosovo bleibt, was sie heute ist: kein Zukunftsmodell, sondern die nötige Regelung einer Altlast.
Thomas Klau ist FTD-Kolumnist. Er leitet die Pariser Vertretung des European Council on Foreign Relations.
Aus der FTD vom 21.02.2008
© 2008 Financial Times Deutschland
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