Alles in der Welt ist eine Frage der Bilanzierung. Er, Ende 20, Medienschaffender, ist nach alten buchhalterischen Prinzipien wohlhabend. Auf der Aktivseite stehen eine Universitätsausbildung und wertvoller Mobilienbesitz, darunter ein Poäng-Sessel und mehrere Billy-Regale.
Berechnet man diesen Ein-Personen-Haushalt dagegen zu Marktpreisen - Fair Value genannt -, ist die Situation hoffnungslos: Das auf die Gegenwart abgezinste Zukunftseinkommen ist dank eher bescheidener Aussichten für die Zeitungsindustrie gerade einmal ausreichend für die Deckung des täglichen Bedarfs. Auf Poäng-Sessel und Billy-Regale drohen harsche Wertberichtigungen, da der Sekundärmarkt für Möbelprodukte nahezu völlig ausgetrocknet ist. Weil die Familie mit Darlehen geizt, bleibt als Ausweg nur noch der Einstieg eines Staatsfonds oder die Privatinsolvenz.
Zugegeben: Das klingt etwas absurd. Jedoch beschäftigt sich die Finanzwelt seit Wochen mit nichts anderem als mit den Absurditäten der Fair-Value-Bilanzierung. Banken versuchen das Unmögliche, nämlich Marktpreise ohne Markt zu bestimmen. Dem Kreditmarkt sind die Käufer abhandengekommen, trotzdem müssen all die exotischen Finanzprodukte namens CDO und CPDO unbedingt "fair" bewertet werden. Geht nicht gibt's nicht, was die gesamte Branche in eine tiefe Krise stürzt. Fair-Value-Bilanzierung ist nicht reaktiv, sondern verstärkt in Krisenzeiten sogar noch die Turbulenzen.
Angefangen hat alles - wie immer - mit vielen guten Absichten. Zu Beginn der 90er-Jahre drang der damalige Chef der US-Börsenaufsicht SEC, Richard Breeden, darauf, die Bilanzwelt völlig umzukrempeln. Statt wie bisher Vermögenswerte auf Basis historischer Kosten zu bewerten, sollten sie ab sofort zu Marktpreisen bilanziert werden. Das sollte Investoren maximale Transparenz sichern und das Management gehörig unter Druck setzen. Aus der Bank als traditionellem Kreditinstitut mit vielen illiquiden, langfristigen Anlagen wurde ein stets liquidierungsfähiges Bündel aus Aktiva und Passiva, das kontinuierlich dem Auf und Ab der Märkte unterworfen ist.
Breeden wollte eine zweite Savings-and-Loans-Krise verhindern. Reihenweise waren in den USA während der 80er-Jahre Bausparkassen umgekippt. Langfristig hatten sie Hypotheken mit fixen Zinssätzen vergeben und sich mit kurzfristigen Wertpapieren refinanziert. Doch all das spiegelte sich nicht in ihren Bilanzen. Trotz eines Defizits von 118 Mrd. $ erschienen die Bausparkassen unter den damaligen Bilanzierungsregeln noch gesund. Die Aufsichtsbehörde Federal Savings and Loan Insurance Corporation lockerte die Vorschriften sogar noch. Das führte dazu, dass sich die Krise hinzog und sich die Rechnung für den amerikanischen Steuerzahler kräftig erhöhte.
Zurück in die Gegenwart: Knapp 20 Jahre später entpuppt sich Breedens schöne neue Bilanzierungswelt als Albtraum: Banken wie die Citigroup, Bausparkassen wie Washington Mutual und Versicherer wie AIG kämpfen mit Abschreibungen in Milliardenhöhe. Unter dem Fair-Value-Regime treten die Probleme zwar rasch zutage, doch wirklich aussagekräftiger sind die Zahlenwerke nicht geworden: Die Unternehmen wissen nicht, wie sie ihr Wertpapierportfolio ohne Marktpreis bewerten sollen. Die mathematischen Modelle sind nicht verlässlich genug, weil es für viele neue Verbriefungsspielzeuge noch gar keine historischen Daten gibt. Diese Unsicherheit wiederum hält andere Marktteilnehmer davon ab, als Käufer aufzutreten und wieder Preise zu stellen.
Das ist modernes Catch 22, das immer weiter um sich greift: Um die Eigenkapitalstandards einzuhalten, ringen die Banken um Kapital. Da die Quelle der Staatsfonds nicht unendlich ergiebig ist, ziehen sie gegenüber ihren Kunden die Zügel an. Hedge-Fonds und Private-Equity-Unternehmen bekommen das zu spüren. Jüngster Fall ist die Beteiligungsfirma Carlyle, deren börsennotierter Fonds Carlyle Capital mehrere "Margin Calls" nicht erfüllen konnte.
Diese Abwärtsspirale ist keine Überraschung. Zahlreiche Ökonomen veröffentlichten in den vergangenen Jahren Beiträge zum Thema Fair-Value-Bilanzierung. Bereits im April 2004 untersuchte ein Team um den Volkswirt Andrea Enria in einem Forschungsbeitrag der Europäischen Zentralbank, wie sich Schocks unter verschiedenen buchhalterischen Systemen auf Bankbilanzen auswirken könnten. Ihr Ergebnis: Gerade bei einer Krise auf dem Immobilienmarkt kann ein Fair-Value-Regime den Abschwung noch verstärken. Unter eher vorsichtigen Annahmen errechneten Enria und sein Team, dass mehr als die Hälfte des Eigenkapitals einer durchschnittlichen europäischen Bank aufgezehrt würde.
Eine grundsätzliche Diskussion über buchhalterische Systeme ist zu diesem Zeitpunkt zwar nicht angebracht. Sinnvoll wäre es aber, wenn die Banken in dem aktuell schwierigen Umfeld größeren Spielraum bei der Bilanzierung hätten und von dem strikten Fair-Value-Prinzip abweichen könnten. Das könnte dann dazu führen, dass sich auf den Kreditmärkten wieder Preise bilden. Schließlich liefen Käufer dann nicht mehr Gefahr, sofort wieder Wertberichtigungen vornehmen zu müssen.
Einhergehen müsste das mit einer vorübergehenden Lockerung der Eigenkapitalstandards. Denn trotz großzügiger Stützungsaktionen der US-Notenbank Fed wird die Kapitalnot der Banken zu einem bedrohlichen Stressfaktor im gesamten System. Langfristig kann dann nachjustiert werden. So erscheint es wenig sinnvoll, die Eigenkapitalstandards nur auf eine Kennzahl - die Kernkapitalquote - auszurichten. Stattdessen sollten mehrere Maße angewandt werden, um die Banken für Krisenzeiten zu rüsten.
Mit den Reformen sollte man es aber nicht übertreiben. Denn die aktuelle Fair-Value-Krise bestätigt nur ein altes Bonmot von Citibanker Walter Wriston: "Festhalten an buchhalterischen Standards ist für das Management und Investoren immer besser als die jüngste Mode der Buchhaltungs-Aficionados."
Tobias Bayer ist Redakteur im FTD-Finanzressort.
Name | Aktuell | % | abs. | ||
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CITIGROUP INC. REGIS.. | 21,21 USD | -1,30 % | -0,28 | ||
WASHINGTON MUTUAL IN.. | 11,64 USD | -2,02 % | -0,24 | ||
AIG INTERNAT. REAL E.. | 38,00 EUR | 0,00 % | 0,00 | ||
CARLYLE CAPITAL CORP.. | 0,50 USD | -82,14 % | -2,30 |
Aus der FTD vom 11.03.2008
© 2008 Financial Times Deutschland
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